Читать книгу Schön, dich gesehen zu haben - Robin Lang - Страница 6
- Max -
Оглавление„Na, ihr beiden. Ich weiß, ich habe euch länger nicht besucht – genau einen Monat nicht. Eine Entschuldigung gibt es nicht. Aber mir fehlte die Kraft. Ich konnte euch nicht besuchen. Vergessen habe ich euch bestimmt nicht. Aber ohne euch …, nun zieht auch noch Lucca weg. Sie hat tatsächlich die Stelle bekommen, nein, nicht tatsächlich, natürlich hat sie sie bekommen. Ich habe mit nichts anderem gerechnet. Sie hat es verdient, aus dem Ort raus zu kommen. Und ich habe es verdient, dass ich alleine bleibe. Ich habe euch nicht schützen können, nicht vor der Welt, nicht vor euch selber. Ich bete jeden Tag dafür, dass ihr mir vergebt, dass es euch gut geht und dass ich mir auch irgendwann vergeben kann. Ich liebe euch und ich vermisse euch.“
Mit diesen Worten erhob ich mich, stellte die frischen Blumen auf und fuhr die Buchstaben auf dem Grabstein nach.
Die eine Zeitspanne umfasste fast 30 Jahre.
Die andere gerade mal einen Tag.
Die Todesdaten unterschieden sich um einen Monat.
Es war fast acht Jahre her – sieben Jahre und zehn Monate, sieben Jahre und neun Monate, da war meine Welt, wie ich sie gekannt hatte, zerstört worden. Zerstört durch Zufälle, Unglücke und Unaufmerksamkeit. Seit dem lebte ich weiter, irgendwie. Mal klappte es besser, mal schlechter. Im letzten Monat schlechter. Sonst hätte ich meine beiden Frauen früher besucht. Normalerweise war ich zwei bis vier Mal pro Monat hier. Die Fahrt nahm ich gerne auf mich. Ich war auch nicht immer in so schlechter Stimmung wie in den letzten Tagen. Normalerweise hatte ich mich gut im Griff. Aber die letzten Wochen waren schwerer gewesen. Vielleicht tatsächlich, weil Lucca wegziehen würde. Es war echt paradox. Der einzige Mensch, zu dem ich in den letzten Jahren eine Beziehung aufgebaut hatte, war eine junge Frau, die ich durch einen Unfall zum Krüppel gefahren hatte. Wenn das nicht genug über mich aussagte, dann weiß ich es auch nicht mehr!
Sie war aber auch der einzige Mensch, der außerhalb meiner Familie meine Geschichte überhaupt kannte. Unsere beiden Schicksale, so unterschiedlich sie auch waren und so wenig wie wir eigentlich gemeinsam hatten, sie hatten uns miteinander verbunden.
Nachdem ich die beiden wichtigsten Menschen meines Lebens vor fast acht Jahren so kurz hintereinander hatte beerdigen müssen, hatte ich meine Zelte hier abgebrochen und in Luccas Heimatort neu angefangen. Na ja, was so neu anfangen heißt – ich hatte mir ein baufälliges Haus gekauft und mich dort niedergelassen. Ich baute die Garage zur Werkstatt um und meine Möbelwerkstatt neu auf. Meinen Namen, meine Reputation hatte ich ja und es war egal, wo ich die Möbel baute, die meisten Bestellungen kamen sowieso online rein.
Ich nahm nicht viel mit, ein paar persönliche Dinge, Fotos, mein Werkzeug und unsere … meine beiden Hunde.
Gott, Simone und ich hatten uns die ganze Schwangerschaft über vorgestellt, wie Yanka und Sicu
wohl auf unser Baby reagieren würden. Man sagte Huskies ja eine große Kinderliebe nach und ich hatte mich schon beim Sommerschlittentraining mit Kleinkind gesehen. Aber wie hieß dieses eine Buch? „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ - Yanka und Sicu haben unser kleines Wunder, unsere Mira, nie kennengelernt. Ich hatte sie kaum kennenlernen dürfen. Ihr Herz hatte nach gerade mal 20 Stunden aufgegeben. Und keiner hatte uns darauf vorbereitet. Alle Untersuchungen waren gut und „im Rahmen“ gewesen und dann, zwei Tage vor dem errechneten Termin war alles anders. Soll es Eltern trösten, wenn man ihnen sagt, dass das leider auch heute immer noch vorkommen kann? Wenn man ihnen sagt, dass Mira eines von 200 Babies in ganz Deutschland in diesem Jahr war, die leider die ersten 24 Stunden nicht überleben? Was daran hätte uns trösten sollen?
Danach war nichts mehr wie vorher.
Meine wunderschöne, frohe, glückliche, kluge Frau war zusammen mit unserer Tochter gestorben. Dafür kam eine andere Frau aus dem Krankenhaus zurück. Äußerlich war es immer noch Simone, aber innerlich war nichts mehr da von ihr. Und sie hatte den Kampf gegen ihre Dämonen aufgegeben – danach war ich ganz alleine.
„Max! Ich dachte mir, dass ich dich hier finden würde. Ich habe dein Auto vorhin durch die Stadt fahren sehen. Kommst du nachher noch bei uns vorbei? Deine Mutter würde sich freuen, wenn sie dich nochmal sehen würde!“
Mein Stiefvater kam über den Friedhofsweg auf mich zu und nahm mich zur Begrüßung in den Arm.
Auch er hatte Blumen für seine Schwiegertochter und Enkelin dabei. Überhaupt – viele Menschen schienen immer noch an die beiden zu denken, denn egal, wann ich hier vorbei kam, immer standen frische Blumen am Grab der beiden. Und das, obwohl schon so viele Jahre vergangen waren.
Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und nickte nur.
„Wie geht es dir, Junge – sei ehrlich. Deine Mutter macht sich Sorgen, weil wir so wenig von dir hören! Lebst du immer noch alleine? Das ist nicht gut, du trauerst zu lange. Simone hätte das nicht gewollt – und Mira auch nicht!“
Er hatte ja recht, das wusste ich. Aber es war das eine, etwas zu wissen und das andere, es in die Tat umzusetzen. Ich hatte schon oft versucht, nach vorne zu sehen, weiterzumachen. Mein Leben wieder zu leben.
Aber Simone und ich waren unser halbes Leben lang ein Paar gewesen, echte Schülerliebe, seit der neunten Klasse, durch Abitur, Ausbildung und Studium. Wir hatten früh geheiratet, unser Geschäft zusammen aufgebaut und die Schwangerschaft war die Krönung unseres Lebens gewesen. Natürlich hatte ich gewusst, dass Simone schon mal mit leichten Stimmungsschwankungen, vielleicht auch Depressionen zu tun gehabt hatte, aber im Grunde waren die nie stark ausgeprägt gewesen.
„Herr Wagner, man kann nie sagen, wie Menschen auf ein so traumatisches Ereignis reagieren und Ihre Frau wurde von einigen Personen durchaus als labil beschrieben. Sie trifft keine Schuld, Sie haben diese Entwicklung nicht vorhersehen können …“ - am liebsten hätte ich dem Arzt eine reingehauen. Aber er konnte ja auch nichts dafür, er war nur der Überbringer der Botschaft.
„Max – hörst du mir zu?“
Stimmt ja, mein Stiefvater stand da neben mir. Obwohl – Stiefvater klang immer so negativ, Martin war seit 30 Jahren der Mann an der Seite meiner Mutter und ich hatte ein gutes Verhältnis zu ihm.
„Ich geh noch `ne Runde mit den Hunden, die sitzen brav im Auto, dann komme ich vorbei – oder habt ihr heute noch was vor?“
„Nein, komm, wenn du Zeit hast, deine Mutter freut sich immer, dich zu sehen, das weißt du doch!“
Er stellte die Blumen neben meine, drückte mich noch einmal an sich und ließ mich dann alleine.
Ich blieb auch nicht mehr lange. Die Hunde und ich brauchten Bewegung. Manchmal glaubte ich, wenn ich die beiden nicht hätte, dann wäre ich in den letzten Jahren verrückt geworden. Die Verantwortung für diese beiden Tiere hat mich immer wieder dazu gebracht weiterzumachen, auch wenn ich dazu manchmal keine Lust gehabt hatte. Für sie musste ich aufstehen und vor die Tür gehen statt einfach aufzugeben. Die beiden konnten ja nichts für mein Schicksal und mein Selbstmitleid!
Auf den Besuch bei meinen Eltern hätte ich allerdings gerne verzichtet, denn ich wusste, worauf das hinauslief: Junge, du musst weiterleben; Junge, sie hätten das nicht gewollt; du bist zu jung, um dich aufzugeben; du bist so verbittert; gib den Menschen um dich herum doch eine Chance.
Und das Schlimmste: Ich wusste, dass sie recht hatten mit allem, was sie sagten. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass ich einfach nicht genug Antrieb hatte, um mich auf diesen Weg zu machen. Ich war feige – ich hatte Angst vor dem Leben, ich wollte nicht noch mal so verletzt werden.
Ich richtete einen letzten Blick auf das Grab meiner kleinen Familie und ging mit großen Schritten zurück zum Auto.
Mein schwarzer Pick-up war mehr praktisch als schön, aber wen interessierte das schon? Yanka und Sicu saßen brav auf der Ladefläche und spitzten nur die Ohren, als sie mich kommen sahen. Als wir uns damals für zwei Hunde entschieden hatten, waren wir uns einig gewesen, dass wir viel mit ihnen arbeiten würden.
Sie gehorchten aufs Wort – oder besser auf Handzeichen. Sie waren gut erzogen, trainiert, denn es gab in unseren … meinen Augen nichts Schlimmeres als einen Hund, der nicht unter Kontrolle war. Dabei hatte Hundeerziehung nichts mit Drill oder Strafe zu tun, sondern nur mit Geduld, Ruhe und Konsequenz. So konnte ich die beiden im Grunde überall alleine laufen lassen, nur aus Rücksicht auf ängstliche Menschen nahm ich sie an die Leine oder eben beim Training ins Geschirr. Aber meistens waren unsere Wanderungen so ausgedehnt und weitläufig, dass uns selten jemand begegnete.
Und auch jetzt sprangen sie auf einen Pfiff von mir von der Ladefläche und kamen zu mir gelaufen.
Der Friedhof lag direkt neben einem größeren Waldstück und wir drehten eine weite Runde, bevor ich genug Mut gesammelt hatte, um mich meinen Eltern zu stellen.
Martin hatte meine Mutter wohl schon vorgewarnt, denn auf mich warteten Kaffee und Kuchen und jede Menge Ratschläge und Dorftratsch.
Zum Glück war meine Mutter vor allem froh, dass ich zu Besuch war. Es genügte, dass ich ihr zuhörte, ab und zu nickte und ansonsten einfach nur „da“ war.
Zum Abschied nahm sie mir wie immer das Versprechen ab, dass ich mich in Zukunft öfter melden würde und dass ich versuchen würde, mehr zu leben, dass ich andere Menschen in mein Leben lassen und mich mehr öffnen sollte.
Ich ließ es über mich ergehen, nickte brav und nahm sie zum Abschied in den Arm. Zum einen hatte ich all diese Dinge schon oft gehört und zum anderen hatte ich mir all das auch selber schon oft genug gesagt.
Ein paar Tage später kam Lucca mich besuchen – ihr Abschiedsbesuch!
Am nächsten Tag würden ihr neuer Chef und ein paar Freunde sie abholen kommen. Ich freute mich wirklich für sie, sie hatte es verdient, aus diesem Ort mit all seinen Erinnerungen herauszukommen.
„Wieso kommst du nicht mit, Max? Dich hält doch hier nichts und niemand und ich würde mich freuen, wenn du in meiner Nähe wärst. Dann können wir gemeinsam ein bisschen einsam sein. Wir passen doch sowieso nirgendwo richtig hin ….“
„Ach, Lucca, Kleines, du wirst so schnell Anschluss finden, du hast mir doch erzählt, wie gut du dich mit deiner neuen Kollegin verstehst und ihre Clique wird dir beim Umzug helfen. Mach du mal einen Neuanfang – ich alter Mann komme hier schon klar.“
„Max, ich werde dich so vermissen, ich glaube, du machst dir gar keine Vorstellungen, wie wichtig du für mich bist!“
„Nun werd mal nicht sentimental. Du bist viel zu jung für solche Gedanken!“
Lucca sagte lange nichts, sie sah mich nur an, saß völlig still in ihrem Rollstuhl und beobachtete mich. Sie hatte so eine Art, einen anzugucken, dass man das Gefühl hatte, sie würde direkt in einen hineinschauen und die innersten Gedanken lesen können. Sie wusste genau, dass sie mich damit nervös machte.
Wir kannten uns jetzt ein bisschen länger als sieben Jahre – seit sie mir in einer verregneten Nacht auf der Flucht vor ihrem Freund vors Auto gelaufen und von mir angefahren worden war. Seitdem saß sie im Rollstuhl und wir waren sowas wie Freunde. Sie war 15 Jahre jünger als ich, aber wenn man ehrlich war, dann war sie – neben meinen Eltern – der einzige Mensch, der meine Geschichte kannte. Wir waren im Laufe der letzten Jahre zu besten Freunden geworden. Wenn ich ehrlich war, dann war sie mein einziger Kontakt hier – sah man von meinen Kunden ab. Aber zu denen baute ich keine echten Sozialkontakte auf. Das hielt ich immer komplett professionell. Zwar hatte schon mal die eine oder andere Kundin versucht, mit mir zu flirten oder mich einzuladen, aber danach stand mir nicht der Sinn. Ich wollte meine Ruhe, das war's!
Oh – meine Gedanken waren abgeschweift und Lucca sah mich immer noch an.
Was sie wohl sah – oder glaubte zu sehen, wenn sie mich so beobachtete?
„Max, ich habe Angst …“
Das war nun nicht, womit ich gerechnet hatte.
Ich kniete mich neben ihr auf den Boden.
„Wovor hast du Angst, Kleines? Vor dem Umzug und der Umstellung?“
„Nein, ich habe Angst um dich …, Angst, dass du dich völlig vergräbst, wenn ich nicht mehr hier bin und dass du immer weniger unter Menschen kommst.“
Ich legte den Arm um sie und drückte sie an mich.
„Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Ich komme schon klar und ich gelobe dir Besserung. Ich werde dich besuchen kommen und wenn du deine Traumwohnung gefunden hast, dann bau ich dir die tollste Küche der Welt. Und wer weiß, was die Zukunft für uns beide bereit hält?“
„Ich nagle dich darauf fest, du wirst wieder anfangen zu leben, und wenn es das Letzte ist, wofür ich sorge!“
Das klang in meinen Ohren schon fast nach einer Warnung …
Ich meldete mich am nächsten Tag kurz bei ihr, denn ich hatte beim Einkaufen direkt zwei Dinge aufgeschnappt – Fluch und Segen eines kleinen Dorfs.
Man redete darüber, dass ein paar sehr dubiose Typen mit einem schwarzen Transporter bei Luccas Eltern aufgetaucht waren, um „das Mädchen“ abzuholen und, dass Tobi, Luccas Exfreund, aufgetaucht war und von denen vertrieben worden sei.
„Stellen Sie sich das mal vor, da geht der liebe Junge hin, um seiner Exfreundin einen guten Start mit ihrer neuen Stelle zu wünschen und dann steigen da so ein paar Schlägertypen aus dem Auto und vertreiben ihn. Kein Wunder, dass er sich jetzt Sorgen um die arme Lucca macht. Ja, ich habe ja sowieso nicht verstanden, dass sie damals nach ihrem Unfall mit dem armen Tobi Schluss gemacht hat, das war so ein guter Fang. … Diese Jugend von heute weiß einfach nicht mehr, was gut für sie ist!“
Ich war schnell weitergegangen, zum einen sollte man nicht lauschen, zum anderen würde ich mein Temperament nicht zügeln können, wenn ich noch mehr Lobreden über dieses Arschloch hören würde. Außer Lucca, mir und natürlich Tobi wusste niemand, was in jener Nacht vor über sieben Jahren wirklich passiert war. Warum Lucca so abgelenkt gewesen war, dass sie mir vors Auto gelaufen und damit im Rollstuhl gelandet war. Wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätte ich den Typen damals zur Rechenschaft gezogen, aber Lucca war strikt dagegen und außerdem war ich noch so mit meinem Verlust und diesem Unfall beschäftigt, dass ich nicht klar denken konnte. Sonst wäre ich zur Polizei gegangen und hätte ihn angezeigt.
So schrieb ich Lucca nur kurz eine Nachricht - persönlich verabschieden wollte ich mich aus zwei Gründen nicht.
Zum einen war ich bei Luccas Eltern nicht gerne gesehen, sie gaben mir immer noch die Schuld an Luccas Unfall und zum anderen wusste ich, dass ich zu emotional reagieren würde, wenn ich Lucca jetzt treffen würde. Dieses 15 Jahre jüngere Mädchen, das mittlerweile eine junge Frau geworden war, ohne dass ich es richtig mitbekommen hatte, bedeutete mir sehr viel. Sie war meine beste Freundin, meine kleine Schwester, mein ruhiger Pol. Sie hatte mir mit ihrer Freundschaft in den letzten Jahren so viel gegeben und mich das eine oder andere Mal davon abgehalten, durchzudrehen, wenn mir meine beiden Frauen mal wieder zu sehr fehlten. Und nun ging sie weiter, lebte ihren Traum, wagte den Schritt in die Welt hinaus und ich freute mich für sie – und war nachdenklich, denn sie machte etwas, wovon ich kaum zu träumen wagte: Sie lebte.
Und während sie das Dorf verließ, stand ich in meiner Werkstatt und baute eine maßgefertigte Wiege für ein ungeborenes Kind. Eine der vielen Bestellungen aus meinem Onlineshop – ich wünschte den Eltern von Herzen alles Gute mit jedem Handgriff, den ich tat und kämpfte mit den Tränen!