Читать книгу Kommunikationswissenschaft - Roland Burkart - Страница 11
Оглавление4Kommunikation und menschliche Existenz
In diesem Abschnitt steht die Frage nach der Bedeutung von Kommunikation für den Menschen im Mittelpunkt. Dabei wird von der Behauptung ausgegangen, dass Kommunikation (insbes. in ihrer soeben dargestellten verbalen Variante) als eine Grundbedingung menschlichen Daseins schlechthin zu betrachten ist. „Arbeit und Sprache sind älter als Mensch und Gesellschaft“ heißt es dazu bei Habermas (1976a: 151). Es dürften sich „in den Strukturen von Arbeit und Sprache erst die Entwicklungen vollzogen haben, die zur spezifisch menschlichen Reproduktionsform des Lebens und damit zum Ausgangszustand der sozialen Evolution geführt haben“ (ebd.). Was für die (stammesgeschichtliche) Evolution gilt, scheint auch für die Sozialisation des Individuums zu gelten: „Sowohl unter phylogenetischem als auch ontogenetischem Aspekt ist die Existenz des Menschen ohne seine eben spezifisch-menschliche Kommunikationsfähigkeit nicht zu denken“ (Vogt 1979: 68).1 Um dies nachvollziehen zu können, muss man sich den Prozess der Menschwerdung also aus zweierlei Perspektiven vor Augen führen:
Abb. 13: Phylo- und ontogenetische Menschwerdung (eigene Darstellung)
Zunächst sind Hinweise auf den fundamentalen Stellenwert der Kommunikation im Verlauf der Anthropogenese zu geben. Neben dieser evolutionstheoretischen Dimension ist aber auch aus der sozialisationstheoretischen Perspektive von Kommunikation einsehbar zu machen, was Kommunikation für den Prozess der Persönlichkeitsgenese leistet.
Der Angelpunkt der Betrachtungen soll in beiden Fällen jene humanspezifische Kommunikationsfähigkeit sein, die v. a. auf der Möglichkeit zur Bildung und Verwendung von Symbolen beruht: Die Tatsache, dass der Mensch Zeichen (als Vermittler von Bedeutung) nicht nur bewusst und zielgerichtet generieren, sondern auch in ihrer Repräsentationsfunktion verwenden kann, ist ja weiter oben bereits als Voraussetzung für die spezifisch menschliche Qualität von Kommunikation erkannt worden, die als symbolisch vermittelte Interaktion definiert und diskutiert wurde.
Ihre besondere Ausprägung findet diese symbolisch vermittelte Interaktion schließlich in ihrer (im Kap. 3 ausführlich diskutierten) Sprachlichkeit: Hier ist es nicht nur die (mit der Repräsentationsfunktion eng zusammenhängende) Bezeichnungsleistung der menschlichen Sprache, sondern auch die (im Kontext sprachlicher Selbstreflexivität gegebene) Möglichkeit zur Metasprache und Metakommunikation, welche menschliche Kommunikationsprozesse von animalischen Kommunikationsereignissen grundsätzlich unterscheidbar machen.
4.1 Kommunikation – eine anthropologische Grundkonstante
Evolution gilt ganz allgemein als der Prozess „allmählich fortschreitende(r) Veränderungen in Struktur und Verhalten der Lebewesen, so dass die Nachfahren andersartig als die Vorfahren werden“ (Rammstedt 1973: 187). Seit im 19. Jhdt. der Engländer Charles Darwin den Gedanken formulierte, dass der Mensch wie alle anderen Lebewesen auch das Produkt eines evolutionären Entwicklungsprozesses ist, war die (Wechsel-)Beziehung zwischen Artentstehung (bzw. Entstehung artspezifischer Fähigkeiten) und Umweltdruck in den Vordergrund getreten:2 Als Grundlage zumindest der biologischen (Weiter-)Entwicklung der Lebewesen waren nunmehr Veränderungen durch Umweltbedingungen erkannt worden (Schraml 1972: 88). Nur diejenigen Lebewesen, die sich an die jeweils vorhandenen Umweltbedingungen am besten anpassen konnten, überlebten und pflanzten sich schließlich auch fort. Die natürliche Selektion stellte sich damit als ein auf Anpassung (des jeweiligen Organismus an seine Umwelt) hin gerichteter Prozess (Wezler 1972: 304) heraus, der zur Bildung neuer Fähigkeiten oder Fertigkeiten der jeweiligen Spezies führte, um deren Überleben zu gewährleisten.
Auf der Basis dieser Einsicht wird nunmehr die Frage nach dem Stellenwert der spezifisch menschlichen Kommunikationsfähigkeit im Verlauf der Anthropogenese zur Frage nach deren arterhaltender Funktion: Es ist also nach jenen Selektionsfaktoren zu suchen, die bei vor- und frühmenschlichen Lebewesen zur Ausbildung ebendieser Fähigkeit geführt haben müssen (vgl. dazu Soritsch 1975). In Entsprechung zu einer infolge von Umweltdruck vorangetriebenen differenzierten Entwicklung der Organismen lässt sich ja „die Entwicklung verschiedener Prozesstypen [von Kommunikation – R.B.] entlang einer evolutionären Zeitachse“ (Merten 1977: 92)3 verfolgen – dennoch: „So großartig und vielfältig die in der Natur vorhandenen Kommunikationssysteme auch sind, begriffliches Denken und verbale Kommunikation, Wissensakkumulation in einer Sprache hat im Verlauf der Evolution nur eine einzige Spezies entwickelt, nämlich der Mensch“ (Soritsch 1975: 13).
Worin bestanden nun jene Umweltbedingungen, aufgrund derer es zur Ausbildung von begrifflichem Denken und Sprache kam? Was waren die Umstände, welche die Entwicklung ebendieser besonderen kommunikativen Fähigkeit (über-) lebensnotwendig machten?
Zur Beantwortung dieser Frage muss man entlang der „evolutionären Zeitachse“ etwa 20 Millionen Jahre zurückgehen, als sich irgendwo auf der Welt die biologische Entwicklung der Affen aufspaltete (Darlington 1971: 16) und eine neue Entwicklungslinie entstand: die der Hominiden, der Menschenartigen.4 Diese hatten (vermutlich infolge des Zurückweichens der Urwälder und der Ausbreitung der Steppen) die Bäume des Waldes verlassen und bevölkerten nunmehr die offene Landschaft.5 Forderte der durch diesen Umweltdruck erzwungene Nahrungswechsel – anstatt nach pflanzlicher musste nunmehr nach tierischer Kost Ausschau gehalten werden – den aufrechten Gang (bipede Fortbewegung) sowie stereoskopisches Sehen (zur besseren Abstandsschätzung) heraus, so regten die allmählich entwickelten Jagdtechniken ihrerseits wieder die geistige Aktivität und damit die Vergrößerung des Gehirns an, was schließlich – begünstigt durch die infolge der aufrechten Körperhaltung für andere Tätigkeiten frei gewordenen Hände – zur Ausbildung echter Werkzeuglichkeit6 führte. Diese nachgewiesene Werkzeuglichkeit der Hominiden ist jedoch bereits eng an begriffliches Denken, an die Fähigkeit zur Abstraktion gebunden: Erst wenn situationsgebundene Leistungen von ihren zufälligen Begleitumständen abgrenzbar sind, werden konstant hervorgerufene Wirkungen (z. B. eines Werkzeuges) erkennbar. Nicht zuletzt die Notwendigkeit zur Tradition der Produktions- und Verwendungsweise derartiger Geräte mag schließlich auch die Ausbildung jener Kommunikationsfähigkeit forciert haben, die in der Sprache ihre angemessene Entsprechung erfuhr: Denn Sprache abstrahiert stets vom unmittelbaren Konkreten, ein „Wort hält […] in seiner Bedeutung stets das Allgemeine der Dinge und Erscheinungen fest […]. Es ist folglich auch eine Eigenart des Denkens, dass es sich dieser [sprachlichen – R. B.] Zeichen als Instrumente bedient“ (Schaff 1968c: 100).
Sprache: Resultat von und Voraussetzung für Evolution
Kann der bisher angedeutete evolutionäre Entwicklungsprozess noch überwiegend als eine Reaktion auf Umweltdruck interpretiert werden, so darf spätestens seit der Ausbildung der Sprache „jenes ihm immer schon innewohnende Potential an Eigendynamik nicht übersehen werden, das sich in einer stetig zunehmenden Umweltveränderung durch gezielt-aktive Anpassungsleistungen der Hominiden (und noch mehr: des Menschen!) äußerte und äußert“ (Vogt 1979: 70). Im Hinblick auf die hier im Mittelpunkt stehende Kommunikationsfähigkeit bedeutet dies, dass Sprache – bisher vornehmlich als Resultat biologischer Evolution angesehen – nunmehr als Voraussetzung für wesentliche Markierungen der mit ihr einsetzenden soziokulturellen Evolution betrachtet werden muss: „Sprache allein ermöglichte Abstraktionsniveaus, die zur Entwicklung der materiellen Kultur und der menschlichen Gesellschaft notwendig waren“ (Campbell 1972, zit. n. Soritsch 1974: 278).
Und man kann mit Talcott Parsons (der den Biologen Alfred Emerson zitiert) ergänzen: „Innerhalb der menschlichen Anpassungswelt ist das ‚Gen’ weitgehend durch das ‚Symbol’ ersetzt worden. Deshalb bestimmt nicht allein die genetische Konstitution der Spezies Mensch die ‚Bedürfnisse’ gegenüber der Umwelt, sondern diese Konstitution plus der kulturellen Evolution“ (Parsons 1971: 57). So wie Parsons in der Sprache eine der Grundvoraussetzungen der Evolution von Kultur und Gesellschaft (eine seiner evolutionären Universalien)7 sieht, so benennt auch Habermas (1971b) umgangssprachliche Kommunikation als eine der Eingangsbedingungen für gesellschaftliche Evolution.8
Kooperative Arbeit: Motor der Sprachevolution
Nun sind aber jene abstrakten (durch Sprache möglich gewordenen) Bewusstseinsleistungen, welche die soziale Evolution erst initiierten, nur dann angemessen zu begreifen, wenn man (mit Vogt 1979: 71) erkennt, dass sowohl Werkzeuglichkeit als auch Sprache ihren Ursprung in der gesellschaftlichen Organisation menschlicher Arbeit besitzen (vgl. auch: Rossi-Landi 1972). Gesellschaftlich organisierte Arbeit gilt als „die spezifische Weise, in der Menschen im Unterschied zu Tieren ihr Leben reproduzieren“ (Habermas 1976a: 145). Sie tritt bei den Frühmenschen in der für sie charakteristischen Ausprägung der kooperativen Jagd (ebd.: 149) auf und war für die Ausdifferenzierung interpersonaler Kommunikation ein außerordentlich fruchtbarer Boden. „Es ist klar: Je besser eine jagende Männergruppe sich über den Stand eines Tieres beim Umzingeln und beim Angriff verständigen konnte, je mehr Einzelheiten sich die Mitglieder einer solchen Gruppe mitteilen konnten, desto erfolgreicher musste sie sein, desto größer war die Überlebenschance einer Horde. Dasselbe gilt für die Techniken, die zur Jagd entwickelt wurden und die an die Nachkommenschaft mitgeteilt werden mussten. Das an die Jagd anschließende Verteilen der Beute, das die ersten Fähigkeiten zur Quantifizierung entwickelt haben dürfte, hatte eine überaus wichtige Bedeutung für die Denk- und Sprachentwicklung“ (Soritsch 1975: 17). Mittlerweile ist bekannt, dass „menschliche Kommunikation in einer Weise kooperativ strukturiert ist, wie das bei anderen Primaten nicht der Fall ist“ (Tomasello 2011: 18). Diese kooperative Kommunikation entstand irgendwann im Verlauf der Evolution „als ein Mittel, diese Aktivitäten der Zusammenarbeit effizienter zu koordinieren“ (ebd.: 19).
Erforderte das Verteilen der Beute „Interaktionsregeln, die auf dem Niveau sprachlicher Verständigung intersubjektiv als anerkannte Normen oder Regeln kommunikativen Handelns von einzelnen Situationen abgelöst und auf Dauer gestellt werden können“ (Habermas 1976: 146), so war bereits im Zuge des kooperativen Jagens eine Rollendifferenzierung notwendig geworden, die eine Sprengung jener eindimensionalen Rangordnung notwendig machte, in der jedem Tier nur ein einziger
Status zukommt: Ein und dasselbe Individuum musste ja in verschiedenen Situationen (der Jagd) einen unterschiedlichen Status einnehmen können. „Zusätzlich dürfte schließlich aus der Existenz zweier sozialer Teilsysteme (egalitäre Jagdhorden der Männer und sammelnde Gruppen der Frauen und Kinder) ein Integrationsbedarf entstanden sein, der erst durch die Ausprägung der Vaterrolle befriedigt werden konnte: Dies bedeutete aber die Ersetzung des tierischen Statussystems durch ein System sozialer Normen, das Sprache voraussetzt“ (Vogt 1979: 71).
Darauf verweist auch Habermas, für den drei Bedingungen erfüllt sein müssen, bevor ein System sozialer Normen überhaupt entstehen kann:
Die Interaktionspartner müssen (1) die Teilnehmerperspektive gegen die Beobachterperspektive austauschen können, (2) über einen Zeithorizont verfügen und sie müssen (3) in der Lage sein, die Existenz von Sanktionsmechanismen anzuerkennen.
„Aus verschiedenen Gründen können diese drei Bedingungen nicht erfüllt werden, bevor nicht Sprache voll ausgebildet ist. Wir dürfen annehmen, dass sich in den Strukturen von Arbeit und Sprache erst die Entwicklungen vollzogen haben, die zur spezifisch menschlichen Reproduktionsform des Lebens und damit zum Ausgangszustand der sozialen Evolution geführt haben. Arbeit und Sprache sind älter als Mensch und Gesellschaft“ (Habermas 1976a: 151).
Die Ausbildung von Sprache – und damit der Erwerb der Fähigkeit zu symbolisch vermittelter Interaktion – wird somit als ein zentrales Fundament der Anthropogenese erkennbar. Erst Sprache schuf die Voraussetzung für das Entstehen sozialer Normen und trug damit wesentlich zur Entwicklung von Kultur9 bei: Denk- und Handlungsweisen (Wertvorstellungen und entsprechende Verhaltensformen) wurden tradierbar. Sprache ließ also „einen neuen Typ der Evolution entstehen, der sich in keiner anderen Art finden lässt“ (Berelson/Steiner 1969: 34). Folgerichtig sieht Habermas daher in der Hominisation eine organisch-kulturelle Mischform der Evolution: Der Weg vom Tier zum Menschen „ist durch das Ineinandergreifen organischer und kultureller Entwicklungsmechanismen bestimmt“ (Habermas 1976a: 147). Und man kann mit Merten ergänzen, dass Menschwerdung mithin als eine Folge (und nicht als eine Voraussetzung) kultureller Leistungen begriffen werden muss (Merten 1977: 126). Oder anders – deutlicher im Hinblick auf den vorliegenden Zusammenhang – formuliert: Menschwerdung (auch: Anthropogenese, Hominisation) ist die Jahrmillionen10 währende Konsequenz von Bewusstseinsleistungen, die auf einem Abstraktionsniveau erfolgten, welches allein durch die Erlangung jener symbolischen Kommunikationsfähigkeit möglich geworden war, die in der Sprache ihre intersubjektiv wahrnehmbare Manifestation erfuhr.
Warum aber erlangte ausschließlich der Mensch diese spezifische Kommunikationsfähigkeit? Warum bestand (und besteht) für das Tier offenbar kein existentieller Zwang zur Ausbildung von Sprache?11
Der Mensch: Mängelwesen und sekundärer Nesthocker
Antwort auf diese Frage gibt uns die Anthropologie, die „Wissenschaft von den Lebens- und Äußerungsformen des Menschen“ (Fuchs-Heinritz 2011: 39).12 Sie macht den Unterschied zwischen Mensch und Tier zunächst an der Beziehung zur Umwelt fest. Für den Menschen gibt es im Unterschied zum Tier keine „artspezifische Umwelt“, in die er aufgrund seiner Sinnesausstattung verwiesen wird und in der er allein lebensfähig wäre (vgl. Griese 1976: 24). Während für das Tier aus der Fülle der in der Welt vorhandenen Gegebenheiten nur eine begrenzte Anzahl existiert, innerhalb derer es gleichsam wie ein Gefangener lebenslang bleibt und stirbt,13 hat der Mensch keine so einförmige und enge Sphäre. Dieser Umstand lässt ihn als den ersten „Freigelassenen der Natur“ (Herder) begreifen; er ist im wahrsten Sinn des Wortes „weltoffen“ (Scheler, Gehlen), denn er besitzt weder eine spezialisierte Organausstattung noch verfügt er über jene instinktiven Absicherungen, die dem Tier in seiner artspezifischen Umwelt das Überleben ermöglichen.
Der Mensch gilt als ein „Mängelwesen“ (Herder, auch: Gehlen 1986) in der Natur: Es fehlt ihm ein natürlicher Witterungsschutz in Form eines Haarkleides, er verfügt über keine spezialisierten Angriffs- oder Verteidigungsorgane und seine Sinnesorgane werden an Leistungsfähigkeit von vielen Tieren übertroffen (Griese 1976: 16 f.). Er konnte daher nur überleben, indem er diese seine Unspezialisiertheit kompensierte: Die Ausbildung von Sprache und begrifflichem Denken, die Tradition von Erfahrungen und das Entstehen von Kultur werden (trotz vorhandener Instinktreste14) allgemein als die Antwort auf jene biologischen Mängel interpretiert: „Der Mensch kann nur überleben, wenn er sich Kultur schafft, d. h., wenn er arbeitend die Natur bewältigt und verändert, wenn er seine Mangelausstattung und Unspezialisiertheit durch soziales Handeln kompensiert. Kultur ist daher die von Menschen handelnd veränderte Natur, seine zweite ‚künstliche’ Natur, seine menschliche Welt (Griese 1976: 25). Für Arnold Gehlen (1904–1976) ist Kultur „ein anthro-biologischer Begriff, der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen“ (Gehlen 1986: 80).
Damit richtet sich der Blick nunmehr aber von der phylogenetischen auf die ontogenetische Perspektive der Menschwerdung. Auch hier nimmt der Mensch eine Sonderstellung in der Natur ein, auf die als erster der Zoologe Adolf Portmann (1956) hingewiesen hat. Er erkannte in einem morphologischen Vergleich mit den höheren Wirbeltieren, „dass der Mensch seiner Naturgeschichte nach zu den Nestflüchtern15 gehört, dass er aber ungefähr ein Jahr früher zur Welt kommt, als seinem Zerebralisationsgrad angemessen wäre und folglich zu einem sekundären Nesthocker wird – darin einzigartig unter allen Tieren“ (Habermas 1973a: 99). Der Mensch erscheint vom Standpunkt der Zoologie als eine physiologische Frühgeburt: Portmann hat das erste Lebensjahr des Menschen daher auch treffend als extrauterines Frühjahr bezeichnet, weil der Mensch im ersten Jahr nach seiner Geburt erst jenen Entwicklungsgrad erreicht, den ein seiner Art entsprechendes Säugetier noch im Mutterleib (im Uterus) verwirklicht (vgl. Portmann 1956: 52 ff.).
Geradezu hilflos, kommunikations- und bewegungsunfähig wächst der Säugling in engster physischer und auch emotionaler Abhängigkeit von seinen Eltern auf; die physiologische Frühgeburt bzw. das extrauterine Frühjahr stempeln ihn zu einem Lernwesen, das auf andere Menschen angewiesen ist, um überhaupt menschlich werden zu können, ab (Griese 1976: 20).
Aufgrund seiner Pflegebedürftigkeit benötigt jeder Säugling (über-)lebensnotwendige Hilfe und Betreuung durch Personen in seiner nächsten Umgebung; man kann darin auch eine „biologische Garantie“ für erste Sozialkontakte sehen. In diesen frühen Interaktionsprozessen entfaltet sich aber zugleich auch jenes Humanspezifikum, das als Soziabilität oder „Anlage zur Geselligkeit“ begriffen werden kann. Soziabilität ist die „Möglichkeit, Fähigkeit und Notwendigkeit des Angewiesenseins auf andere“ (Wössner 1970: 39). Dieses Angewiesen- und zugleich Ausgerichtetsein auf andere Menschen ist eine notwendige Bedingung zur Erhaltung und Entfaltung der menschlichen Existenz (ebd.). Mit dieser Soziabilität ist aber auch die grundsätzliche Formbarkeit des Menschen durch soziale Einflüsse angesprochen bzw. seine Fähigkeit, sich an andere Menschen oder soziale Bedingungen anpassen zu können (Klima 2011: 621). Die Entfaltung dieser Soziabilität erscheint nicht nur im organisch-biologischen Sinn für den Menschen (über-)lebensnotwendig16 zu sein; sie stellt – zusammen mit der Ausbildung seiner erhöhten Lernfähigkeit – v. a. auch eine unabdingbare Voraussetzung für seine (spätestens) ab dem Moment der Geburt beginnende Sozialisierung dar.
4.2 Sozialisation und Kommunikation
Sozialisation (als Status) oder Sozialisierung (als Geschehen) ist der „weitgefasste Begriff für den [ontogenetischen, R.B.] Prozess der Menschwerdung des Menschen, der Vergesellschaftung und lndividuierung gleichermaßen umfasst“ (Mühlbauer 1980: 25). Sozialisationsforschung versucht nachzuweisen, dass sich die menschliche Persönlichkeit in keiner ihrer Dimensionen gesellschaftsfrei herausbildet, sondern stets in einer konkreten Lebenswelt, die gesellschaftlich-historisch vermittelt ist“ (Hurrelmann 1976: 16). Mit dem Sozialisationsbegriff wird also v. a. der „Prozess der Persönlichkeitsgenese in Abhängigkeit von der Umwelt“ (Geulen 1973: 87) umschrieben. So durchschreitet der nur mit rudimentären Instinkten geborene Säugling in seiner Entwicklung vom Kind bis zum Erwachsenen nicht nur Stadien der biologischen Reifung,17 sondern macht auch (individuelle und soziale) Lernvorgänge durch. Sowohl individuelles als auch soziales Lernen dauert jedoch im Prinzip das ganze Leben hindurch an.
Von dieser Perspektive aus erscheint Sozialisierung als ein permanenter, lebensbegleitender Prozess der Persönlichkeitsentwicklung, der erst durch den Tod abgebrochen wird (Mühler 2008: 46 ff.). Es gibt daher keine endgültige, abgeschlossene Sozialisierung, sondern nur einen jeweiligen Stand der Sozialisierung: die Sozialisation (vgl. Fuchs-Heinritz et al. 2011: 625 ff.). Der Mensch – als Produkt von (zu reifenden) Anlagen und Umwelteinflüssen – steht mit dem Akt seiner leiblichen Geburt somit erst am Beginn seines „eigentlichen“ Geborenwerdens in einem erweiterten Sinn des Wortes: Erst durch seine „zweite soziokulturelle Geburt“ (Claessens 1962) wird der Mensch zum Menschen – und in Wahrheit ist „das ganze Leben des Individuums […] nichts anderes als fortwährend an der eigenen Geburt schaffen“ (Fromm 1974: 28).
Worin besteht nun diese (eigentliche) soziokulturelle Geburt des Menschen und welchen Stellenwert besitzt Kommunikation in diesem Prozess? Eine Antwort auf diese Frage kann es immer nur aus der Perspektive des jeweiligen sozialisationstheoretischen Konzepts geben. Dazu hier ein knapper Überblick.
4.2.1 Sozialisationstheoretische Positionen
Nach Geulen (1977: 43 ff.)18 können fünf abstrakte Dimensionen sozialisationstheoretischen Zugriffs unterschieden werden, die zu fünf unterscheidbaren Modellen vom sozialisierten Menschen führen:
•Das anthropologisch-funktionalistische Modell sieht den Menschen – wie soeben besprochen – als konstitutionelles Mängelwesen (Arnold Gehlen), der nach seiner Geburt alleine gar nicht (über-)lebensfähig ist. Sozialisation wird von dieser Position aus als Notwendigkeit zur physischen Existenzsicherung gesehen (neben Gehlen sind auch Emile Durkheim und Bronislaw Malinowski dieser Position zuzurechnen).
•Im Wissensmodell gelten die gesellschaftlichen Momente als Voraussetzung für die intentionale Handlungsorientierung: Der Mensch handelt auf der Grundlage der Bedeutung, die die Dinge für ihn besitzen. Ein sozialisiertes Individuum verfügt nicht nur über ein gewisses Maß an Wissen über seine alltägliche Lebenswelt, sondern kann dieses auch sprachlich vermitteln (Mead). Sozialisation erscheint hier als der Prozess, in dem Wissen von der gesellschaftlichen Wirklichkeit über Sprache bzw. Symbolinterpretationen erworben wird (neben Mead sind auch Alfred Schütz, Peter Berger und Thomas Luckmann Vertreter dieser Position).
•Das Integrationsmodell rückt die Persönlichkeitsentwicklung in den Fokus: Der Mensch wird den gesellschaftlichen Einflüssen entsprechend gebildet; er geht – gleichsam als ein Ebenbild seiner Gesellschaft – restlos in ihr auf: Die Person erscheint als (Persönlichkeits-)System von Bedürfnisdispositionen, die sich infolge der Verinnerlichung von Wertorientierungen ausbilden, welche das Individuum im Zuge seines Rollenhandelns erwirbt. Sozialisation ist also der Prozess, in dem Menschen in die Gesellschaft integriert werden (zu den Hauptvertretern zählt Talcott Parsons).
•Der Fokus des Repressionsmodells liegt auf dem „Konflikt zwischen gesellschaftlich vermittelten und anderen Persönlichkeitsmomenten innerhalb des Individuums“ (Geulen 1977: 81). Es gibt zwei Ausprägungen des Modells: Einerseits wird Sozialisierung als „Prozess der Entpersönlichung“ gesehen, in dem die Individualität und Freiheit des Einzelnen in der Kontrolle und Allgemeinheit sozialer Rollen aufgehoben wird“ (Dahrendorf 1974: 164). Andererseits sind es – etwa bei Sigmund Freud (1856–1939) – „die im Organischen fundierten Triebe der Menschen“ (Geulen 1977: 81), von denen jede Gesellschaft nur einen recht schmalen Ausschnitt der an sich breitgefächerten Triebregungen zulässt. Sozialisation erscheint hier somit als der Prozess der Verinnerlichung gesellschaftlicher Institutionen, die zur eigentlichen Individualität des Menschen im Widerspruch stehen.
•Im Individuationsmodell wird Gesellschaft dagegen als Voraussetzung für die Menschwerdung angesehen: Nicht trotz Sozialisation, sondern erst infolge konkret ablaufender Sozialisationsvorgänge kann sich menschliche Individualität entwickeln. Neben Emile Durkheim, Georg Simmel, Helmut Plessner und Jürgen Habermas sieht Geulen auch George Herbert Mead als Vertreter dieses Modells. Sozialisation ist für diese Ansätze also der Prozess, in dem die gesellschaftliche Vermittlung von Individualität stattfindet, in dem sich Identität und „Selbst-Bewusstsein“ im Rahmen der Interaktion mit anderen Menschen (und im Rahmen von Rollenübernahme) überhaupt erst bilden kann.
Es würde Rahmen und Umfang dieses Buches sprengen, wollte man das ontogenetische Werden des Menschen aus jeder der hier angesprochenen sozialisationstheoretischen Perspektiven verfolgen und dann den Stellenwert von Kommunikation im jeweils skizzierten Prozess der Persönlichkeitsgenese orten. Vielmehr soll ein Ansatz herausgegriffen und auf seine „kommunikative Dimension“ hin befragt werden: der auf George Herbert Mead zurückgehende Ansatz des Symbolischen Interaktionismus (S.I.), der in der Einteilung von Geulen sowohl dem Individuations- als auch dem Wissensmodell zuordenbar ist.
Dieser Ansatz hat nicht nur eine Nähe zum bisherigen Denken (so ging der teilweise diesem Interaktionismus entlehnte Symbolbegriff in das hier entwickelte Kommunikationsverständnis ein), sondern er hat auch in weiten Bereichen der rezipientenorientierten Medienwirkungsforschung seine Spuren im Fach hinterlassen.19
Bevor näher auf den S.I. eingegangen wird, ist jedoch Grundsätzliches zur sozialen Rolle voranzustellen, weil der Rollenbegriff im Konzept des S.I. einen zentralen Stellenwert hat.
4.2.2 Exkurs: Die soziale Rolle
Mit dem Begriff der sozialen Rolle wird die Summe von Verhaltenserwartungen bezeichnet, die dem Inhaber einer sozialen Position von anderen Menschen entgegengebracht werden (z. B. Dahrendorf 1974: 144, Dreitzel 1980: 43, Lautmann 2011: 581). Als Position gilt dabei der Platz in einer Gesellschaft, also der Ort im Gefüge sozialer Beziehungen, der für einen Funktionsträger (ohne Rücksicht auf die jeweils konkrete Person) bestimmt ist und diesen sozial qualifiziert (Buchhofer 2011: 516). Rollen beziehen sich also immer auf Positionen und nicht auf einzelne Menschen und die Verhaltenserwartungen betreffen immer Erwartungen, die in das Verhalten von Positionsinhabern gesetzt werden. Wir bekleiden üblicherweise eine Vielzahl sozialer Positionen, in denen wir ganz unterschiedliche Rollen spielen, die verschiedene Erwartungen provozieren.
Ehemann/Ehefrau Vater/Mutter, Sohn/Tochter, Universitätsprofessor·in, Mitglied eines Sportvereines etc. Damit sind beispielhaft ausgewählte soziale Positionen in unserer Gesellschaft symbolisiert, die eine einzelne Person einnehmen kann. In jeder dieser Positionen schlüpft sie aber zugleich auch in bestimmte Rollen, d. h., sie sieht sich Erwartungen im Hinblick auf ihr Verhalten gegenüber, die ihr von „außen“ (von der Gesellschaft) in Gestalt jeweiliger lnteraktionspartner·innen entgegentreten. So wird die Lebenspartnerin andere Erwartungen in ihr Verhalten setzen als etwa ihre Tochter oder ihre Mutter; sie selbst wiederum wird ihren Studierenden an der Universität anders gegenübertreten als den Kolleg·innen im Sportverein usw. Obwohl es sich immer um ein und dieselbe Person handelt, schlüpft sie dennoch in verschiedene Rollen und ruft dadurch bei ihren jeweiligen Interaktionspartner·innen ganz unterschiedliche Erwartungen im Hinblick auf ihr Verhalten wach.
Zentral an der rollentheoretischen Perspektive menschlichen Verhaltens ist also der Umstand, dass die Erwartungen in den Mittelpunkt rücken, die im Rahmen interaktiver Beziehungen im Spiel sind: „Wenn wir von sozialen Rollen sprechen, dann ist stets nur von erwartetem Verhalten die Rede, d. h. von der […] Gesellschaft, die den einzelnen mit gewissen Ansprüchen konfrontiert“ (Dahrendorf 1974: 145). Soziale Rollen sind nichts anderes als „wiederkehrende Verhaltensforderungen“ (Fürstenberg 1974: 21).
Nicht beantwortet ist damit freilich die Frage, ob sich eine Person in ihrer jeweiligen sozialen Position auch tatsächlich so verhält, wie „man“ es von ihr erwartet. Der Umstand, dass dies dennoch vielfach der Fall ist, dass also viele Menschen die an ihre sozialen Positionen herangetragenen Rollenerwartungen (mehr oder weniger) erfüllen,20 verweist auf das Sozialisationsgeschehen. Vom rollentheoretischen Blickwinkel aus stellt sich der Sozialisationsprozess im Wesentlichen als das Kennenlernen bzw. Übernehmen von positionsadäquaten Verhaltensmustern dar: Wir lernen, welche Verhaltenserwartungen (Rollen) den jeweiligen sozialen Positionen entsprechen, und erfahren, „was nicht akzeptables bzw. was akzeptables Verhalten ist“ (Cardwell 1976: 126).
Im Regelfall werden im Sozialisationsprozess also die mit einer sozialen Position zu verknüpfenden Rollen internalisiert (verinnerlicht). Damit wird die Fügsamkeit gegenüber den normativen Erwartungen der Gesellschaft erworben: „Mit ihrer Verinnerlichung werden viele Rollen selbstverständlich, man lässt sich von ihnen leiten, ohne dass die Rollenhaftigkeit des Verhaltens zum Bewusstsein käme“ (Dreitzel 1980: 46).
Neben dieser inneren Kontrolle der Gesellschaft über menschliches Verhalten gibt es aber auch noch eine äußere: Sie besteht in den Sanktionen, welche die Verletzungen bestimmter Rollenerwartungen nach sich ziehen. Sanktionen sind die Mittel, die eine Gesellschaft zur Verfügung hat, um für die Einhaltung ihrer Vorschriften zu sorgen. Sanktionen sind Reaktionen der Gesellschaft bzw. ihrer Institutionen sowohl auf rollenkonformes als auch auf rollenabweichendes Verhalten. „Es gibt positive und negative Sanktionen: Die Gesellschaft kann Orden verleihen und Gefängnisstrafen verhängen, Prestige zuerkennen und einzelne Mitglieder der Verachtung preisgeben“ (Dahrendorf 1974: 147). An der Existenz und am Ausmaß sozialer Sanktionen kann man letztlich den Grad der Bedeutung ablesen, die der jeweiligen Rolle in einer Gesellschaft beigemessen wird.
Es ist kein Zufall, dass immer wieder Parallelen zwischen sozialer Rolle und der Schauspieler·innenrolle in einem Theaterstück hergestellt werden. Sowohl die soziale Rolle als auch die Rolle des·der Schauspieler·in ist a) etwas ihrem·ihrer Träger·in Vorgegebenes, etwas außer ihm·ihr Vorhandenes. Die Rolle lässt sich in beiden Fällen b) als ein Komplex von Verhaltensweisen beschreiben, die ihrerseits c) Teil eines Ganzen sind (daran erinnern u. a. die Termini „pars“ [lat.] und „part“ [engl.] für „Rolle“). Sowohl die soziale Rolle als auch die Schauspieler·innenrolle muss d) gelernt werden, damit man sie auch spielen kann, und schließlich kann das Individuum ebenso wie der/die Schauspieler·in e) eine Vielzahl von Rollen lernen und spielen (vgl. dazu Dahrendorf 1974: 135).
Allerdings verweist Dahrendorf selbst auf die Grenzen dieser Schauspiel·innenmetapher: „Hinter allen Rollen, Personen und Masken bleibt der Schauspieler als Eigentliches, von diesen letztlich nicht Affiziertes. Sie sind für ihn unwesentlich. Erst wenn er sie ablegt, ist er er selbst“ (Dahrendorf ebd.). Und genau in dieser Hinsicht täuscht das Bild des Schauspiels und Theaters, wenn man es auf den Menschen und die Gesellschaft überträgt: Gerade die soziale Rolle kann nämlich nicht mit einer „Maske“ gleichgesetzt werden, die der/die Rollenträger·in nur fallen zu lassen braucht, um in seiner/ihrer wahren Identität zu erscheinen. Der Mensch wird eben nicht (wie in einem Schauspiel) nach dem Ende der Vorstellung in die „eigentliche“ Wirklichkeit entlassen, sondern die sozialen Rollen, die ein Individuum spielt, die sozialen Positionen, die es innehat, sind fundamentaler Bestandteil seiner realen Identität.
Die individuelle Identität, das Selbst eines Menschen als eigentlicher Kern seiner Persönlichkeit verbirgt sich nicht hinter allen sozialen Rollen, die dieser spielt (Dreitzel 1980: 51 f.), sondern das Insgesamt all jener sozialen Rollen, die wir ausfüllen und auszufüllen trachten, gerinnt zu einem fundamentalen Teil unserer Persönlichkeit. Diese Auffassung entspricht auch der Position des symbolisch-interaktionistischen Sozialisationskonzeptes.
4.2.3 Sozialisation als symbolisch-interaktionistisches Geschehen
Der theoretische Ansatz des Symbolischen Interaktionismus (S.I.), als dessen geistiger Vater der US-amerikanische Philosoph und Soziologe George Herbert Mead gilt, sieht den Menschen als ein Wesen, das sich in einer aktiven Wechselbeziehung mit seiner Umwelt befindet. Menschen reagieren nicht einfach auf eine Umwelt als eine gleichsam objektive physikalische Gegebenheit, sondern handeln im Hinblick auf ihre Umgebung auf der Basis subjektiver Interpretationsleistungen. Indem sie bestimmte „Dinge“ (Personen, Gegenstände, Zustände, Ideen, Verhaltensweisen etc.) mit Bedeutungen belegen, schaffen sie sich (zusätzlich zu der mehr oder weniger ohne ihr Zutun vorhandenen „natürlichen“ Welt, mit der sie insb. als biologische Organismen verbunden sind) eine (künstliche) symbolische Umwelt, mit der sie v. a. als soziale Wesen verbunden sind.
Die Teilhabe an dieser symbolischen Umwelt befähigt sie zugleich auch dazu, sich selbst bzw. ihr eigenes Verhalten zu interpretieren und damit ihre eigentliche (menschliche) Geburt voranzutreiben: „Das Kind ist kein geborener ‚Mensch’, obwohl es die Fähigkeit besitzt, Mensch zu werden. Es wird dies durch den Erwerb eines Selbst im Kontext der Interaktion mit anderen“ (Stryker 1976: 261). Sozialisation ist im Horizont des S.I. somit als jener Prozess zu begreifen, in dem sich menschliche Wesen im Verlauf sozialer Interaktionen Symbolsysteme aneignen, mit deren Hilfe sie dann nicht nur ihre Umwelt interpretieren, sondern auch „Selbst-Bewusstsein“ erlangen.
•Vom interaktionistischen Aspekt her steht also die Wechselbeziehung „Individuum – Umwelt“ im Blickpunkt. Menschen sind nicht passive Empfänger von Umweltreizen, sondern handeln im Hinblick auf eine Umwelt, „wie sie symbolisch vermittelt ist“ (Stryker 1976: 261), d. h., dass sie die Qualität ihres Handelns an der Bedeutung bemessen, die sie den Dingen zuschreiben – und diese Bedeutung wird aus sozialen Interaktionen abgeleitet bzw. interpretiert: „Die Bedeutung eines Dinges für eine Person ergibt sich aus der Art und Weise, in der andere Personen ihr gegenüber in Bezug auf dieses Ding handeln. Ihre Handlungen dienen der Definition dieses Dinges für diese Person. Für den symbolischen Interaktionismus sind Bedeutungen daher soziale Produkte, sie sind Schöpfungen, die in den und durch die definierbaren Aktivitäten miteinander interagierender Personen hervorgebracht werden (Blumer 2015: 27).21
•Vom symbolischen Aspekt her stehen die Bedeutungen im Mittelpunkt, die den Objekten auf der Basis von Verhaltensinterpretationen zugeschrieben werden. Daraus folgt nun in der Tat, dass Objekte – was ihren Sinn(!) betrifft – innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozesses überhaupt erst geschaffen werden (Mead 1968: 117): Indem wir im Hinblick auf unsere Umwelt handeln, kategorisieren wir sie, d. h. wir gliedern gewissermaßen unsere (natürliche) Umgebung in mehr oder weniger bedeutungsvolle Ausschnitte. Diesen Vorgang bezeichnet Mead als Symbolisation. „Symbolisation schafft bislang noch nicht geschaffene Objekte, die außerhalb des Kontextes der gesellschaftlichen Beziehungen, in denen diese Symbolisation erfolgt, nicht existieren würden“ (Mead ebd.). Eben deshalb leben wir Menschen nicht bloß in einer natürlichen, sondern auch – und vor allem – in einer symbolischen Umwelt (Rose 1967: 267).
Diese symbolische Umwelt ist die jeweils kulturspezifische Kategorisierung der natürlichen Umgebung. Jeder Kulturkreis hält bestimmte symbolische Umwelten bereit, die die natürliche Umgebung bereits mehr oder weniger (vor-)strukturieren. Die jeweilige Kultur, als das Insgesamt von Denk- und Handlungsweisen einer Sozietät (Lindesmith/Strauss 1974: 48), in die wir hineingeboren werden, determiniert nicht nur die Auswahl von Objekten (d. h., sie legt fest, was aus der natürlichen Umwelt herausgegriffen und als Objekt erkannt werden kann bzw. soll), sondern sie bestimmt auch in hohem Maße die Qualität der Bedeutungen, welche diese Objekte (bzw. deren Bezeichnungen) für uns symbolisieren.
Wie weiter oben bereits erwähnt: Allein der Umstand, dass wir in der Lage sind, einen bestimmten Bestandteil unserer Umwelt als „Stuhl“ zu klassifizieren (und damit aus der übrigen Umgebung auszugrenzen), setzt bereits die Angehörigkeit (oder Kenntnis) unseres Kulturkreises voraus: Wir müssen erfahren haben, wie andere Menschen im Hinblick auf ein derartiges Objekt handelten (nämlich: darauf sitzen) und dadurch für uns dessen Bedeutung definierten. Erst im Rahmen solcher Handlungskontexte konnten wir die Erfahrung machen, dass uns ein Stuhl die Möglichkeit zur Verrichtung von Tätigkeiten bietet, die im Sitzen ausgeführt werden können etc. Erst infolge derartiger Erfahrungen sind wir in der Lage, das Objekt „Stuhl“ mit Bedeutungen zu belegen, die es für uns zu einem Symbol (z. B. für körperliche Bequemlichkeit, hohe Handwerkskunst, technische Perfektion etc.) gemacht haben.
Was für die Beziehung zu unserer Umwelt gilt, das gilt auch für die Beziehung zu uns selbst. So wie wir die Bedeutung von Umweltobjekten erst aus der Interpretation des Handelns anderer erfahren bzw. ableiten, genauso interpretieren wir auch das Handeln unserer Mitmenschen im Hinblick auf uns selbst und leiten daraus ab, was wir in den Augen der anderen „bedeuten“, bzw. als was wir für unsere Interaktionspartner erscheinen. „Wie die anderen Objekte, so entwickelt sich auch das ‚Selbst-Objekt’ aus einem Prozess sozialer Interaktion, in dem andere Personen jemandem die eigene Person definieren“ (Blumer 2015: 34).
Selbst-Bewusstsein (im Sinn eines Bewusstseins unserer selbst) entsteht immer dann, wenn wir uns vom Standpunkt unseres Gegenübers aus betrachten und gleichsam für uns selbst zu einem Objekt werden: „Das Individuum wird nur dann zu einem selbstbewussten Subjekt, wenn es zuvor sich selbst zu einem Objekt geworden ist, so wie andere Individuen in seiner Erfahrung als Objekte auftauchen“ (Raiser 1971: 123). Sich selbst zu einem Objekt werden kann man nach Mead aber nur dann, wenn man zuvor ein anderer war, d. h., wenn man in der Lage war, (mental) in die Rolle eines anderen zu schlüpfen und sich aus dessen Perspektive zu betrachten. Diese Fähigkeit zur Übernahme der Rolle eines anderen wird sehr früh erlernt. Zunächst übernimmt das Kind im Spiel die Rolle von ganz konkreten anderen. Das ist die einfachste Möglichkeit, sich selbst gegenüber jemand Anderer zu sein und sich von einer anderen Warte aus zu sehen.
Das Kind schlüpft in die Rolle eines Anderen, indem es ganz einfach vorgibt, jemand Anderer zu sein, z. B. seine Mutter, ein·e Polizist·in, ein Arzt, sein·e Freund·in etc. In einem derartigen Rollenspiel lernt es, die Perspektive des·der jeweils vorgestellten Anderen zu übernehmen (es handelt im Hinblick auf sich selbst) und gewinnt dadurch „eine Orientierung seiner selbst gegenüber, in der es als ‚self’ bestimmter Art erscheint“ (Helle 1977: 85). Es lernt dadurch auch, mit welchen Erwartungen zu rechnen ist, und welche Reaktionen jeweils angemessen erscheinen.
In einem weiteren Stadium ist das Individuum dann bereits in der Lage, sich zur gleichen Zeit vom Standpunkt mehrerer Anderer zu sehen.
Mead verdeutlicht dies beispielhaft anhand des kooperativen Wettspiels, bei dem es im Sinn einer angemessenen Teilnahme darauf ankommt, dass „das Kind die Haltung aller anderen Beteiligten in sich haben muss“ (Mead 1968: 196). Jedes kooperative Spiel „fordert von den einzelnen die Fähigkeit, sich selbst vom Standpunkt mehrerer anderer Positionen aus zu sehen“ (Helle 1977: 86). Im Akzeptieren- und Befolgen-Können von (Spiel-)Regeln schlägt sich genau diese (entwickelte) Fähigkeit nieder, die Haltung aller anderen (am Spiel Beteiligten) einnehmen zu können. Neuere Erkenntnisse über die evolutionären Wurzeln der kooperativen Kommunikation (Tomasello 2011: 183 ff.) bekräftigen diese frühen Beobachtungen von Mead.
Diese Fähigkeit, sich zugleich aus der Perspektive mehrerer Anderer betrachten zu können, bezeichnet Mead als die Fähigkeit, die Rolle des verallgemeinerten (oder: generalisierten) Anderen einnehmen zu können. Sich in die Rolle dieses verallgemeinerten Anderen zu versetzen, meint also den Versuch, gedanklich auf die Haltungen der gesamten Gruppe Bezug zu nehmen. Dies geschieht, indem der Einzelne die Verhaltenserwartungen der jeweiligen Gruppenmitglieder verallgemeinert (generalisiert): Die anderen sind in seinem Denken und Handeln als ein man präsent: Er weiß, was man (üblicherweise) von ihm erwartet, er weiß daher auch, wie man (üblicherweise) in seiner Position bzw. Rolle zu handeln hat. Dadurch wird er sich selbst gegenüber nicht nur zu einem Objekt (und kann sein Verhalten einschätzen bzw. bewerten); er bemisst zugleich als handelndes Subjekt sein zukünftiges Verhalten an den (vermeintlichen) Erwartungen der anderen.
Auf die Gesellschaft als Ganzes übertragen bedeutet dies, dass die Haltungen und Einstellungen jener Gruppen, denen der Betreffende angehört, zu einer größeren Konfiguration zusammengefasst werden (Cardwell 1976: 119), der er sich gegenübersieht: „Die Haltung dieses verallgemeinerten Anderen ist die der ganzen Gemeinschaft“ (Mead 1968: 196). Der Einzelne sieht sich bzw. sein Verhalten vom Standpunkt all jener Gruppen aus, denen er angehört bzw. anzugehören trachtet.
So kann sich jemand „z. B. als einen Mann betrachten, als jung an Jahren, als Student, als verschuldet, als jemanden, der versucht, Arzt zu werden, als aus einer unbekannten Familie kommend, und so weiter. In allen jenen Gelegenheiten ist er für sich selbst ein Objekt; und er handelt sich selbst gegenüber und leitet sein Handeln anderen gegenüber auf der Grundlage dessen, wie er sich selbst sieht“ (Blumer 2015: 34).
Die Übernahme der Rolle Anderer (zunächst die konkreter Anderer und später die des verallgemeinerten Anderen) erweist sich nunmehr als zentraler Faktor bei der Entwicklung eines Selbst. Denn das Selbst einer Person ist nichts anderes als „die Weise, wie sie (die Person) sich selbst ihre Beziehungen zu anderen Personen in einem sozialen Prozess beschreibt“. Es „entsteht schrittweise und kontinuierlich und wird typischerweise immer komplexer, wenn das Kind mit einer größeren Vielfalt von Personen […] in Kontakt kommt. Konfrontiert mit unterschiedlichen Erwartungen, kann es durch Rollenübernahme sein eigenes Verhalten aus einer Vielzahl von Perspektiven22 betrachten und beurteilen und sowohl mit Bezug auf sich selbst als auch mit Bezug auf andere handeln“ (Stryker 1976: 263, 265 f.).
Das Selbst erwächst also aus bestimmten Erfahrungen, die man in der Begegnung mit Anderen macht.23 Teile derartiger Erfahrungen verdichten sich schließlich zu „Etikettierungen“ (Cardwell 1976: 116), mit denen wir uns gewissermaßen selbst versehen, indem wir die Reaktionen Anderer auf unser eigenes Verhalten interpretieren. Charles Cooley spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten Spiegel-Ich: Danach erlangen die Haltungen und Reaktionen Anderer auf „reflektierende“ Art und Weise Bedeutung für unsere Selbstdefinition. „Die Haltungen Anderer werden so reflektiert, als ob wir in einen Spiegel blickten und uns aufgrund dessen, was wir beobachten, selbst beurteilen“ (Cardwell 1976: 121). Die Vielzahl derartiger Spiegel steht gleichsam für die Vielzahl sozialer Interaktionen, im Rahmen derer wir jeweils „Bestandteile“ unseres Selbst erkennen bzw. zu erkennen glauben.24
In diesem Sinn kann man sich das Selbst „als aus einem Satz unterschiedlicher Identitäten bestehend vorstellen. Identitäten sind verinnerlichte positionale Bezeichnungen bzw. Kennzeichnungen, die sich in sozialer Interaktion behaupten und bewährt haben. Sie sind diejenigen sozial anerkannten Personenkategorien, die man in einer Gesellschaft sein kann“ (Stryker 1976: 267). Wie das Selbst insgesamt, genauso dürfen aber auch dessen „Identitäts-Bestandteile“ nicht losgelöst vom jeweils vorhandenen sozialen Umraum gesehen werden. Nach Mead kann es nicht einmal eine scharfe Trennungslinie zwischen „eigenen“ und „fremden“ Identitäten geben, weil die jeweilige Identität des einzelnen „nur in Bezug zu den Identitäten anderer Mitglieder seiner gesellschaftlichen Gruppe“ (Mead 1968: 206) existiert: „Das Verhältnis des Menschen zu sich selbst impliziert sein Verhältnis zu anderen, seine Identität impliziert seine Sozialität“ (Raiser 1971: 124). Stets bedarf es mithin sozialer Erfahrungen, in denen der Mensch lernt, sich selbst auf Basis seiner Interpretation der Reaktionen Anderer auf sein Verhalten zu definieren: „Er kann, mit anderen Worten, nur durch die Sozialisation zu einer Selbstdefinition gelangen“ (Cardwell 1976: 115).25
Allerdings ist bisher nur eine Dimension des Selbst bzw. jeweils spezifischer Identitäten angesprochen, denn Mead sieht das Selbst in zwei Sphären strukturiert: in die des I und in die des Me. Letzteres repräsentiert den „internalisierten Anderen“ (Raiser 1971: 129), es entsteht (wie bisher beschrieben), wenn man sich selbst aus der Perspektive des/der Anderen betrachtet und sich auf diese Weise seiner (jeweils spezifischen) Identität bewusst wird. Das Me ist somit „dasjenige, was dem Subjekt im Selbstbewusstsein erscheint“, es ist – vermittelt über den Vorgang der Übernahme der Rolle des Anderen – „die virtuell eingenommene Perspektive Alters von Egos Handeln“ (Geulen 1977: 117). Man kann im Me auch „das Äquivalent zu den sozialen Rollen“ (Stryker 1976: 260) sehen, die ein Mensch im Verlaufe seiner Lebensgeschichte bekleidet (hat). Demgegenüber soll das I die „Reaktion des Organismus auf die Haltungen anderer“ (Mead 1968: 218) verkörpern; es stellt die Antwort des Organismus auf die Haltungen und Einstellungen der Anderen dar. „Das I ist die je spontane Instanz im Handeln. Es ist als solches nicht unmittelbar objektivierbar – weil es durch Objektivierung ipso facto schon zu einem Me würde –, und daher auch prinzipiell nicht genau vorhersagbar; es führt Neues in das Handeln ein und ist der Grund für das subjektive Bewusstsein von Freiheit“ (Geulen 1977: 117).
Das Selbst bzw. die je spezifische Identität ist für Mead nun ein Prozess, der aus diesen beiden unterscheidbaren Phasen besteht (Mead 1968: 221). Dieser Prozess ist nie endgültig zu Ende, deshalb ist das Selbst auch nicht ein eindeutig beobachtbares Phänomen (Raiser 1971: 135), es erscheint vielmehr als ein kontinuierliches Substrat von Identitäten, die im Rahmen der (durch konkretes Handeln aktualisierten) Wechselbeziehungen von I und Me ständig erfahren werden. Damit erweist sich der Erwerb eines Selbst im Horizont des S.I. als ein lebenslang andauernder Prozess, der soziale Beziehungen zu anderen Menschen impliziert: „Selbstsein und Interaktion mit anderen Individuen bedingen sich gegenseitig“ (Raiser 1971: 124).
An dieser Stelle passt der Hinweis auf eine nicht ganz unähnliche Forschungsperspektive, die sich Ende der 1960er Jahre in Großbritannien unter anderem um den britischen, vom Marxismus inspirierten Soziologen Stuart Hall (Winter 2011) von Birmingham aus formierte. Die Rede ist von den sogenannten Cultural Studies (Hepp/Winter 2008, Marchart 2018, Renger/Wimmer 2014), die sich ebenfalls mit dem Entstehen von Identität befassen. Auch hier ist Identität nur plural vorstellbar. Jedes Individuum wird von einer Vielzahl von Identitäten gleichsam „durchkreuzt“ (Marchart 2018: 177) und keine dieser Identitäten gehört ihm alleine – im Gegenteil: Identität ist immer kollektiv, sie ist gesellschaftlich bestimmt und sie ist immer auch umkämpft. Zwischendurch „stabilisiert sie sich durch Abgrenzung von anderen Identitäten, was unausweichlich die Frage des Ausschlusses, der Macht und des Widerstands aufwirft“ (ebd.).
Der Cultural Studies-Ansatz ist ein politisches, „auf soziale Veränderung zielendes Projekt“ (Renger/Wimmer: 2014: 522) – nicht zuletzt vor dem biografischen Hintergrund seiner Gründer in der Tradition der 1960er Jahre in Birmingham. Damals hatten Raymond Williams und Richard Hoggart (beides britische Arbeiterkinder) sowie Stuart Hall (ein Stipendiat aus Jamaika) als „scholarship-boys“ Zugang zu den englischen Eliteuniversitäten bekommen, wo ihnen die Konfrontation mit der englischen Oberklasse ihre eigene soziale Identität bewusst machte und den Blick für die Kultur der eigenen Klasse schärfte (Marchart 2018: 29). Aus der Konfrontation zwischen proletarischer Herkunftskultur und Elitenkultur erwuchs das Ziel, die Arbeiterkultur zu rehabilitieren und die Lage der Arbeiterklasse durch Erwachsenenbildung zu verbessern.
Cultural Studies und Symbolischer Interaktionismus berühren sich dort, wo es um das Konzept der Bedeutungskonstruktion geht. Was die Medienrezeption betrifft, so kommt dies in dem vielzitierten encoding-decoding-Modell zum Ausdruck. Danach impliziert jeder medial vermittelte Inhalt verschiedene Möglichkeiten der Dekodierung (Lesarten)26, was dem Publikum daher einen großen Interpretationsspielraum eröffnet (vgl. Marchart 2018: 143 ff., Winter 2011: 473 f.) und mannigfache Chancen zur Ausbildung bzw. Veränderung der eigenen Identität(en) bietet.27
4.2.4 Selbst-Genese und Kommunikation
Versucht man nunmehr, den Stellenwert von Kommunikation bei der Genese des Selbst einzuschätzen, so wird man abermals auf die sozialen Interaktionsprozesse verwiesen, in denen derartige Identitäten entstehen: Auch Kommunikation – als ein (per definitionem) soziales Geschehen – bedarf ja stets mindestens zweier im Hinblick aufeinander (inter-)agierender Partner·innen. Es ist somit die Frage nach der Bedeutung kommunikativer Interaktionsabläufe zu stellen; es ist zu fragen, welchen Stellenwert (beim Zustandekommen jeweils spezifischer Identitäten) jene sozialen Verhaltensweisen besitzen, die auf das Mitteilen von Bedeutungsinhalten ausgerichtet sind.
Die zentrale Bedeutung kommunikativer Interaktionsprozesse für die Genese des oben beschriebenen Selbst wird einsehbar, wenn man sich Meads Konzept der Geste vergegenwärtigt. In dieser Geste und ihrer Funktion im Rahmen der sozialen Interaktion sieht Mead nämlich „den Schlüssel zur Erklärung der Entstehung von Geist, Bewusstsein und Identität aus einfachen Prozessen der Kommunikation“ (Raiser 1971: 99). Die Geste stellt für Mead nicht nur die Anfangsstufe jeglichen Sozialverhaltens dar, er sieht in ihr auch jenes Phänomen, das später zum Symbol wird (Mead 1968: 81) und damit symbolisch vermittelte Interaktion, also – Humankommunikation – überhaupt erst möglich macht. Mittlerweile spricht Vieles dafür, dass Zeigegesten und Gebärden die entscheidenden Übergangspunkte in der Evolution von der animalischen zur menschlichen Kommunikation waren (vgl. Tomasello 2011: 68 ff.; 2020: 147 ff.).
Unter einer Geste versteht Mead jede Regung eines Organismus, wie etwa eine Bewegung (= motorische Geste), einen Gesichtsausdruck (= mimische Geste) oder einen Laut (= vokale Geste), die als Reiz auf Andere, in den gleichen Verhaltens- oder Handlungskontext einbezogene Lebewesen wirkt (vgl. dazu Mead 1968: 52, 81).28 Eine solche Interaktion via Gesten ist (noch) auf der unbewussten Ebene anzusiedeln, sie ist daher auch für die frühen Wechselbeziehungen zwischen Eltern und Kind kennzeichnend.29 In dieser noch unbewussten Übermittlung von Gesten (seitens) des Kleinkindes sieht Mead nun aber die frühesten Anfänge von Kommunikation (ebd.: 109). Indem nämlich die Gesten des Kindes (in ihrer Funktion als Reize für die das Kind umgebenden Erwachsenen) zu Reaktionen der Erwachsenen führen, gewinnen sie Bedeutung für das Kind: Die Reaktion der Erwachsenen auf die Geste des Kindes ist die Interpretation dieser Geste für das Kind (vgl. Mead 1968: 120).
So ist z. B. das Schreien eines Kindes normalerweise ein Auslöser für einen ermutigenden oder beruhigenden Antwortlaut der Eltern (begleitet von schützenden Bewegungen in Richtung auf das Kind). Durch diese Reaktion „definieren“ die Eltern dem Kind die Bedeutung, die sie seinem Laut beimessen; eine daraufhin folgende Veränderung bzw. Abschwächung im Schrei des Kindes bestätigt gegebenenfalls den Eltern ihre Interpretation des ursprünglichen Schreies als „Hilferuf“ oder Ähnliches. Den Vorgang, in dem die (vom Kind) noch unbewusst gesetzte Geste der Angst die entsprechende Geste der Beruhigung oder des Schutzes (seitens der Eltern) ausgelöst hat, kann man als fortlaufenden Anpassungsvorgang dieser Individuen aneinander begreifen, im Rahmen dessen die jeweiligen Gesten, infolge der wechselseitigen Reaktionen, die sie ausgelöst hatten, Bedeutung erlangten (siehe dazu: Mead 1968: 84 f. und 414 f.).
Solcherart interpretierte Gesten können schließlich zum gezielten Ausdruck der jeweiligen Bedeutung bzw. zum gezielten Hervorrufen der erlernten Reaktion (des Anderen) verwendet werden. Löst eine verwendete Geste nun in beiden miteinander interagierenden Individuen das Gleiche aus, dann spricht Mead von einem signifikanten Symbol (1968: 85), welches fortan (zwischen diesen Interaktionspartnern) symbolische Kommunikation möglich macht. Eine derartige – sich signifikanter Symbole bedienende – Kommunikation zeichnet sich nach Mead aber auch dadurch aus, dass sie „nicht nur an andere, sondern auch an das Subjekt selbst gerichtet ist“ (1968: 181). Das soll heißen, dass wir, wenn wir kommunikativ handeln, in uns selbst auch jene Bedeutungen Haltungen, Einstellungen, Ideen etc.) wachrufen, die wir im Bewusstsein der anderen Individuen (an die wir unser kommunikatives Handeln richten) aktualisieren (wollen). Im Falle der vokalen Geste ist damit der Zustand erreicht, den wir Sprache nennen. Sprache besteht (hauptsächlich) aus „jenen vokalen Gesten, die dazu neigen, im einzelnen die auch beim anderen ausgelösten Haltungen hervorzurufen“ (Mead 1968: 203). Dies bedeutet jedoch weiterhin, dass wir mit Hilfe signifikanter Symbole zugleich auch die (vermeintliche) Haltung des/der Anderen uns selbst (bzw. unserem Verhalten) gegenüber einnehmen, uns also damit zugleich aus der Perspektive des/der Anderen betrachten und damit für uns selbst zu einem Objekt werden!
Um dieses Sich-aus-der-Perspektive-des-Anderen-Betrachten klar vor Augen zu führen, sei mit Zijderveld (1975: 100) eine ganz alltägliche Gesprächssituation unter die Lupe genommen: Angenommen, Herr A begegnet auf der Straße Herrn B und fragt ihn nach dem Weg zum Bahnhof. Analysiert man diese Begegnung als ein wechselseitiges Aktualisieren von subjektiv erlebten und intersubjektiv verständlichen und daher gegenseitig bedeutungsvollen ‚signifikanten’ Symbolen, dann stellt sie sich folgendermaßen dar: Herr B „richtet sich mit Gebärden und mit Worten, als Erklärer des Weges zum Bahnhof, nicht nur an Herrn A (dort ihm gegenüber), sondern während er den Weg erklärt, übernimmt er die Rolle und Haltung des Herrn A, das heißt: des Zuhörers, der der Erklärung bedürftig ist, und richtet sich also an sich selbst, als wäre er jemand, der den Weg zum Bahnhof noch nicht kennt. Etwas Ähnliches passiert mittlerweile innerhalb von Herrn A: Während er Herrn B (dort ihm gegenüber) sieht und hört, adressiert er sich selber in der Rolle und der Haltung eines Erklärers“ (ebd. 1975: 100).
Genau an diesem Punkt wird nun die Bedeutung von Kommunikation für die Entstehung von Identität und Selbst-Bewusstsein einsehbar: Das Verfügen über bzw. das Verwenden von signifikanten Symbolen (im kommunikativen Handeln) bringt eine Verhaltensweise hervor, in der das Individuum für sich selbst ein Objekt wird, weil die Rolle des Anderen (die Perspektive seines Gegenübers) im Augenblick des Gebrauchs derartiger signifikanter Symbole auch in ihm selbst gegenwärtig ist (vgl. Mead 1968: 180 f.). Eben weil signifikante Symbole mit Anderen geteilte Bedeutungen aktualisieren, machen sie zugleich auch die Perspektive dieser Anderen dem kommunikativ Handelnden selbst gegenüber deutlich.
Wurde diese Fähigkeit, in die Rolle des Anderen zu schlüpfen bzw. sich aus der Perspektive seines Gegenübers betrachten zu können, vorhin als Voraussetzung für die Entwicklung von Identität und Selbst-Bewusstsein erkannt, so erweist sich nunmehr der Gebrauch signifikanter Symbole im Rahmen interpersonaler Kommunikationsprozesse als elementare Bedingung für die Genese eines derartigen Selbst. Erst Kommunikation mit Hilfe signifikanter Symbole macht es dem Individuum möglich, nicht nur als Subjekt – als I – (kommunikativ) zu handeln, sondern sich damit (zugleich) auch aus der Perspektive des/der Anderen als Objekt – als Me – zu betrachten, d. h., in die Rolle des Gegenübers zu schlüpfen.
Mittlerweile existiert die empirisch (in experimentellen Studien mit Kleinkindern sowie mit Menschenaffen) gut belegte These, dass diese Fähigkeit zur Rollenübernahme ein wesentlicher Faktor in der Evolution menschlicher Kooperation gewesen sein düfte: Erst auf dieser Grundlage scheinen Individuen die Fähigkeit entwickelt zu haben, „miteinander einen gemeinsamen Akteur, ein ‚wir‘ zu schaffen, der sich geteilter Intentionen, geteilten Wissens und geteilter soziomoralischer Werte bedient“ (Tomasello 2020: 19). Kooperative – über Kommunikation koordinierte – Interaktionen könnten somit die Basis dafür gewesen sein, dass die Spezies Mensch in der Lage war, „einzigartige Prozesse kultureller Koordination und Weitergabe“ (ebd.) von Wissen auszubilden, ohne die globale Zivilisationsprozesse nicht vorstellbar sind.
Insgesamt wird mit dieser Einsicht in den Stellenwert von Kommunikation bei der Genese von Identität und Selbst-Bewusstsein aber auch ein dem Menschen gleichsam auferlegter Zwang zur Kommunikation deutlich! Der Mensch, im Gegensatz zu anderen Lebewesen unfertig geboren, muss durch den kontinuierlichen Erwerb seines Selbst lebenslang seine eigentliche (menschliche) Geburt vorantreiben und bedarf dazu der kommunikativen Begegnung mit anderen Menschen.
Damit sind nunmehr deutliche Hinweise dafür erbracht, dass der spezifisch menschlichen Kommunikationsfähigkeit elementare Bedeutung für die Menschwerdung – sowohl in phylogenetischer als auch in ontogenetischer Hinsicht – zuzuerkennen ist. Der Mensch, so wie er bis heute geworden ist und wie er täglich neu wird, ist ohne die nur ihm eigene Fähigkeit zur symbolischen Kommunikation nicht denkbar.
1Phylogenese meint die stammesgeschichtliche Entwicklung der Arten bis hin zur evolutionären Herausbildung der menschlichen Gattung aus dem Tierreich (= Anthropogenese). Im Gegensatz dazu fokussiert die Ontogenese auf die Entwicklung des einzelnen Individuums von seiner Geburt bis zum Tod.
2In seinem 1859 entstandenen Werk über die Entstehung der Arten griff Darwin die Idee von der Abstammung innerhalb der Organismuswelt auf, die schon im 17. Jhdt. bei Leibniz sowie im 18. Jhdt. bei Saint-Hilaire und Lamarck zu finden ist. Die große Leistung Darwins war es jedoch, erstmals eine Theorie der Entstehung der Arten von Lebewesen entwickelt zu haben. „In ihrem Mittelpunkt stand das Zusammenwirken zufällig entstandener erblicher Abweichungen einzelner Individuen und Teilen einer Population (…) und der natürlichen Selektion (Auswahl), die bestimmten Teilen einer (…) Population unter bestimmten Umweltbedingungen eine höhere Chance des Überlebens und einer relativ größeren Zahl von Nachkommen gibt“ (Wezler 1972: 304).
3So scheint es eine hierarchische Ordnung zu geben, nach der „alle höheren Kommunikationsprozesse Eigenheiten und Leistungen der niederen voraussetzen und diese auch übernehmen“ (Merten ebd.).
4Nur um einen Eindruck evolutionärer Zeitdimensionen zu geben: So glaubt man zu wissen, dass die Evolution von einem dem heutigen Spitzenhörnchen ähnlichen Tier bis zum Menschen etwa 75 Millionen Jahre dauerte (Bresch 1977: 264). – Der nun folgende kurze Abstecher in die Paläoanthropologie hält sich im Wesentlichen (wenn nicht anders vermerkt) an Soritsch (1974 und 1975).
5Der für die weitere Evolution so wichtige Übergang vom Wald in die offene Landschaft scheint ein noch nicht ganz erklärbarer Vorgang zu sein: „Einige Autoren meinen, es sei die direkte Folge verringerten Regenfalls gewesen, der die Ausdehnung des tropischen Waldes einengte und einen erhöhten Populationsdruck auslöste. Andere deuten ihn einfach als das Ergebnis des normalen Wettbewerbs im Bereich des Lebendigen, das die Erschließung aller erschließbaren Umwelten begünstigt“ (Soritsch 1975: 15).
6Wohl können Ansätze von Werkzeuglichkeit auch bei Tieren festgestellt werden; „echte“ Werkzeuglichkeit liegt nach Narr (1973) jedoch erst dann vor, wenn die Hinzufügung neuer, nicht vorgegebener Qualitäten hinsichtlich Form und Funktion des jeweiligen Gegenstandes beobachtbar ist – eine Eigenschaft, die schließlich auch mit neuen Erzeugungsweisen (Herstellung von Werkzeugen durch Werkzeuge) einhergeht (vgl. Soritsch 1974: 278).
7Ein evolutionäres Universalium ist für Parsons „jede in sich geordnete Entwicklung oder ‚Erfindung’, die für die weitere Evolution so wichtig ist, dass sie nicht nur an einer Stelle auftritt, sondern dass mit großer Wahrscheinlichkeit mehrere Systeme unter ganz verschiedenen Bedingungen diese ‚Erfindung’ machen“ (Parsons 1971: 55). Als einen „zusammenhängenden Satz von evolutionären Universalien“ sieht er (beginnend in der frühesten Menschheitsgeschichte) Religion, Kommunikation durch Sprache, soziale Organisation durch Verwandtschaftsordnungen und Technologie (ebd.: 58).
8Habermas nennt (in expliziter Anlehnung an Marx) vier kulturelle Universalien als Ausgangsbedingungen gesellschaftlicher Evolution: Produktion, Verkehrsform, umgangssprachliche Kommunikation und Ideologie (Habermas 1971b: 277 ff.).
9Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive meint Kultur die „Gesamtheit der Verhaltenskonfigurationen einer Gesellschaft, die durch Symbole über Generationen hinweg übermittelt werden, in Werkzeugen und Produkten Gestalt annehmen, in Wertvorstellungen und Ideen bewusst werden“ (Fuchs-Heinritz 2011: 384).
10Die ersten Lebewesen, die einen Übergang vom Tier zum Menschen darstellen (die sogenannten Australopithecinen), traten vor etwas zwei bis vier Millionen Jahren auf. Der Mensch, der anatomisch von uns praktisch ununterscheidbar ist, scheint vor 40- bis 50.000 Jahren das erste Mal registrierbar zu sein (vgl. Soritsch 1975, Campbell 1972, Darlington 1971).
11Bei all diesen Fragen und Überlegungen darf nicht übersehen werden, dass der Biologe Adolf Portmann bereits vor vielen Jahrzehnten feststellte: „Wir haben keinen Grund, etwa den jetzigen Zustand als das Ende der Evolution aufzufassen“ (Portmann 1972: 128).
12Die Anthropologie ist eine disziplinübergreifende Wissenschaft – ausdifferenziert haben sich mittlerweile die formale, historische, ökonomische, philosophische, politische, soziale und strukturale Anthropologie (vgl. ebd. 39–40).
13Der Terminus „artspezifische Umwelt“ geht auf den Biologen Jakob v. Uexküll (1864–1944) zurück, dessen Beschreibung der Umweltbeziehung der Zecke ein (oft zitiertes) Beispiel für die Verdeutlichung des hier Gemeinten gibt: Die Zecke kann ausschließlich Licht und Wärme empfinden sowie den Geruch von Buttersäure wahrnehmen. Das genügt, um auf Bäume oder Sträucher zu klettern und sich auf warmblütige Tiere fallen zu lassen. Dort bohrt sie sich in die Haut, pumpt sich voll Blut, lässt sich wieder zu Boden fallen, legt ihre Eier und stirbt. „Die Lebensweise der Zecke entspricht ihrem organischen Bau. Zwischen Organausstattung, Lebensweise und Umwelt besteht Harmonie; die Wahrnehmungsfähigkeiten entsprechen den ‚Lebensinteressen’ des Tieres, beide sind der biologischen Ausstattung angepasst“ (Uexküll zit. n. Griese 1976: 24).
14Zu solchen Instinktresiduen zählen z. B. beim Säugling angeborene Reflexe wie der Greif-, Such-, Saug- und Augenlidreflex, oder angeborene Verhaltensmuster der Kontaktaufnahme wie Lächeln, Plappern, Weinen etc. (vgl. Griese 1976: 21 f.). Was jedoch fehlt, sind „echte“ Instinkthandlungen, als deren Kennzeichen Angeborensein (auch bei später Reifung), Artspezifität, Starrheit und Zielgerichtetheit, reaktionsspezifische Energie und Taxis (Fixieren mit den Augen) angeführt werden (vgl. dazu Lorenz 1960).
15Sogenannte Nestflüchter sind Lebewesen, die bereits ausgereift zur Welt kommen und sich gleich nach ihrer Geburt in ihrer Umgebung zurechtfinden.
16Spätestens seit Rene Spitz und dem von ihm erkannten Hospitalismus (= Bezeichnung für pathologische Folgen eines längeren Aufenthaltes in Krankenhäusern u. ä. Anstalten als Folge mangelnder persönlicher Zuwendung) weiß man um die Bedeutung der sozialen Kontakte zwischen Kind und Erwachsenen. Der mit wenig Sozialkontakt einhergehende Mangel an affektiver Zufuhr (Spitz 1980: 279) führt zu schweren und teils irreversiblen Schädigungen im organisch-biologischen, psychischen, geistigen und sozialen Dasein des Kindes.
17Unter Reifung ist der endogene (genetisch gesteuerte) Anteil der menschlichen Entwicklung (wie z. B. das Anwachsen des Gehirnvolumens) zu verstehen (vgl. Schraml 1972: 91 ff.).
18Zur Sozialisationsthematik vgl. auch Geulen/Veith (2004), Veith (2008), Zimmermann (2000).
19Gemeint ist hier insb. der „Nutzenansatz“, der das Verhalten des Medienrezipienten mit Hilfe des Symbolischen Interaktionismus modelliert (vgl. dazu weiter unten Kap. 6.5).
20Selbstverständlich gibt es keine Gesellschaft, in der sich alle Mitglieder in allen Handlungsbereichen stets rollenkonform verhalten. Gerade die Alltagserfahrung zeigt ja, dass neue soziale Rollen entstehen, sich verändern und auch auflösen können. Es handelt sich hier eben nicht um ein statisches Phänomen, sondern um einen dynamischen Prozess, der sozialen Wandel stets impliziert.
21Siehe dazu auch die drei Prämissen des S.I., die bereits weiter oben (Kap. 2.5) angesprochen wurden.
22Folgerichtig wird Sozialisation im Horizont des S.I. bisweilen auch als „Perspektivenerwerb“ (Helle 1977: 85) bezeichnet.
23Hier schließt Mead an den Psychologen William James (1842–1910) an, der in seinem Konzept des „sozialen Selbst“ das Ergebnis der Anerkennung oder Beurteilung sah, die ein Mensch von Anderen erhält (vgl. Stryker 1976: 258). James bereitete damit bereits jene Sichtweise vor, die das Individuum als in sozialen Beziehungen verwurzelt erkannte. Vgl. dazu auch die Unterscheidung von „personaler“ und „sozialer“ Identität bei Goffman (1977).
24Cooley weist nachdrücklich auf den subjektiven Charakter der Vorstellung von der Beurteilung unserer Erscheinung hin: „Das, was in uns Stolz oder Beschämung auslöst, ist nicht die bloße mechanische Spiegelung unserer selbst, sondern ein unterstelltes Gefühl, die imaginierte Wirkung dieses Spiegelbildes auf das Denken des anderen“ (Cooley, zit. n. Cardwell 1976: 121). Mit diesem Verweis auf das „unterstellte Gefühl“ und die „imaginierte Wirkung“ steht also der individuelle Wertungsprozess seitens des jeweils handelnden (und die Reaktionen des anderen interpretierenden) Individuums im Mittelpunkt.
25Geulen (1977: 115) hat auf den Einfluss Hegels auf Mead’sches Denken hingewiesen (vgl. dazu auch Reck 1963: 24). Hegel nahm ja „ein komplementäres Verhältnis zweier sich erkennender Individuen als ursprünglich an“ (Huch 1974: 24) und verwies damit bereits auf den Umstand, dass sich jedes individuelle Selbstbewusstsein erst auf der Basis wechselseitiger Anerkennung bildet (Huch ebd.).
26Vgl. dazu das illustrative empirische Beispiel über die Vielfältigkeit der Rezeption des österreichischen Boulevardblattes Kronen-Zeitung (Bruck/Stocker 2002).
27Vgl. dazu auch die Erkenntnisse über die Nutzung der Massenmedien (Kap. 6.5).
28Mead erkennt die Existenz von Gesten auch im Tierreich an; er verdeutlicht dies bisweilen am Beispiel von miteinander kämpfenden Hunden (ebd.) sowie anhand der Vokalgesten von Vögeln (ebd.: 101). Mittlerweile scheint nachweisbar zu sein, dass sogenannte Zeigegesten (mit denen auf etwas hingewiesen wird) und insbesondere ikonische Gesten (So tun als ob) im Tierreich nicht vorkommen und einzigartig für den Menschen sind (Tomasello 2020: 158 ff.).
29Mead weist darauf hin, dass der Säugling mit einer überaus großen Sensibilität für mimische Gesten geboren wird. So reagiert das Neugeborene z. B. auf einen Gesichtsausdruck früher als auf die meisten anderen Reize (Mead 1968: 419). Zu ähnlichen Befunden kam später auch Spitz (1980: 69 ff.).