Читать книгу Kommunikationswissenschaft - Roland Burkart - Страница 12
Оглавление5Massenkommunikation in der internetbasierten Kommunikationsgesellschaft
Im vorigen Kapitel wurde Kommunikation als elementare Bedingung phylogenetischer und ontogenetischer Menschwerdung erkannt. In diesem Abschnitt soll nun auf Basis des weiter oben entwickelten Kommunikationsbegriffes eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit Massenkommunikation erfolgen.
Darf man, soll man – so mögen sich kritische Leser jetzt fragen – im dritten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends mit Blick auf Internet, Social Media und Co. überhaupt noch von Massenkommunikation sprechen? Es war doch bereits im 20.Jahrhundert vom sogenannten „Decline of Mass Media“ (Maisel 1973), also vom „Abstieg der Massenmedien“ und von der Entwicklung hin zur Zielgruppenkommunikation die Rede.
In einer auf die USA bezogenen empirischen Untersuchung überprüfte Richard Maisel (1973) für den Zeitraum von 1950–70 die von zwei Nationalökonomen (Merrill/ Lowenstein 1971) entwickelte „Drei-Stufen-Theorie“ der kommunikativen Differenzierung. Danach ist eine Gesellschaft je nach ihrem Entwicklungsstand durch Elitemedien, populäre Medien (= Massenmedien) und Spezialmedien gekennzeichnet. Für die Existenz von Spezialmedien müssen hoher Bildungsstandard, Wohlstand, frei verfügbare Zeit sowie eine ausreichende Bevölkerungsgröße vorhanden sein. „Spezialisierung aller gesellschaftlichen Bereiche in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften zieht auch eine Spezialisierung von Bedürfnissen und Geschmacksrichtungen nach sich, eben auch und gerade in den für diese Gesellschaften ungemein wichtigen Bereichen Kommunikation und Information. Spezialisierung der Medien kann dabei per Medien-Einheit (Beispiel: die Hörfunkentwicklung in den USA zu E-Musik- sowie Pop-Stationen) oder innerhalb der Medien (Beispiel: Zielgruppenprogramme beim Fernsehen) erfolgen“ (Kiefer 1982: 14); „vom broadcasting zum narrowcasting” sozusagen (Schulz 2011: 131). Die von Kiefer (1982) vorgelegte Trendanalyse (die Mediennutzungsdaten seit 1964 verwendete) deutete damals schon darauf hin, dass sich dieser Trend auch in Deutschland auszubreiten begann.
Diese Entwicklung hat sich mittlerweile vollzogen.1 Man könnte also argumentieren, Zielgruppenkommunikation wäre der angemessene Nachfolge-Terminus für Massenkommunikation, letzterer sollte daher aus der Fachsprache eliminiert werden.
Ich halte das allerdings für wenig sinnvoll. Abgesehen davon, dass die Bezeichnung Massenkommunikation bis in die Alltagssprache hinein gebräuchlich ist und wohl nur schwer durch ein anderes Wort ersetzt werden kann, gibt es weitaus gewichtigere inhaltliche Gründe, die dagegen sprechen, den Terminus Massenkommunikation auf die begriffliche Müllhalde zu verbannen. Die beiden Wortbestandteile verweisen nämlich auf strukturelle Grundmuster eines Prozesses, der keineswegs als überholt zu begreifen ist – wenn man ihn nur angemessen interpretiert. Auf dieser Grundlage sowie unter Bezugnahme auf aktuelle empirische Daten lässt sich nämlich begründet vermuten, dass das, was Massenkommunikation im Kern meint, entgegen manch vorschneller (Fehl-)Diagnosen wohl noch lange nicht verschwinden wird.
Doch der Reihe nach: Zunächst muss es darum gehen, den „klassischen“ Begriff der Massenkommunikation überhaupt zu verstehen, der für die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts so charakteristisch war, wie kaum ein anderer.
5.1 Massenkommunikation: Zur Klärung eines Begriffes
Der angloamerikanische Terminus mass communication taucht erstmals Ende der 1920er Jahre in den USA auf.2 Mit mass communication war übrigens seinerzeit immer ausdrücklich der Rundfunk gemeint, „weil Rundfunk als Instrument individueller drahtloser Kommunikation im Schiffsverkehr, in der Wirtschaft und beim Militär eingeführt wurde. Aus der Radiotelegraphie wurde dann ‚broadcasting’“ (Vowe 2013: 18). Weitere Bekanntheit erlangte der Begriff sodann ein Jahrzehnt später, als in den Jahren 1939/40 einschlägig interessierte Wissenschaftler zu regelmäßigen Sitzungen des sogenannten „Rockefeller Communication Seminar“ in New York zusammenkamen: Im monatlichen „Letter of Invitation“ war stets von mass communication die Rede (Rogers 1994: 222).
Rühl (2008: 173) vermutet also zu Recht, dass man „den Terminus mass communication ohne Beziehungen zu einem vorab konsentierten Kommunikationsverständnis“ eingeführt hat. Er ist daher als ein ursprünglich theoretisch völlig unbedarfter Begriff einzustufen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Wortkombination dann „in zahlreiche Sprachen übersetzt“ (ebd.). Der Terminus Massenkommunikation ist somit die mehr oder weniger unreflektierte Eindeutschung des angloamerikanischen mass communication. Von seiner Etymologie her schleppt der Begriff deshalb nichts von dem abendländischen Ballast mit, den die beiden Wortbestandteile in den Sprachräumen des europäischen Kontinents implizieren. Genau darin liegt jedoch eine nicht unwesentliche Ursache für Missverständnisse, die diese Bezeichnung bisweilen auszulösen imstande war und ist.
Die Masse im Begriff Massenkommunikation
So hatte der Wortbestandteil Masse seinerzeit die Vorstellung wachgerufen, man könne die Rezipient·innen massenmedial verbreiteter Aussagen mit einer Masse gleichsetzen, wie sie etwa der französische Arzt Gustave Le Bon (1895) kulturpessimistisch-pejorativ als soziales Aggregat beschrieben hat, das sich auf niedrigem intellektuellem Niveau nach einem (Ver-)Führer sehnt. Man assoziierte kulturkritische Begriffe wie „Massenmensch“, „Vermassung“ oder „Massengesellschaft“, die von den Apologeten der späteren Massenpsychologie in der Nachfolge Ortega y Gassets (1930) vertreten wurden. Auch in den USA hatte Ende der 1920er Jahre übrigens der Begriff mass society Konjunktur: Mit dieser Massengesellschaft verband man die „oft unbesehen übernommene Behauptung, mit fortschreitender Industrialisierung weise die große Majorität der Menschen – der dann eine kleine ‚Elite’ gegenübersteht – bestimmte Veränderungen auf, die schließlich zum ‚Massenmenschen’ im ‚Massenzeitalter’ führen“ (Maletzke 1963: 25).
Der semantische Kern dieser Massengesellschaft war die Vorstellung einer Gleichförmigkeit der Menschen in ihren Wahrnehmungen, Einstellungen, Motiven und Verhaltensweisen (Vowe 2013: 20 ff.). Als charakteristisch für diesen Massenmenschen galten seine Persönlichkeitsverarmung, die Nivellierung seiner Denkweise, seines Geschmacks und Lebensstils sowie das Schwinden von persönlicher Selbständigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Initiative. All dies hätte letztlich zu einer Massengesellschaft geführt, in der die – durch massenmedial verbreitete Propaganda bzw. Werbung gesteuerte – öffentliche Meinung das Denken und Handeln des Einzelnen bestimmt (Maletzke 1963: 26). Obwohl die „Massenpsychologie wissenschaftlich bereits abgewirtschaftet hatte“ (Rühl 2008: 174), wirkte die Idee von der Massengesellschaft jahrzehntelang in die (Massen-)Kommunikationswissenschaft hinein (Vowe 2013: 23). Vowe sieht die bis heute anzutreffende „Vorstellung von universalen, linearen, starken Wirkungen medialer Impulse“ (ebd.) diesem Massenparadigma geschuldet.
Der Wortbestandteil Masse im Terminus Massenkommunikation will allerdings weder massenpsychologische noch kulturkritische Assoziationen wecken. Gemeint war (und ist) damit lediglich, dass man sich mit den zu vermittelnden Aussagen an eine Vielzahl von Menschen richten kann (Schulz 1971: 93), die sich für die jeweiligen Kommunikator·innen – wie es Wright (1963: 11 ff.) seinerzeit auf den Punkt brachte – als unüberschaubar, heterogen und anonym darstellt:
–Unüberschaubar, weil sie zahlenmäßig über eine Größe verfügt, die eine direkte Interaktion (von Angesicht zu Angesicht) zwischen Kommunikator·innen und Rezipient·innen unmöglich macht,
–heterogen, weil diese Menschen eine Vielzahl sozialer Positionen bekleiden und den Aussagen daher aus verschiedenen Rollen heraus (d. h. mit unterschiedlichen Erwartungen) Aufmerksamkeit schenken. Und schließlich
–anonym, weil die konkreten Personen, die sich den Aussagen zuwenden, den jeweiligen Kommunikator·innen unbekannt sind.
Hat man also die Gesamtheit jener Menschen im Auge, die man via Massenkommunikation erreicht, so scheint es in der Tat angemessener zu sein, anstatt von „Masse“ hier (mit Gerhard Maletzke 1963: 28 f.) von einem Publikum zu sprechen. Dabei denkt man zunächst wahrscheinlich an ein Präsenzpublikum: Es entsteht, wenn Menschen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort anwesend (präsent) sind und eine Aussage oder Darbietung auf sich einwirken lassen (wie z. B. ein Theaterstück, einen Vortrag, ein Konzert, eine Kundgebung etc.). Maletzke führte deshalb den Terminus disperses Publikum ein und fokussiert damit auf Individuen, aber auch kleine Gruppen, deren verbindendes Charakteristikum v. a. darin besteht, dass sie sich Aussagen der Massenmedien zuwenden.
Disperse Publika sind keine überdauernden, sondern flüchtige soziale Gebilde, sie entstehen immer nur „von Fall zu Fall dadurch, dass sich eine Anzahl von Menschen einer Aussage der Massenkommunikation zuwendet“ (Maletzke 1963: 28). Zwischen den Mitgliedern eines derartigen dispersen Publikums existieren in der Regel keine direkten zwischenmenschlichen Beziehungen, denn üblicherweise sind die Rezipient·innen (oder Rezipient·innen-Gruppen) räumlich voneinander getrennt, gegenseitig anonym und wissen lediglich, dass außer ihnen noch zahlreiche andere Menschen dieselbe Aussage aufnehmen (ebd.: 29).
Schließlich sind disperse Publika noch vielschichtig inhomogen, d. h., sie umfassen Personen, die aus verschiedenen sozialen Schichten stammen, deren Interessen, Einstellungen, deren Lebens- und Erlebensweise oft sehr weit voneinander abweichen, überdies sind sie unstrukturiert und unorganisiert: Ein disperses Publikum „weist keine Rollenspezialisierung auf und hat keine Sitte und Tradition, keine Verhaltensregeln und Riten und keine Institutionen“ (Maletzke ebd.: 30). Damit ist klargestellt: Der Wortbestandteil „Masse“ im Terminus Massenkommunikation ist im Sinn des dispersen Publikums zu verstehen.
Kommunikation kann allerdings nicht ohne ein Medium stattfinden – dies wurde bereits weiter oben (Kap. 2.4) herausgearbeitet. Daher gilt hier, dass ein Massenmedium nötig ist, damit Massenkommunikation stattfinden kann. Der Soziologe Alphons Silbermann hat Massenmedien seinerzeit treffend als „Techniken der Kollektivverbreitung“ (1969: 673) bezeichnet, die Aussagen via Schrift, Bild und/oder Ton, optisch bzw. akustisch (audiovisuell) an eine unbestimmte Vielzahl von Menschen vermitteln (ähnlich bereits: Maletzke 1963: 36). Zu diesen Massenmedien zählen: Flugblatt/Flyer, Plakat, Presse, Buch, Hörfunk, Fernsehen, Film, heute auch Websites sowie potenziell alle Speichertechniken analoger (Bild, Tonband/Musik-/ Videokassette, Schallplatte) oder digitaler (CD/DVD, Festplatten/Speicherkarten) Natur. Potenziell meint: Sie sind nur dann als Massenmedien zu begreifen, wenn sie – und das ist der entscheidende Punkt(!) – zur öffentlichen Verbreitung von Aussagen eingesetzt werden. Denn nach wie vor gilt das, was bereits oben (Kap. 2.4) – im Kontext des publizistischen Medienbegriffes (nach Ulrich Saxer) – festgestellt worden ist: Man greift zu kurz, wenn man allein die Technizität des Mediums als ausreichendes Definiens für das Definiendum Massenmedium begreift.
So ist ein als Privatdruck (d. h. für einen genau definierten Empfänger·innenkreis) produziertes Buch ebenso wenig ein Massenmedium, wie eine gedruckte Einladung, die im Verwandten- und Freundeskreis versendet wird. Auch die Hörfunk- und Fernsehtechnik kann man für vielerlei Zwecke einsetzen: etwa für den Küstenfunk, in der Militärüberwachung, zur Beobachtung des Straßenverkehrs, zur Überwachung von Kaufhausabteilungen oder auch zu Lehrzwecken – aber in all diesen Fällen fungieren diese Medien nicht als Massenmedien, weil die Aussagen (bzw. Inhalte) nicht öffentlich, an eine unbegrenzte Vielzahl von Menschen, sondern privat an einen relativ eindeutig definierbaren Empfänger·innenkreis vermittelt werden.
Anlass zu ähnlichen Unklarheiten im Begriff Massenkommunikation gibt freilich auch der Wortbestandteil Kommunikation. Hier ist v. a. danach zu fragen, ob (und wenn ja: inwieweit) der im Rahmen dieses Buches entwickelte Kommunikationsbegriff mit dem begrifflichen Inhalt von Massenkommunikation in Einklang gebracht werden kann.
Kommunikation im Begriff Massenkommunikation
So wie die ursprüngliche Form der interpersonalen Kommunikation eine unmittelbare, direkte (face-to-face) Begegnung zwischen den Kommunikationspartner·innen darstellt, so ist im typischen Modus der Massenkommunikation eine räumliche Distanz (z. B. bei Live-Übertragungen), in der Regel sogar eine raum-zeitliche Trennung zwischen Kommunikator(en) und Rezipienten vorhanden: das Plakat, der Flyer, das Buch, die Zeitung, die Hörfunk- oder Fernsehsendung, der Film oder auch ein Web-Auftritt werden in der Regel an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit rezipiert, als sie produziert worden sind. In seiner „klassischen“ Begriffsbestimmung typisiert Maletzke (1963: 21 f.) die Massenkommunikation daher als indirekte Kommunikation.
Außerdem hat man es in der Massenkommunikation üblicherweise mit einer Polarisierung der kommunikativen Rollen zu tun: Es fehlt der für die direkte zwischenmenschliche Begegnung so typische, gegenseitige Rollentausch zwischen den Kommunikationspartner·innen, eine unmittelbare Rückkoppelung zwischen Kommunikator·innen und Rezipient·innen ist demnach nicht gegeben. Seit Maletzke (ebd.) gilt Massenkommunikation daher auch als einseitige Kommunikation.
Fraglos ist dieses Merkmal der Einseitigkeit in vielen Fällen, in denen Massenkommunikation heute längst via Internet und damit computervermittelt stattfindet, „durchbrochen“, es trifft „nicht mehr uneingeschränkt zu“ wie Heinz Pürer (2014: 78) zu Recht konstatiert: Von Leser·innen (User·innen) gepostete Kommentare auf online publizierte journalistische Artikel sind zweifelsfrei (indirekte) Rückkoppelungen zwischen Kommunikator·innen und Rezipient·innen, die den traditionellen Leserbrief (Heupel 2007, Mlitz 2008) oder auch die Möglichkeit, sich in Phone-In-Sendungen zu Wort zu melden (Wulff 1998), ziemlich alt aussehen lassen. Onlinemedien können zudem ihr digitales Angebot jederzeit aktualisieren, allenfalls auf E-Mails, Posts, Tweets u. Ä. reagieren etc. (Pürer 2014: 280 ff.).3
Dennoch: Aller Dialog- und Interaktivitätseuphorie4 zum Trotz verbleiben die tatsächlichen Aktivitäten im „Mitmachnetz“ bislang auf „niedrigem Niveau“ (Busemann/Gscheidle 2011). Die herkömmliche einseitige Massenkommunikation hat zwar durch Social Media und Co. längst ihr Alleinstellungsmerkmal verloren, aber von einer Abwendung des Publikums kann keine Rede sein. Zwar sehen junge Menschen seit 2015 tendenziell weniger fern, aber die (einseitige) Bewegtbildnutzung nimmt zu (bedingt durch Streamingangebote) und auch mit linearem Fernsehen verbringen die 14- bis 29-Jähringen noch fast eine ganze Stunde täglich (Breunig/Handel/Kessler 2020: 419). Man kann also auch im dritten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends noch davon ausgehen, dass die einseitige Massenkommunikation kein Schattendasein führt.
Schließlich ist noch der Personenkreis, an den die Aussagen gerichtet sind, weder eindeutig festgelegt noch (quantitativ) begrenzt. Im Gegensatz zu privater Kommunikation, die sich an einen relativ eindeutig definierbaren Empfänger·innenkreis richtet, handelt es sich bei Massenkommunikation grundsätzlich um öffentliche Kommunikation, denn die Kommunikator·innen wissen nicht, wie viele Menschen sie mit ihren Botschaften tatsächlich erreichen (Pfetsch/Bossert 2013: 248). Diese „prinzipielle Unabgeschlossenheit des Publikums“ (Habermas 1990: 98) ist typisch für die Massenkommunikation.
Man kann daher auch noch zu Beginn des dritten Jahrtausends, im Sinn der längst „klassischen“ Definition von Maletzke (1963: 32)
Massenkommunikation als einen Prozess begreifen, bei dem Aussagen öffentlich (d. h. ohne begrenzten oder personell definierten Empfänger·innenkreis), indirekt (d. h. bei räumlicher oder zeitlicher oder raum-zeitlicher Distanz zwischen den Kommunikationspartner·innen) und (in der Regel) einseitig (d. h. ohne Rollenwechsel zwischen Kommunikator·in und Rezipient·in), durch technische Verbreitungsmittel (nämlich: Massenmedien) an ein disperses Publikum vermittelt werden.
Soweit die Klassifikation des Massenkommunikationsprozesses nach den beobachtbaren, mehr oder weniger formalen Kennzeichen des Kommunikationsgeschehens. Wie verhält es sich aber, wenn man die oben, handlungstheoretisch (im Anschluss an Max Weber) hergeleiteten Interessen und Ziele der in den Kommunikationsprozess involvierten Personen mitdenkt, wenn man also auch Massenkommunikation als eine Form sozialen Handelns begreift?
Massenkommunikation und soziales Handeln
Schon sehr früh wurde hervorgehoben, dass es sich beim Massenkommunikationsprozess um einen Vorgang handelt, „in dem spezielle soziale Gruppen technische Einrichtungen anwenden, um einer großen, heterogenen und weitverstreuten Zahl von Menschen symbolische Gehalte zu vermitteln“ (Janowitz/Schulze 1960: 1). Es erscheint somit durchaus angemessen, diese sozialen Gruppen bzw. deren Mitglieder als „Kommunikator·innen“ und deren Aktivitäten als „kommunikatives Handeln“ zu begreifen – ganz im Sinn des Begriffsverständnisses, wie es im Kap. 2 dieses Buches entwickelt worden ist.
Man kann freilich diese Angemessenheit grundsätzlich infrage stellen, wie das schon vor vielen Jahren z. B. der Soziologe Janpeter Kob prononciert getan hat, für den im Phänomen der „Massenpublizistik“ nur „sehr verkrampft […] eine Art von Kommunikation“ (Kob 1978: 393) zu erkennen war. Kob sprach in diesem Zusammenhang sogar von einem „Kommunikationsmythos“ (1979: 4973), der sich nicht zuletzt infolge der Bezeichnung „Massenkommunikation“ eingebürgert habe: In Wahrheit werde hier nämlich „nicht zwischen irgendwelchen Personen kommuniziert, sondern es werden – mit den unterschiedlichsten Intentionen – publizistische Produkte genutzt“ (ebd.: 4976).5 Schließlich sei auch die Merkmalsbestimmung „einseitige Kommunikation“ (als deren Folge sich erst das „disperse Publikum“ ergebe, weil man eben nicht wisse, mit wem man kommuniziere) eine typische Contradictio in adjecto: „Einseitig kann keine Kommunikation sein, selbst die schlichteste Vorstellung von ihr muss Wechselseitigkeit implizieren“ (ebd.) und deshalb handle es sich bei Massenkommunikation eben nicht um Kommunikation.
Hier übersieht Kob allerdings, dass Maletzke mit „einseitiger“ Kommunikation lediglich auf die Polarisierung der kommunikativen Rollen hinweisen wollte, wie sie z. B. auch im Rahmen einer Kommunikation via Brief oder auch während eines Vortrags stattfindet. Die von Kob (zu Recht) vertretene Ansicht von der unbedingten Wechselseitigkeit jeder Kommunikation bezieht sich dagegen auf das im vorliegenden Buch mit implizite Reziprozität bezeichnete Merkmal von Kommunikation. Danach kann erfolgreiche Bedeutungsvermittlung (also: gelungene Kommunikation bzw. Verständigung) nur dann zustande kommen, wenn einer Mitteilungs-Handlung seitens des·der Kommunikator·in auch eine Verstehens-Handlung seitens der Rezipient·innen entspricht. Dieses kommunikative Handeln auf beiden Seiten muss aber nicht unbedingt mit einem Rollenwechsel (bei Maletzke: mit gegenseitiger Kommunikation) verbunden sein.
Als Zwischenbilanz der Begriffserklärung von Massenkommunikation lässt sich somit festhalten:
Die mit Hilfe technischer Verbreitungsmittel vorgenommene Vermittlung von Aussagen an disperse Publika ist zweifellos ein kommunikatives – d. h. auf Verständigung hin angelegtes – Geschehen, das jedoch nicht generell a priori (also bevor es stattfindet) und auch nicht in jedem Fall ex post (nachdem es stattgefunden hat) als „Kommunikation“ begriffen werden kann und soll. Dennoch: Die Chance, dass eine – auf Basis der impliziten Reziprozität kommunikativer Handlungen angestrebte – Verständigung zwischen einem·einer Kommunikator·in und wenigstens einem Teil des dispersen Publikums tatsächlich zustande kommt, ist in der Regel vorhanden.
Der Prozess der Massenkommunikation kann somit sehr wohl als ein grundsätzlich kommunikatives Geschehen verstanden werden, in dem Kommunikation auch tatsächlich gelingen kann, aber nicht notwendigerweise gelingen muss.
Was nun die spezielle Intention kommunikativen Handelns (also: das Interesse des jeweils Handelnden) sowie das variable Ziel (die Realisierung seines jeweiligen Interesses) betrifft, so scheint hier eine weitere Besonderheit massenmedial verbreiteten kommunikativen Handelns vorzuliegen: Man kann eine Übergewichtung des „situationsbezogenen“ Interesses6 unterstellen. Ich würde sogar die These vertreten, dass bei (vielen) öffentlichen Aussagen das inhaltsbezogene Interesse von einem bestimmten situationsbezogenen Interesse überlagert, wenn nicht sogar dominiert wird.
Publizität meint (im Anschluss an Groth 1960) „die grundsätzliche Zugänglichkeit der Aussage für jedermann“ (Merten 1999: 147). Publizität ist die unumstößliche Konsequenz der Veröffentlichung einer Aussage via Massenkommunikation. Im Prinzip kann dann jeder von der vermittelten Botschaft wissen, niemand ist vom Empfang des Inhalts ausgeschlossen (Groth 1998: 49 ff.).7
Das bedeutet im Klartext: Diejenigen, deren kommunikatives Handeln infolge seiner massenmedialen Verbreitung öffentlichen Charakter gewinnt, schöpfen bereits aus dem Umstand, dass sie mit ihren Äußerungen öffentliche Präsenz gewinnen, eine zentrale Motivation zur Produktion von Aussagen. Damit soll keineswegs die Existenz eines „inhaltsbezogenen“ Interesses öffentlicher kommunikativer Handlungen geleugnet werden. Der Hinweis auf die Übergewichtung dieses speziellen „situationsbezogenen“ Interesses deutet vielmehr auf eine grundsätzlich neue Qualität kommunikativen Handelns hin, die dieses erst durch seinen öffentlichen Charakter gewinnt.
Dazu sei abermals auf Kob verwiesen, der in diesem Zusammenhang von der „Attraktion der Publizität“ (1978: 394) spricht. Publizität stellt für ihn nicht nur einen elementaren Anlass für öffentlich-kommunikatives Handeln dar, er sieht darin auch eine zentrale Motivation der Zuwendung seitens derer, die diese veröffentlichten Aussagen rezipieren. Für beide Seiten (Kommunikator·innen wie Rezipient·innen) sei es nämlich vorrangig diese Attraktion der Publizität, die sie zum Handeln bringt. Kob unterscheidet verschiedene Interessen, die hier im Spiel sind:
•Das Interesse an eigener Publizität.
Öffentliche Präsenz ist heute längst für alle möglichen Organisationen und Institutionen sowie diverse Personengruppen – ob aus Politik, Wirtschaft oder Kultur (Kunst, Wissenschaft) – existenznotwendig geworden.8 Publizität via Massenkommunikation ist nach wie vor ein probates Mittel, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen.
•Das Interesse zu publizieren.
Damit meint Kob das Interesse (z. B. von professionellen Journalist·innen), Tatbestände, Ereignisse, Personen, Ideen etc. (also: materielle und geistige Produkte) öffentlich – und damit potentiell jedermann – zugänglich zu machen.
•Das Interesse des Publikums am publik Gemachten.
Wie bereits erwähnt, ist auch für die Rezipient·innen der „publizistische Charakter“ solcher öffentlichen (genauer: veröffentlichten) Produkte vielfach der eigentliche Anlass, sich den Medien zuzuwenden. Man nimmt „Erscheinungen wahr, von denen man weiß, dass gewichtige soziale Institutionen sie für allgemein relevant halten und dass gleichzeitig eine Unzahl anderer Menschen in der weiteren und näheren Umwelt ebenfalls auf sie aufmerksam sind. Der publizistische Charakter dieser Produkte hebt sie für den Rezipienten eben über den Bedeutungshorizont beliebiger sonstiger menschlicher Äußerungen hinaus, denen er alltäglich begegnet, denn damit signalisieren sie ihm gesellschaftlich sehr generelle Aufmerksamkeitsschwerpunkte“ (Kob ebd.: 395).
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass „Publizität als Vermittlung von Politik und Moral“ (Habermas 1990: 178) bereits im Jahre 1796 von niemand Geringerem als dem deutschen Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant (1724–1804) eingeführt wurde. Nach Kants Auffassung sollte das Prinzip der Publizität den·die Gesetzgeber·in sowohl beim Prozess der Gesetzgebung, als auch bei „der nachträglichen Beurteilung der Rechtmäßigkeit politischer Entscheidungen“ (Rühl 1999: 126) leiten. In den Worten Kants: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime9 sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht“ (Kant 1968: B 98–99; zit. n. Rühl: ebd.).
Erstes Fazit: Massenkommunikation ist öffentlich – und potenziell auch Kommunikation
Als Ergebnis der hier diskutierten Begriffsbestimmung lässt sich nun formulieren:
Massenkommunikation ist ein via Massenmedien organisierter öffentlicher, indirekter (in der Regel) einseitiger aber dennoch grundsätzlich kommunikativer Prozess, in dem die Chance auf gelingende Kommunikation (wie sie in diesem Buch definiert worden ist) durchaus besteht.
Abseits inhaltlicher Zielsetzungen sind die kommunikativen Handlungen (sowohl auf der Kommunikator·innen- als auch auf der Rezipient·innenseite) zudem von einem speziellen Interesse her motiviert: von der Attraktivität der Publizität.
5.2 Massenkommunikation, Öffentlichkeit und Internet
Diese Publizität zu erzeugen, ist eine fundamentale Leistung der publizistischen Medien10. Publizistik11 „stellt Öffentlichkeit für Personen und Sachverhalte her und macht diese bekannt“ (Saxer 2002: 3). Gegen den (älteren) Begriff Publizität, der ursprünglich mit der (im Rahmen der Französischen Revolution) erkämpften Presse- und Meinungsfreiheit im nachabsolutistischen Staat verbunden war, hat sich nach und nach der modernere Begriff der Öffentlichkeit durchgesetzt (vgl. Rühl 1999: 125 ff.). Kommunikation, die in der Öffentlichkeit stattfindet, ist daher auch ein zentraler Fokus der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Was versteht man aber genau unter Öffentlichkeit, wofür ist sie wichtig und wie entsteht sie heute? Der Terminus öffentlich wird im deutschen Sprachraum in der Regel als Gegensatz zu privat verwendet. Diese Unterscheidung ist tief im abendländischen Denken verankert (Peters 1994, Weintraub 1997) und gilt als „fundamental für moderne, liberale politische und rechtliche Ordnungen“ (Peters 1994: 43). Nicht zufällig wird privat auch mit Etikettierungen wie vertraulich und geheim verbunden, denn es geht um eine soziale „Grenzziehung im Bereich von Kommunikation und Wissen“ (ebd.).
Mit Privatheit ist derjenige Bereich gemeint, in dem Menschen ihren natürlichen Affekten (v. a. innerhalb der familiären Intimsphäre) „und ihren privaten Geschäften (Markt) nachgehen“ (Imhof 2003: 193). Private, vertrauliche oder geheime Aktivitäten geschehen abgeschirmt „gegenüber Beobachtung oder Kenntnis von Unbefugten“ (Peters 1994: 44) und gelten als legitim (wie z. B. das Brief- oder das Geschäftsgeheimnis). Sogar in modernen Demokratien, die vielfach auf Transparenz setzen, werden Ausnahmen (wie Staatsgeheimnisse oder Beratungen hinter verschlossenen Türen) weithin anerkannt (ebd.).
Öffentlich nennen wir dagegen Plätze, Häuser oder „Veranstaltungen, wenn sie, im Gegensatz zu geschlossenen Gesellschaften, allen zugänglich sind“ (Habermas 1990: 54). Diese Zugänglichkeit impliziert Situationen, in denen man auch mit „der grundsätzlichen Beobachtbarkeit von allem durch alle“ (Merten 1999: 217) rechnen muss – eben „im Sinne von nicht mehr geheim“ (ebd.: 219). Als öffentlich gilt schon seit jeher das, was „der Wahrnehmung jedes Menschen zugänglich“ (Pöttker 2010: 110) ist.
Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive kann man unter Öffentlichkeit „ein offenes Kommunikationsforum für alle, die etwas sagen oder das, was andere sagen, hören wollen“ (Neidhardt 1994: 7) verstehen. Im deutschen Sprachraum ist die Bedeutung des Begriffs Öffentlichkeit eng mit der Rede-, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit verbunden, wie sie vom liberalen Bürgertum des 18. Jahrhunderts als Prinzip gegenüber dem absolutistischen Staat angestrebt wurde (Donges/Jarren 2017: 75). In einer Zeit, als das (vom jeweiligen Monarchen) zu gewährende Druck-Privileg und die Zensur repressive Instrumente absolutistischer Kommunikationspolitik waren (ausführlich dazu: Duchkowitsch 2014)12.
Öffentlichkeit „lässt sich am ehesten als ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen“ (Habermas 1992: 436) beschreiben, deren politische Funktion darin besteht, „gesamtgesellschaftliche Probleme wahrzunehmen und zu thematisieren“(ebd.: 441). Kennzeichnend für die politische Öffentlichkeit in modernen, demokratisch organisierten Gesellschaften ist eine Vielzahl an Kommunikationsforen mit prinzipiell offenem Zugang (d. h. ohne Bedingungen einer Mitgliedschaft), in denen sich verschiedene Akteure vor einem breiten Publikum zu verschiedenen politischen Themen äußern können (Gerhards 2002: 694).
Formal betrachtet, entsteht Öffentlichkeit „dort, wo ein Sprecher vor einem Publikum kommuniziert, dessen Grenzen er nicht bestimmen kann“ (Neidhardt 1994: 10). In den modernen Mediengesellschaften (Saxer 2012a) gilt dies in erster Linie für die Kommunikation via Massenmedien, die gleichsam einen allgemein zugänglichen (virtuellen) öffentlichen Raum herstellen, in dem sich verschiedene Gruppen um die Aufmerksamkeit der Bürger bemühen. Mit Blick auf Politik und Wirtschaft geht es freilich auch um die Beeinflussung des Wahl- sowie des Kaufverhaltens.
Der Soziologe Friedhelm Neidhardt (1994) hat gegen Ende des 20. Jhdts. eine vielzitierte Definition formuliert, die etwas später im Team (zwecks empirischer Umsetzung) zwar elaborierter, aber dennoch um wesentliche Aspekte verkürzt, publiziert worden ist (Gerhards/Neidhardt/Rucht 1998). Deshalb seien hier beide Versionen wiedergegeben:
Version1:
„Moderne Öffentlichkeit ist ein relativ frei zugängliches Kommunikationsfeld, in dem ‚Sprecher’ mit bestimmten Thematisierungs- und Überzeugungstechniken versuchen, über die Vermittlung von ‚Kommunikateuren’ bei einem ‚Publikum’ Aufmerksamkeit und Zustimmung für bestimmte Themen und Meinungen zu finden“ (Neidhardt 1994:7).
Version 2:
„Öffentlichkeit ist ein im Prinzip frei zugängliches Kommunikationsforum, für alle, die etwas mitteilen, oder das, was andere mitteilen, wahrnehmen wollen. In den Arenen dieses Forums befinden sich die Öffentlichkeitsakteure, die zu bestimmten Themen Meinungen von sich geben oder weitertragen: einerseits das Ensemble der Sprecher (z. B. Politiker, Experten, Intellektuelle, der ‚Mann auf der Straße‘ als ‚Augenzeuge‘), andererseits die Medien (also vor allem die Journalist·innen). Auf der Galerie des Öffentlichkeitsforums versammelt sich eine mehr oder weniger große Zahl von Beobachtern: das Publikum (Zuschauer, Hörer, Leser)“ (Gerhards/Neidhardt/Rucht 1998: 38).
Was an diesen Definitionen bzw. an diesem Verständnis von Öffentlichkeit wichtig ist:
•Zunächst, dass reale Öffentlichkeit nur als relativ frei oder als im Prinzip frei zugänglicher Kommunikationsraum begriffen werden kann. Abseits der idealtypischen normativen Vorstellung von Öffentlichkeit (vgl. Peters 1994) als einer für alle zugänglichen Sphäre, verfügen in konkreten Situationen aus verschiedenen (materiellen, physischen, psychischen, sozialen oder temporären) Gründen naturgemäß niemals wirklich „alle Individuen“ (auch nicht alle, die vom jeweiligen Thema betroffen sind) über die gleichen Teilnahmechancen. Heute wird mit dem Begriff „Öffentlichkeit“ daher in der Regel ein bestimmter Kreis von Personen gemeint, „die Zugang zu Informationen haben, über die sie ohne (oder nur unter geringen) Beschränkungen miteinander kommunizieren können“ (Pöttker 2013: 252).
•Außerdem wird deutlich, dass Öffentlichkeit in der Regel nicht zufällig, sondern anlassbezogen entsteht. Sie wird vielfach unter „Konkurrenzdruck“ (Neidhardt 1994: 17) von verschiedenen Akteuren regelrecht hergestellt. Diese Akteure verfolgen jeweils spezifische Interessen: Sie wollen Aufmerksamkeit für ihre Themen erzeugen, eventuell auch Zustimmung für ihre Meinungen finden und versuchen daher, ihre Beiträge an ein großes Publikum zu vermitteln (vgl. ebd.).
•Sodann weist die Definition darauf hin, dass sich im Kommunikationssystem Öffentlichkeit unterschiedliche Akteursgruppen herausbilden. Es kommt demnach zu einer Rollenverteilung:13 sogenannte Sprecher·innen und Hörer·innen (in ihrer Vielzahl: das Publikum) sowie – gleichsam als Bindeglied zwischen Sprecher·innen und Publikum – die Vermittler (Kommunikateure) in Gestalt von professionellen Journalist·innen, die in den Redaktionen von Massenmedien arbeiten.
Sprecher·innen können in verschiedenen Rollen auftreten (Donges/Jarren, 2017: 86 ff., Peters 1994: 57 ff., Pfetsch/Bossert 2013): Als Repräsentant·innen sozialer Gruppierungen (Interessenverbände, politische Parteien oder andere Organisationen sowie Betroffene/Involvierte), als Expert·innen (Spezialist·innen aus diversen Professionen oder Wissenschaften), als Advokat·innen (die anstelle von Betroffenen deren Situation artikulieren) als öffentliche Intellektuelle (wie Literat·innen, Künstler·innen oder Wissenschaftler·innen), die sich kraft ihrer Reputation als „Zeitdeuter“ (Peters 1994: 58) äußern oder auch als Kommentator·innen (z. B. Journalist·innen, die nicht bloß berichten, sondern auch Meinungen äußern).
Der schon seinerzeit diagnostizierte Trend in der Politik, wonach „die etablierten Sprecher ihre ‚Public Relations’ professionalisieren und damit zu eigenständigen Öffentlichkeitsgrößen werden“ (Neidhardt 1994: 36) hat sich inzwischen im Rahmen einer umfassenden Kommunifizierung (Langenbucher 1983, Plasser 1985, Vowe/Opitz 2006) und Medialisierung (Donges 2008, Marcinkowski/Steiner 2010, Saxer 2012a: 25 ff., Schulz 2011: 30 ff.)14 nicht nur der Politik, sondern in praktisch allen Bereichen unserer Gesellschaft weitgehend etabliert.15
Als Vermittler·innen oder Kommunikateur·innen gelten sodann Journalist·innen, die innerhalb professioneller Medienorganisationen „auf Basis eines redaktionellen und publizistischen Programms“ (Donges/Jarren 2017: 87) tätig sind. Sie haben Kontakt zu den jeweiligen Sprecher·innen, holen Informationen ein, greifen Themen auf und kommentieren diese.
•Was schließlich die Hörer·innen und somit das Publikum als Adressaten der Botschaften betrifft, so hat man es hier vorwiegend mit Laien zu tun, bei denen für die meisten Themen sowohl die Aufmerksamkeit, als auch das Interesse zunächst einmal zu wecken ist. Die Sprecher·innen benötigen daher Thematisierungsstrategien, „um Aufmerksamkeit für bestimmte Themen zu erzielen und damit ein Publikum für diese Themen überhaupt erst zu konstituieren“ (Neidhardt 1994: 18) und sie benötigen Überzeugungsstrategien, „um Meinungen zu den Themen durchzusetzen, die auf der Agenda der Öffentlichkeit verhandelt werden“ (ebd.).
•Gut brauchbar scheint auch noch das Bild von der Arena (Hilgartner/Bosk 1988) zu sein. Auf den Plätzen für die Zuschauer·innen (sowie auf der Galerie) befinden sich (mehr oder weniger entfernt) die Beobachter·innen, d. h. das Publikum, um dessen Aufmerksamkeit (und Beeinflussung) die Akteure in der Arena buhlen. Man spricht heute allerdings von verschiedenen Arenen (z. B. von der parlamentarischen, administrativen, öffentlichen Arena), die jeweils „über bestimmte Problembearbeitungskapazitäten“ (Donges/Jarren 2017: 160) verfügen. Da kein direkter Kontakt zwischen (politischen) Akteuren und Zuschauer·innen stattfindet, die Beobachter·innen außerdem das Geschehen aus verschiedenen Distanzen und auch nur teilweise interessiert verfolgen, sind die (politischen) Akteure in der modernen Arena auf die Medien angewiesen. „Der Weg zu den Bürgern führt via Medien zum Medienpublikum. Und weil dem so ist, agieren politische Akteure in dieser Arena anders als in jenen Arenen, in denen Problemlösungen, die zumeist auf sachlichen Überlegungen basieren, ausgehandelt werden (müssen)“ (ebd.: 161).
Doch die Medienöffentlichkeit ist gleichsam die „Spitze des Eisbergs“ möglicher Öffentlichkeiten. Öffentliche Räume entstehen auch im Rahmen interpersonaler Kommunikationsprozesse (näher dazu: Wimmer 2007: 44 ff.). Habermas (1992) spricht von episodischen Kneipen-, Kaffeehaus- oder Straßenöffentlichkeiten, von veranstalteten Präsenzöffentlichkeiten (z. B. Theateraufführungen, Elternabenden, Rockkonzerten, Parteiversammlungen oder Kirchentagen) sowie von „der abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit von vereinzelten und global verstreuten Lesern, Zuhörern und Zuschauern“ (ebd.: 452).
In Anlehnung an Habermas unterscheiden Gerhards und Neidhardt (Gerhards/ Neidhardt 1990: 20, Neidhardt 1994) jeweils nach der Menge der Teilnehmer·innen und dem Grad der Strukturierung bzw. Rollendifferenzierung drei Ebenen von Öffentlichkeit: Eine Encounter-, eine Themen- oder Versammlungsöffentlichkeit und eine Medienöffentlichkeit. Zur Verdeutlichung eignet sich die Visualisierung in Form einer Pyramide.
Abb. 14: Ebenen der Öffentlichkeit (Donges/Jarren 2017: 86, eigene Darstellung)
–Die Basis der Pyramide stellt die Encounter-Ebene16 dar. Dabei geht es um mehr oder weniger spontane Zusammenkünfte (auf der Straße, am Arbeitsplatz oder im Wohnbereich) mit sehr geringer oder gar keiner Rollenverteilung: Jede·r Teilnehmer·in kann zugleich Sprecher·in und Teil des Publikums sein, die Rolle eines·einer Vermittler·in gibt es auf dieser Ebene noch nicht.
–Auf der zweiten, mittleren Ebene sind die Themen- oder Versammlungsöffentlichkeiten anzusiedeln. Dabei trifft man bereits auf „thematisch zentrierte Interaktions- und Handlungssysteme“ (Donges/Jarren 2017: 85) in Form von Demonstrationen und Veranstaltungen, die zwar auch noch spontan entstehen können, aber bereits eine (wenn auch noch flexible) Rollendifferenzierung (Sprecher·in, Vermittler·in, Publikum) aufweisen.
–An der Spitze der Pyramide befindet sich schließlich die Medienöffentlichkeit. Die Differenzierung in Akteurs- und Publikumsrollen ist hier stark ausgeprägt, das Publikum ist mehr oder weniger dauerhaft vorhanden und es bilden sich außerdem (überregionale) „Leitmedien“ (Jarren/Vogel 2011) heraus, die „eine führende Stellung einnehmen und Anschlusskommunikation ermöglichen“ (Donges/Jarren 2017: 86).
Die verschiedenen Öffentlichkeitsebenen markieren außerdem Stufen der Selektion, was das Themenspektrum betrifft: Auf der Encounter-Ebene ist noch eine Vielzahl an Themen vorhanden, nur ein Teil davon gelangt in die Themen- und Versammlungsöffentlichkeit. Auf der Ebene der Medienöffentlichkeit ist die ursprüngliche Zahl der Themen bereits sehr stark selektiert bzw. reduziert und damit am niedrigsten. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass eine (strukturelle) Differenz zwischen Realität und Medienrealität besteht (grundlegend dazu: Bentele 2008, Merten 2015 sowie Schulz 1989a).
Normative Ansprüche an politische Öffentlichkeit
Mit Neidhardt (1994) kann man Öffentlichkeit als ein Kommunikationssystem begreifen, „in dem Themen und Meinungen (A) gesammelt (Input), (B) verarbeitet (Throughput) und (C) weitergegeben (Output) werden (ebd.: 8). Mit Blick auf diese Prozessstufen lassen sich dann „normative Ansprüche auf drei Prinzipien und Funktionen politischer Öffentlichkeit“ (Neidhardt 1994: 8 f.; vgl. auch Donges/Jarren 2017: 77 ff., Pfetsch/Bossert 2013) unterscheiden:
Abb. 15: Politische Öffentlichkeit nach Neidhardt (eigene Darstellung)
•Das Prinzip Offenheit setzt beim erwähnten gesellschaftlichen Zugang zur öffentlichen Kommunikation an: Grundsätzlich darf es keine Zugangsbeschränkungen geben und alle Themen und Meinungen, die von kollektiver Bedeutung sind, sollen gesammelt und auch artikuliert werden können. Je offener dieses Kommunikationssystem ist, desto eher kann die daraus folgende Transparenzfunktion von Öffentlichkeit erfüllt werden. Für Habermas (1990) ist die „prinzipielle Unabgeschlossenheit des Publikums“ (ebd.: 98) und damit der für alle Bürger·innen offene Zugang zum Kommunikationssystem überhaupt eine conditio sine qua non: „Eine Öffentlichkeit, von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen wären, ist nicht etwa nur unvollständig, sie ist vielmehr gar keine Öffentlichkeit“ (ebd. 156). Neidhardt warnt allerdings vor dem Anspruch einer Maximierung der Transparenzleistung: „Für gutes Regieren ergibt sich […] auch ein gewisser Bedarf nach Intransparenz“ (Neidhardt 2006: 50)17.
•Das Prinzip Diskursivität bezieht sich auf die Verarbeitung dieser gesammelten Inputs, es geht also um die Qualität der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Themen und Meinungen: Standpunkte sollen angemessen begründet, also mit starken (lat.: validen) Argumenten abgesichert werden. Nur wenn dies beachtet wird, kann öffentliche Kommunikation ihre Validierungsfunktion erfüllen. Nach den (hehren) Ansprüchen von Habermas (1981: 385) ist sie allerdings erst dann erfüllt, „wenn die Handlungspläne der beteiligten Aktoren nicht über egozentrische Erfolgskalküle, sondern über Akte der Verständigung koordiniert werden.“
•Das Prinzip Überzeugung knüpft schließlich an der diskursiven Qualität der öffentlichen Kommunikation unmittelbar an: Jetzt geht es darum, dass die Mitglieder des Publikums mit den vermittelten Informationen auch etwas anfangen können. Gut begründete Standpunkte, so die Idee, können das Publikum überzeugen und zur Meinungsbildung beitragen. Dadurch leistet öffentliche Kommunikation ihre demokratisch notwendige Orientierungsfunktion.18
Insgesamt skizzieren diese Ansprüche freilich „ein idealisiertes normatives Modell von Öffentlichkeit“ (Peters 1994: 49).
Peters hat selbst (ebd.) ausführlich und systematisch dargestellt, welchen Einschränkungen Verständigung im Kontext massenmedialer Öffentlichkeit unterliegt: Dazu zählen „ungleiche Beteiligungschancen, Kapazitätsgrenzen, die zur Konzentration auf wenige Themen zwingen, die Diskontinuität der Berichterstattung und nichtdiskursive Kommunikationsstrategien“ (Neuberger 2007b: 156). Letztere sind nach Neuberger das Produkt einer speziellen Akteurskonstellation, in der Sprecher·innen eigentlich nicht miteinander kommunizieren, d. h. weniger auf die vorgebrachten Argumente eingehen, sondern eher „zum Fenster hinaus“ reden (ebd.), weil sie um die Gunst des Publikums wetteifern.
Gerade deshalb braucht es Journalist·innen, die sich als Diskursanwält·innen verstehen, die Argumente aufgreifen, Antworten kritisch hinterfragen und so der fehlenden Diskursivität entgegenwirken (vgl. dazu das Modell des diskursiven Journalismus – Kap. 8.5.6).
Dennoch sieht Peters (1994) in diesem normativen Öffentlichkeitsmodell ein „wichtiges Element der symbolischen Verfassung moderner Gesellschaften“ (ebd.: 49). Es fungiert als eine (demokratisch) wünschenswerte Zielorientierung und erlaubt dadurch, „einschneidende Beschränkungen“ (ebd.: 50) auf dem Weg dorthin aufzuspüren.19 Damit erfüllt es eine operative Funktion, die nicht unterschätzt werden sollte.
Mit Ulrich Saxer (2002, 2012a) kann man Gesellschaft (aus einer systemtheoretischen Perspektive) als eine Organisation aus Elementen begreifen, die aufeinander einwirken. Gesellschaft ist ein Großsystem, das aus unzähligen Teilsystemen besteht und „für seine Existenz auf ebenso zahllose Leistungen, Funktionen, dieser Teilsysteme angewiesen ist“ (Saxer 2002: 1). Die moderne Gesellschaft ist nach Saxer v. a. durch drei besonders wichtige und daher auch entsprechend große Teil- bzw. Funktionssysteme charakterisierbar, nämlich durch Politik, Wirtschaft und Kultur – mit jeweils unterschiedlichen funktionalen Zuständigkeiten:
•Im politischen System steht die Ausübung von Macht zur Steuerung der Gesellschaft im Mittelpunkt. Dazu bedarf es der Durchsetzung allgemein verbindlicher Entscheidungen.
•Das wirtschaftliche System reguliert die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. Dazu sind Marktgesetze und Wettbewerbsregeln nötig. Es geht um die Definition von Berufen, um die Festlegung von Warenmerkmalen sowie um „den Umgang mit Geld“ (Saxer 2012a: 68).
•Das kulturelle System ist schließlich mit den Institutionen Erziehung, Kunst und Religion für die gesellschaftliche Bereitstellung von Sinn zuständig.
Abb. 16: Welt-(Medien-)Gesellschaft als System (nach Saxer 2002 und 2012a: 67); eigene, leicht modifizierte Darstellung
Bei der Wahrnehmung dieser funktionalen Zuständigkeiten bedürfen die Funktionssysteme allerdings „der Publizität, die das Mediensystem zuteilt“ (Saxer 2012a: 67). Das Objekt des Mediensystems ist daher die Publizität, sie „begründet die gesellschaftliche Funktionalität von Medienkommunikation am unmittelbarsten, generiert Öffentlichkeit in großem Stil“ (Saxer 2012a: 255).
Saxer sieht diese Systeme eingebettet in eine Mediengesellschaft und meint damit Gesellschaften, in denen die „über technische Hilfsmittel realisierte Bedeutungsvermittlung“ (Saxer 1998: 53) zu einem „sozialen Totalphänomen“ (ebd.) geworden ist, das in vielen Teilen der Erde praktisch alle Sphären gesellschaftlicher Existenz durchdrungen hat. Deshalb gerät auch die Weltgesellschaft in den Blick, weil mit der Ausbreitung von Mediengesellschaften die „Beteiligung aller an einer gemeinsamen Realität“ (Luhmann 1981: 320) – oder besser: die „Erzeugung einer solchen Unterstellung“ (ebd.) – in greifbare Nähe rückt.20
Bis gegen Ende des 20. Jhdts. waren es allerdings vornehmlich Akteure aus der Gruppe der Sprecher·innen und der Vermittler·innen, (also in der Regel einschlägig professionell tätige Expert·innen wie Unternehmenssprecher·innen, Politiker·innen, Journalist·innen, Wissenschaftler·innen etc.) die sich via Massenkommunikation öffentlich äußern konnten, jedoch (abgesehen von Leserbriefschreiber·innen) kaum jemand aus der Gruppe des Publikums.
Doch dies ist längst anders. Das interessierte Publikum muss sich nicht mehr darauf beschränken, „am publik Gemachten“ (Kob 1978: 395) mehr oder weniger passiv teilzuhaben – im Gegenteil: Die Bedingungen der neuen Onlinekommunikation machen „öffentliche Aufmerksamkeit als Jedermannsgratifikation“ (Saxer 2012a: 219) möglich. Die technischen, ökonomischen, kognitiven und rechtlichen Barrieren für das Publizieren sind viel niedriger geworden, prinzipiell „kann nun jeder ohne allzu großen Aufwand publizieren“ (Neuberger 2008: 51). Wir scheinen also der Vision schon recht nahe gekommen zu sein, die der Dramatiker Bertold Brecht in den 1930er Jahren anlässlich der Ausbreitung des Radios in seinem „Vorschlag zur Umfunktionierung des Rundfunks“ äußerte:
„Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, d. h. er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen“ (Brecht 1931/32: 147).
Bald nach der Jahrtausendwende war die technische Entwicklung (bzw. Vernetzung) dann soweit, dass man sie auch begrifflich zuspitzen konnte. Der Medienwissenschaftler Axel Bruns (2008, 2009a) prägte die Wortkombination Produser (eingedeutscht: Produtzer – aus Produzent und Nutzer)21, mit der er die neuen Möglichkeiten der Online-Kommunikation im Social Web22 auf den Punkt brachte: Einerseits verweist der Terminus auf die Möglichkeit zur Herstellung gemeinsamer Inhalte „in einem vernetzten, partizipativen Umfeld“ (Bruns 2010: 199), zu denken ist beispielsweise an Open-Source-Software, Bürger·innenjournalismus, Wikipedia oder auch kreative Werke in Flickr, YouTube, Facebook, diversen Blogs etc. (ebd.: 201). Andererseits implizieren diese Möglichkeiten aber auch die Chancen, dass aktive Otto-Normal-Internetnutzer eine Produser-Rolle wahrnehmen können, wenn sie an verschiedenen Orten im Netz (sei es in Form von Posts auf journalistische Artikel, in Blogs, in Kommentarfeldern auf diversen Websites etc.) meinungsstark ihre Positionen äußern. Naturgemäß sind damit auch nicht unproblematische Auswüchse dieser Chancen verbunden, wie sie etwa unter dem Titel „Shitstorms“ (Folgar/Röttger 2015, Haarkötter 2016, Himmelreich/Einwiller 2015, Prinzing 2015) oder „Hass im Netz“ (Brodnig 2016) längst diskutiert und beforscht werden.
Für die hier im Mittelpunkt stehende Massenkommunikation bedeutet all dies unmissverständlich: Öffentlichkeit wird nicht mehr ausschließlich durch die traditionellen, publizistischen Medien hergestellt – wir müssen heute von zusätzlichen „Digitalen Öffentlichkeiten“ (Hahn/Hohlfeld/Knieper 2015) ausgehen, die im Internet zwar teilweise als erweiterte (Online-)Parallelwelten der publizistischen (Offline-)Medienmarken existieren (Puffer 2016), aber zusätzlich in einer längst unüberschaubar gewordenen Menge auch völlig andere Präsentationsformen und Inhalte zugänglich machen, als dies bei den publizistischen Medien der Fall ist.
Die öffentliche Sphäre des 20. Jahrhunderts hat sich im Rahmen der Digitalisierung23 und der damit verbundenen internetbasierten Innovationen seit dem Beginn des 3. Jahrtausends grundsätzlich verändert – eigentlich: revolutioniert. Revolutionär im technischen Sinn ist bzw. war dabei v. a. dreierlei:
1.Zuallererst das Internet bzw. das World Wide Web, das sich seit den 1990er Jahren weltweit schleichend verbreitet hat24 und eine Rückkanal-fähige Netzinfrastruktur entstehen ließ, die bis dahin für niemanden vorstellbar war.
2.Außerdem die sozialen Medien – als Sammelbezeichnung für die neuen, online-basierten Web-2.0-Plattformen (wie Facebook, YouTube, Twitter, Instagram, Snapchat, Blogs etc.), die erst durch die wachsende Netzinfrastruktur möglich geworden waren (Michelis/Schildhauer 2015), und
3.schließlich die kommunikative Mobilität, die seit der Erfindung des Smartphones (des internetfähigen Mobiltelefons mit umfangreichen Computerfunktionalitäten)25 üblich gewordene, nahezu raumzeitlich unabhängige und mobile Internetverbindung (Bächle/Thimm 2014).
All das zusammen hat nicht bloß die Möglichkeit eröffnet, online mit anderen zu interagieren – ein Umstand, der nach Münker (2015: 61) entscheidend für den Erfolg der sozialen Netzwerke ist. Mit dem praktisch rund um die Uhr verfügbaren digitalen Universum beginnt sich zudem die öffentliche Sphäre völlig neu zu formieren. So war sehr bald schon von einer „integrierten Netzwerköffentlichkeit“ (Neuberger 2009a: 41) die Rede, in der die verschiedenen Ebenen der (Offline-) Öffentlichkeit, wie sie oben angesprochen wurden, „oft nur einen Mausklick voneinander entfernt“ (Schweiger/Weihermüller 2008: 545) sind. Gerade diese Möglichkeit, sich via Mausklicks auf verschiedenen Öffentlichkeitsebenen bewegen zu können, scheint jedoch die aus Offline-Zeiten tradierte Dichotomie zwischen privaten und öffentlichen Bereichen aufzuweichen: Es entstehen hybride Mischformen, die man als semiprivat bzw. semiöffentlich (Klinger 2018) etikettieren könnte.
Entscheidend ist das Ausmaß, in dem der jeweilige Bereich für fremde bzw. anonyme Kommunikation offen ist, die Übergänge sind freilich fließend (ebd.: 257): So kann man z. B. E-Mails als privat, WhatsApp-Gruppen als semiprivat, soziale Medien mit Mitgliedschaft als semiöffentlich, und offene Onlineforen ohne Mitgliedschaft als öffentlich begreifen. Bereiche bzw. Plattformen, die sich im Privatbesitz befinden und für alle offen sind, gelten übrigens als semiöffentlich, „weil der Zugang vom Eigentümer nach Gutdünken reguliert oder verweigert werden kann“ (ebd.).
Nicht übersehen werden sollte außerdem die ökonomische Funktionalität solcher semiprivaten und semiöffentlichen Kommunikationsplattformen (ebd.: 264): Während das Geschäftsmodell der traditionellen Massenmedien darin besteht, die Aufmerksamkeit des Publikums über Werbeeinschaltungen zu verkaufen (vgl. dazu Kap. 7.9.3), erwirtschaften die semiprivaten und semiöffentlichen Plattformen im Netz ihren Profit damit, dass sie die Aufmerksamkeitswerte sowie das Kommunikations- und Konsumverhalten der User·innen weiterverkaufen (weiterführend dazu Kap. 7.8.1).
Makroperspektivisch stellen alle diese kommunikationstechnischen Innovationen einen gewaltigen Entwicklungsschub für die öffentliche Kommunikation dar, der von seiner Nachhaltigkeit her bereits mit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg im 15. Jhdt. verglichen wurde (Ludwig 1999).
Dem aktuellen (technischen) Quantensprung wird sogar noch größere Bedeutung attestiert: Hatte die Drucktechnologie für die öffentliche Kommunikation zunächst v. a. Rezipient·innen produziert, so macht es die Internet-Technologie „dem aktiven Rezipienten sogar möglich, in die Rolle des aktiven Kommunikators zu wechseln, der sich unmittelbar in gesellschaftliche Veränderungen einklinken kann“ (ebd.: 364). Man kann also durchaus von einer kommunikativen Revolution (weiterführend dazu Kap. 7.8) sprechen.
Zwischen Enthusiasmus und Skepsis: Erwartungen an das Netz
Derart hochgeschraubte Überlegungen sind übrigens nicht neu: Ab den 1970er Jahren waren es die technischen Errungenschaften von Videokassette, Bildschirmtext und Kabelfernsehen, denen man ebenfalls als „neue Medien“ euphorisch begegnete (vgl. Schrape 2012). Was die neuere Entwicklung digitaler Öffentlichkeiten (Hahn/Hohlfeld/Knieper 2015) betrifft, so verweist Schrape (2015: 199 f.) beispielsweise auf Gillmor (2004: 270), der die „Substitution massenmedialer Strukturen durch nutzerzentrierte Austauschprozesse“ prognostizierte. Er erinnert an Rheingold (2002), der die Diskussion um die Entwicklung einer kollektiven Intelligenz durch das Internet (= die Idee von der Weisheit der Vielen) wiederbelebte26 und an Castells (2001), der mit seinem Konzept einer „Netzwerkgesellschaft“ an die allgemeine Demokratisierung gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse glaubte (= die Macht der Ströme erhalte Vorrang vor den Strömen der Macht). Mit der modernen „Multimedia-Informationsgesellschaft“ (Ludes/Werner 1997: 7) sah man einen neuen Gesellschaftstyp heraufdämmern und stimmte zugleich den Abgesang auf die Massenkommunikation an: „… das ganze vertraute Paradigma ‚Massemedien’ bricht zusammen“ (Berghaus 1997: 83).
Die Entwicklung der digitalen öffentlichen Kommunikation verläuft allerdings weder geradlinig noch eindeutig und daher mitunter anders, als die euphorischen Erwartungen suggerierten. Neuberger (2008) schält konkret drei „Öffentlichkeitsparadoxien im Internet“ (ebd.: 49 ff.)27 heraus:
•Die Quantitäts- und Aufmerksamkeitsparadoxie
Durch das Internet ist eine bislang unvorstellbare Informationsmenge im Prinzip für alle verfügbar. Allerdings sind die meisten Menschen in der Regel weder zeitlich noch von ihrer sachlichen Kompetenz her in der Lage, dieser Vielzahl an Informationsquellen (Breunig/Hofsümmer/Schröter 2014: 136) entsprechende Aufmerksamkeit zu widmen. Dazu kommt, dass bei einer allfälligen Recherche im Netz (meist via Google) die starken Marken (wie Adidas, VW, Coca Cola) und die dominanten Medienakteure (wie Zeit, Bild, Spiegel, FAZ) bevorzugt erscheinen, weil deren Kommunikationsabteilungen via Suchmaschinenoptimierung dafür gesorgt haben, dass sie „von vornherein für den Aufmerksamkeitskampf gerüstet sind“ (Kirchhoff 2015: 35). Parallel dazu schwindet daher auch für die meisten der (weniger prominenten) Kommunikator·innen im Internet „die Wahrscheinlichkeit, Aufmerksamkeit und Resonanz in Form von Anschlusskommunikation zu erzielen“ (Neuberger 2008: 51) – wie etwa Daten aus der Blogosphäre zeigen: Während einige wenige Weblogs hohe Reichweiten erzielen, wird die überwiegende Mehrheit der Blogger·innen kaum wahrgenommen (vgl. etwa Anderson 2007, Neuberger/Nuernbergk/Rischke 2007: 108).
•Die Qualitäts- und Glaubwürdigkeitsparadoxie
Das quantitative Wachstum von Informationsangeboten im Netz hat auch qualitative Auswirkungen. Es herrscht (häufig wohl zu Recht) „Unsicherheit über die Qualität der Angebote“ (Neuberger 2008: 52). Bei vielen Online-Quellen existiert überdies „keine flächendeckende Qualitätssicherung durch eine Redaktion“ (ebd.), wie sie für Presse und Rundfunk unterstellt werden kann. In der traditionellen Massenkommunikation war bzw. ist die Zahl der Anbieter·innen dagegen relativ überschaubar, man kennt außerdem viele Quellen bzw. Medien schon über einen längeren Zeitraum hinweg als vertrauenswürdige Marken. Deshalb profitieren die Online-Auftritte traditioneller Massenmedien auch vom Markentransfer und der Glaubwürdigkeit des Mediums (experimentell dazu: Schweiger 1998). Allerdings scheint der Konkurrenzdruck im Netz dazu beizutragen, dass sich parallel dazu auch in den Onlineauftritten der traditionellen publizistischen Medien die Bereitschaft zu verdeckter (Schleich-)Werbung erhöht. Gerade im Internet verschwimmt die Grenze zwischen Werbung, PR und Journalismus (vgl. Neuberger 2002: 36 ff.) – was im Zweifelsfall neuerlich Glaubwürdigkeitsverluste provoziert.
•Die Vermittlungsparadoxie
Wenn Informationen (prinzipiell) für alle verfügbar sind, dann scheint auf den ersten Blick die professionelle Vermittlungsleistung der Journalist·innen (in ihrer Rolle als Gatekeeper28) obsolet zu werden. Doch die Vermittler·innen werden keineswegs überflüssig. Schon seit Langem (vgl. Weischenberg 1985) ist klar, dass sich dann das Problem der Zugänglichkeit in besonderem Maße stellt: In einer arbeitsteiligen Gesellschaft benötigen wir kompetente Kommunikator·innen, die uns die zunächst unzusammenhängenden Daten angemessen erschließen, entsprechend aufbereiten und präsentieren und damit erst Information in Wissen umwandeln (ebd.: 191). Zu Recht wurde auch vor der Illusion des „hyperaktiven“ Publikums gewarnt (Schönbach 1997), das sich lieber passiv unterhalten und auch informieren lässt. Eine der neuen Herausforderungen für die professionellen Kommunikator·innen könnte nach Neuberger (2008: 55) „in der Orientierung über das unübersichtliche Internet“ bestehen,29 Journalist·innen könnten sich (unter Nutzer·innenbeteiligung) als Moderator·innen öffentlicher Kommunikation im Internet betätigen und so den Zugang der Nutzer·innen zur Öffentlichkeit unterstützen (vgl. ebd. sowie Neuberger 2006).
Die angesprochenen Paradoxien weisen auf die Fragwürdigkeit vorschneller Verallgemeinerungen über die Veränderungen der öffentlichen Kommunikation durch das Internet hin. Man hat es also (wohl wenig überraschend) mit einem ambivalenten Entwicklungsschub zu tun, der von den genannten kommunikationstechnischen Innovationen ausgeht. Eine Ambivalenz, bei der man nach Donges/Jarren (2017: 91 ff.), insbesondere mit Blick auf die politische Kommunikation, eine enthusiastische und eine skeptische Position ausmachen kann.
–Für die Enthusiasten ist der Einfluss (der internetbasierten kommunikationstechnischen Innovationen) auf die politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse stark und positiv. Die Bürger·innen würden nicht nur untereinander mehr kommunizieren als bisher, es ist auch vom „direkten Draht“ zwischen Bevölkerung und Politik die Rede, durch den die Kommunikation einfacher geworden wäre. Außerdem würden soziale, zeitliche und räumliche Barrieren, die bislang viele Menschen von einer Teilnahme am politischen Geschehen abgehalten hätten, nun fallen. In ihrer radikal plebiszitären Variante gehen die Enthusiasten davon aus, dass die vermehrte Kommunikation zu einer elektronischen Öffentlichkeit führt, die auch das jeweilige politische System verändert. Auf einem „elektronischen Marktplatz“ könne man Meinungen austauschen und sich schließlich als Willen aller in den politischen Prozess einbringen. In der gemäßigt deliberativen Variante wollen die Enthusiasten mit einer elektronischen Öffentlichkeit wenigstens die Partizipation erhöhen und damit das politische System insgesamt stärken.
–Demgegenüber sind die Skeptiker davon überzeugt, dass die Barrieren zwischen den Bürger·innen und der politischen Öffentlichkeit soziale und nicht technische sind. Es gehe v. a. um ein begrenztes Zeitbudget, um die fehlende Bereitschaft zur Informationssuche sowie um Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsdefizite. Da die Probleme bei der Konstituierung von Öffentlichkeit keine primär technischen sind, lassen sie sich auch nicht mit technischen Instrumentarien lösen. Das Internet ist ein Werkzeug, das „wie jedes Werkzeug prinzipiell von allen genutzt werden kann, aber nicht benutzt wird“ (Roesler 1997: 191). Wesentlich ist das Interesse, „daran wird auch das Internet nichts ändern. Bequemlichkeit war noch nie der Grund für Engagement“ (ebd.). Untersuchungen zur Diskussionsqualität innerhalb der Internetöffentlichkeit (Gerhards/ Schäfer 2007, Rucht/Yang/Zimmermann 2008) zeigen übrigens, „dass die Netzöffentlichkeit nicht ‚demokratischer’ oder vielfältiger als die traditionelle Medienöffentlichkeit ist. Beide Formen der Öffentlichkeit weisen ähnliche Strukturmuster und Schwächen auf“ (Donges/Jarren 2017: 95).
Ob die Enthusiasten oder die Skeptiker richtig liegen, lässt sich gegenwärtig nicht eindeutig beurteilen. Dazu ist die Entwicklung noch zu sehr im Fluss; die Öffentlichkeit(en) in digitalen Netzen verändern sich laufend (vgl. etwa Steinmaurer 2017). Was verfügbare empirische Daten (insb. für die deutsche Gesamtbevölkerung) betrifft, so spricht bislang jedoch wenig dafür, dass sich die Hoffnungen der Euphoriker und die Erwartungen der Enthusiasten zeitnah erfüllen könnten.
Zunächst ist festzustellen, dass die Zahl der Medienanbieter·innen ständig wächst. Obwohl die etablierten Medienunternehmen aus dem traditionellen Fernseh-, Hörfunk- und Printbereich längst auch über eigene digitale Angebote verfügen,30 stehen sie im Wettbewerb mit Streamingdiensten wie Netflix, Amazon Prime Video, DAZN, Disney+ und Spotify oder Plattformen wie YouTube, Facebook und TikTok (Breunig/Handel/Kessler 2020). Der daraus entstandene „Multimedia-Kosmos“ (ebd.: 410) aus Texten, Fotos und Bewegtbildangeboten ist dank der internetbasierten kommunikativen Mobilität nahezu immer und überall verfügbar.
Es wundert daher nicht, dass die Zeit für die Internetnutzung kontinuierlich ansteigt: Sie lag im Jahr 2020 im Durchschnitt erstmals bei nahezu dreieinhalb Stunden (204 Min.) täglich. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung (55 %) nutzen Internetanwendungen von unterwegs aus und verwenden daher das Smartphone oder das Tablet, um ins Netz zu gelangen (Beisch/Schäfer 2020). Aber was tun die Menschen eigentlich genau im Netz?
•In mehr als der Hälfte dieser Zeit (120 Min.) findet dabei Mediennutzung via Netz statt (Videos, TV-Sendungen anschauen, Audios, Musik hören, Artikel, Nachrichten lesen in den Webauftritten von Online- und Offline-Medien). Mehr als ein Drittel der Befragten (37 %) haben Video-Streamingdienste (wie Netflix) in ihrem wöchentlichen Medienrepertoire, zunehmend wird aber auch Live-TV im Internet konsumiert (Beisch/Koch/Schäfer 2019).
•In zweiter Linie geht es schlicht um Individualkommunikation (E-Mailen, Chatten, Facebook-Messenger, WhatsApp, Social Media), gefolgt vom Suchen nach Informationen (z. B. bei Google oder Wikipedia). Außerdem werden Transaktionen erledigt (Produkte finden, online shoppen, Onlinebanking) und schließlich ist auch Spielen im Netz angesagt (Beisch/Schäfer 2020, Koch/Frees 2016).31
•Mit redaktionellen Textangeboten (Zeitungen, Zeitschriften off- oder online, gedruckten Büchern oder E-Books sowie anderen digitalen Texten) kommt knapp die Hälfte der Bevölkerung ab 14 Jahren (47 %) täglich in Kontakt; eklatant mehr sind es bei Bewegtbild- und Audioangeboten (86 % bzw. 82 %). Zum Vergleich: Im Jahr 2010 lag die Tagesreichweite der Textangebote noch bei 69 % (Breunig/Handel/Kessler 2020: 423). Gerade einmal 17 % (mit sinkender Tendenz) geben an, „täglich Artikel oder Berichte digital im Internet zu lesen“ (Beisch/Schäfer 2020: 472).
•Zu den meistgesuchten Inhalten im Netz zählen übrigens aktuelle Informationen (Eimeren 2015: 2). Wobei sich hinter dem Internet als Hauptnachrichtenquelle im Detail praktisch die gesamte (traditionelle) Medienpalette verbirgt: Sie reicht von den klassischen Printmedien über diverse (öffentlich-rechtliche und private) TV-Kanäle bis hin zu Nachrichtenaggregatoren, die Nachrichten von verschiedenen Anbietern bündeln (Hölig/Hasebrink/Behre 2020). Vielfach wird aber (via Suchmaschine oder App) auch online eine bestimmte Nachrichtenmarke aufgerufen, der man vertraut und die man für glaubwürdig hält (ebd., Heinzlmaier/Tomaschitz/Kohout 2018)32.
•Über die angesprochenen Rezeptionsaktivitäten hinaus ist zudem News Sharing, also das aktive Verbreiten bzw. Weiterleiten und Kommentieren von Nachrichten innerhalb der sozialen Medien gesellschaftlich normal geworden (Bright 2016, Kolo 2018). Was schließlich noch die Online-Partizipation betrifft, so haben die seinerzeit hohen Erwartungen an die Demokratisierungspotenzial, das man dem Internet im allgemeinen und den Sozialen Medien im besonderen attestiert hat (Imhof 2015), bislang kaum entsprechende Spuren in der Kommunikationsrealität hinterlassen: Insgesamt beteiligt sich nur ein geringer Teil der Bürger·innen an politikaffinen Online-Kommentaren und Diskussionen (Schweiger 2018) und wenn dies der Fall ist, dann ist die Diskursqualität eher gering (Kersting 2017, Russmann 2015).
Blickt man mit Abstand – gleichsam aus der Vogelperspektive – auf die bislang angesprochenen Befunde, so erkennt man, dass die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien am Beginn des dritten Jahrtausends zunehmend als technische Infrastruktur einer modernen Öffentlichkeit fungieren. Öffentlichkeit scheint heute ohne diese intensive Digitalisierung gar nicht mehr vorstellbar zu sein. In der Soziologie ist auch bereits von der digitalen Transformation der Gesellschaft (Schrape 2021) die Rede: Damit ist die Digitalisierung als neue fundamentale Technlogie angesprochen, die Schritt für Schritt sämtliche Teilbereiche der Gesellschaft durchdringt. Aus der Perspektive der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft gerät in diesem Kontext vor allem die zunehmende Plattformisierung der Medienstrukturen in den Fokus.
Plattformisierung – ein dritter Strukturwandel der Öffentlichkeit?
Mit dem Etikett Plattformisierung (Platformization) ist die Diskussion über die Bedeutung des Internets für die Zukunft unserer Kommunikationsgesellschaft um eine gewichtige Facette bereichert worden. Dabei könnte es sich tatsächlich um einen neuen, digital induzierten Strukturwandel der Öffentlichkeit (Eisenegger et al. 2021, Vowe 2020) handeln, dessen Langzeitfolgen wohl erst in Ansätzen absehbar sind.
Hatte der erste Strukturwandel im 18./19. Jahrhundert über Debattierclubs und bürgerliche Versammlungsöffentlichkeiten (Habermas 1990) mit den Leitmedien Zeitung und Zeitschrift zur ersten durch die Massenpresse hergestellten Öffentlichkeit geführt, so war der zweite Strukturwandel im 20. Jahrhundert mit den Leitmedien Hörfunk und Fernsehen durch eine immense Ausweitung des Medienangebots und das Entstehen großer privatwirtschaftlicher Medienkonzerne gekennzeichnet. Spätestens seit den Nullerjahren des dritten Jahrtausends ist nun von einem weiteren dritten – oder sogar vierten (Vowe 2020), jedenfalls aber – digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit die Rede.
Vowe (ebd.) sieht (mit Blick auf den Politikbereich) sieben Tendenzen der Veränderung (politischer) öffentlicher Kommunikation: Die (1) Digitalisierung gilt als Treiber und Beschleuniger des strukturellen Wandels und bestimmt zunehmend womit wir kommunizieren (mit Zeichen, die in den Code von Null und Eins übersetzt werden). Die (2) Ökonomisierung rückt die Reduktion der (monetären und zeitlichen) Kosten in den Fokus (z. B. können Clips zu aktuellen Themen schnell selbst fabriziert und mit wenig Streuverlusten publiziert werden). Die (3) Pluralisierung meint die Vervielfachung der Akteurskonstellationen: Mehr und unterschiedliche Akteure (Parteien, zivilgesellschaftliche Gruppen, onlinebasierte Initiativen, Influencer) treten auf und nützen verschiedene Kanäle, über die Ideen, Anliegen, Ziele etc. thematisiert werden. Mit der Tendenz zur (4) Spezifizierung ist die auf das individuelle Profil zugeschnittene Auswahl an Informationen gemeint. Die (5) Globalisierung rückt die Konzentration auf territorial-staatliche Inhalte zugunsten globaler Themen (wie Migration, Klimawandel, Pandemien oder Terrorismus) in den Hintergrund. Die Dynamisierung (6) fokussiert Kommunikationsprozesse unter dem Zeitaspekt: Sie werden schneller und dichter, sind vielfach miteinander verflochten und werden unvorhersehbarer. Schließlich tendiert die Kommunikation zur Hybridisierung (7): Hatte man früher pro Kommunikationsform ein eigenes Gerät zur Verfügung, so verkörpert das Smartphone heute die protypische Konvergenz verschiedener Kommunikationsformen und damit die Multikunktionalität des Internets.
Im Zentrum steht dabei stets das Internet bzw. das World Wide Web zunächst als technische Infrastruktur, für die spätestens seit der Jahrtausendwende die Existenz sogenannter Plattformen kennzeichnend ist. Unter Plattformen kann man im rein technischen Sinn „algorithmisch gesteuerte Digital-Infrastrukturen“ (Eisenegger 2021: 20) verstehen, über die Datenübertragung, private sowie öffentliche Kommunikation ermöglicht wird, Märkte organisiert, Dienstleistungen angeboten und digitale wie nichtdigitale Produkte vertrieben werden. Digitale Tech-Plattformen wie Google, Facebook, YouTube, Twitter oder WhatsApp etc. sind in Wahrheit allerdings mehr als die für uns alle sichtbaren Websites. Ihr eigentlicher Kern unter dieser Oberfläche ist eine „Algorithmen-gesteuerte Hinterbühnen-Datenarbeit“ (ebd.: 21) mit der sie ihre Geschäftsziele verfolgen.
Dabei darf nicht übersehen werden: Plattformen (insbesondere Social Media-Plattformen) sind regelrechte Drehscheiben für Inhalte aller Art, aber sie produzieren im Gegensatz zu den traditionellen (redaktionellen) Medien keine eigenen publizistischen Inhalte. Sie bündeln und verbreiten zwar auch journalistische Produkte von professionellen publizistischen Medien, aber neben diesen erscheinen auch Inhalte von Unternehmen, Non-Profit-Organisationen, politischen Akteuren und Mitteilungen aus dem Freundeskreis. Also kommerzielle, journalistische, politische (PR) und private Kommunikation kann nebeneinander stattfinden – sie erscheint sozusagen über denselben virtuellen (meistens mobilen) Zugang: auf dem Smartphone, Tablet oder PC.
Plattformisierung meint den Umstand, dass global agierende Firmen mit ihren digitalen Tech-Plattformen immer stärker in unseren gesellschaftlichen Alltag eindringen (Helmond 2015, Nieborg/Helmond 2019) und sich als Institutionen etablieren (Jarren 2019, Puppis 2020). Auf welche Art und Weise und mit welchen Konsequenzen sie die öffentliche aber auch die private Kommunikation beeinflussen, ist eine kommunikationswissenschaftlich relevante Frage. Was die kommerziellen Interessen im Internet betrifft, haben wir es mit einer handverlesenen Zahl international tätiger Konzerne (mit Hauptsitz in den USA) zu tun (Dolata 2015): Das sind einerseits die beiden Werbe- und Marketingunternehmen Google und Facebook sowie der Handelskonzern Amazon und andererseits der Computer- und Unterhaltungselektronikhersteller Apple sowie der Softwarekonzern Microsoft.33
Aus der Perspektive eines dritten bzw. digitalen Strukturwandels der Öffentlichkeit repräsentieren diese Konzerne mit ihren Plattformen gewissermaßen die Leitmedien neuen Stils. Ihre Macht und ihr Einfluss basieren nicht nur auf ihrer Marktdominanz, sondern „auch auf ihrer Fähigkeit, mit ihren zahlreichen und aufeinander abgestimmten Angeboten die Rahmenbedingungen wesentlicher sozialer Zusammenhänge im Online-Kontext – Konsumwelten, Informations- und Kommunikationsmuster, soziale Beziehungsnetzwerke – maßgeblich zu gestalten und zu prägen“ (Dolata ebd.: 525).
Die jeweils entwickelten Geräte, die Software, die Apps, die Such-, Konsum- oder die Beziehungsplattformen sind nämlich mehr als bloß ein technisches Angebot, das wir nach Lust und Laune verändern können – im Gegenteil: In die Technik sind immer auch „Regeln, Normen und Handlungsanleitungen eingebaut, die auf die Aktivitäten ihrer Nutzer wie soziale Institutionen wirken und die deren Handeln im Netz sowohl ermöglichen als auch mitstrukturieren“ (ebd.).
Wohl zu Recht kann man von einer neuen Plattform-Öffentlichkeit (Eisenegger 2021: 28 ff.) sprechen, mit der neue Qualitäten der Öffentlichkeit sowie der Informationsvermittlung entstehen.
•Das beginnt schon bei der Metapher der Arena (auch: Forum), die ja auf separate Schauplätze (parlamentarische, administrative, öffentliche) für den politischen Prozess verweist, zwischen denen in der Offline-Ära relativ klare Grenzen gezogen werden konnten. Die Präsenz von Social Media-Plattformen im Web samt ihren Funktionalitäten zur Vernetzung von Akteuren scheint diese Grenzziehungen, wenn schon nicht obsolet, so doch aufgeweicht zu haben (Donges/Jarren 2017: 88 f.). Die noch aus der Offline-Ära stammende (idealtypische) Vorstellung von Öffentlichkeit als einem „Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen“ (Habermas 1992: 436, 2008: 164 f.) könnte damit – rein theoretisch gedacht – sogar einen strukturellen Annäherungsschub erfahren.
•Das gilt erst recht für die Differenzierung der Öffentlichkeitsebenen (Encounter-, Themen- und Medienöffentlichkeit), wobei man durchaus hinterfragen kann, ob das Denken in Ebenen dann noch angemessen ist (Friemel/Neuberger 2021: 88 ff.). Die Möglichkeit, dass Unbekannte einander spontan im digitalen Raum treffen und – gleichsam auf der ehemaligen Encounter-Ebene – miteinander kommunizieren, ist heute keine Ausnahme mehr. Interaktions- und Vernetzungschancen sind technisch gleichsam auf Knopfdruck vorhanden, der Zugang zur Öffentlichkeit ist einfacher geworden (Neuberger 2018).
•Weitere Konsequenzen könnten sein, dass in der Plattformöffentlichkeit sowohl die Zahl als auch die Bedeutung themenzentrierter Öffentlichkeiten zunimmt und dass überdies die Medienöffentlichkeit nicht mehr nur von (klassischen) publizistischen Medien bevölkert wird, sondern auch von Alternativmedien, die sich die jeweils plattformspezifischen infrastrukturellen Möglichkeiten zunutze machen34.
•Dank dieser Basis-Infrastruktur, die auf den Tech-Plattformen zur Verfügung steht, erfordert die massenmediale Kommunikator·innenrolle nicht mehr zwingend eine Rückbindung an journalistische Organisationen. Wirtschaftliche, politische oder zivilgesellschaftliche Akteure sind zur Durchsetzung ihrer Partikularinteressen daher nicht mehr auf das Gatekeeping professioneller Informationsmedien angewiesen, sondern können sich über plattformspezifische PR- und Corporate Publishing-Aktivitäten direkt an ihre Zielgruppen wenden. All dies schwächt freilich die (traditionelle) Gatekeeper-Rolle des Journalismus, gefährdet seine Artikulations-, aber auch seine Integrationsfunktion (vgl. dazu Kap. 7.9) und vereinfacht die öffentliche „Verbreitung umstrittener, schädlicher oder gar illegaler Inhalte“ (Puppis 2020: 203).
•Daraus entstehen neue Anforderungen an die Rezipient·innenrolle: Auf den Plattformen vermischen sich – wie bereits erwähnt – journalistische und kommerzielle sowie professionell und nicht professionell erstellte Inhalte. Konkret heißt das: Die Nutzer·innen begegnen den veröffentlichten Nachrichten nicht mehr wie bisher „in abgrenzbaren Paketen spezifischer Medienmarken. Vielmehr werden sie in wachsendem Ausmaß mit einem Strom aus Inhalten und Inhaltsfragmenten konfrontiert, der in mehrfacher Hinsicht personalisiert ist“ (Eisenegger 2021: 33). Zum einen, weil die Nutzer·innen selbst die Quellen ihres persönlichen Nachrichtenstroms bestimmen können (indem sie z. B. Personen als Freund·innen kennzeichnen, Seiten liken, Kanäle abonnieren, Twitter-Accounts folgen) und zum anderen, kraft der algorithmisch gesteuerten Personalisierung (Poell/Nieborg/van Dijck 2019). Das wird v. a. dann problematisch, wenn es sich dabei um Desinformation handelt35.
Tatsächlich weist der Reuters Digital News Report (Gadringer/Holzinger/Sparviero/ Trappel/Gómez Neumann 2020) auf die steigende Relevanz sozialer Medien für die News-Rezeption hin: So nennen in Österreich 11,3 % der (repräsentativ) Befragten Personen soziale Medien als ihre Hauptnachrichtenquelle; in der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen sind es bereits 36 % die sich hier zuordnen. Ob und inwieweit man dabei dennoch auch in Zukunft – wie weiter oben erwähnt – die Nachrichtenquelle beachtet oder sogar gezielt ausgewählte Medienmarken im Netz aufruft (Hölig/Hasebrink/ Behre 2020), lässt sich aktuell nicht vohersagen.
•Insgesamt mutiert die Plattform-Öffentlichkei zu einer semiprivaten bzw. semiöffentlichen Sphäre (Klinger 2018), die Microtargeting ermöglicht. Dabei handelt es sich um ein extrem passgenaues personalisiertes Ansprechen von Zielgruppen, das insbesondere in der Wahlwerbung nicht unumstritten ist (Gorton 2016). Im Kontext des US-Präsidentschaftswahlkampfs (2015/16) von Donald Trump ist Microtargeting durch den Cambridge Analytica-Datenskandal36 in die Schlagzeilen geraten und damit einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist (Wylie 2019). Speziell für Wahlauseinandersetzungen resultiert daraus eine demokratiepolitisch hochbrisante Problematik: Wenn stark individualisierte Botschaften für kleinteilig ausdefinierte Zielgruppen generiert und nur an diese ausgespielt werden, dann ist die Chance einer breiten öffentlichen Wahrnehmung dieser Inhalte gleichsam verunmöglicht und die watchdog-Funktion einer kritischen Öffentlichkeit bzw. eines kritischen Journalismus ist blockiert.
Ein Zwischen-Fazit zum stattfindenden digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit fällt somit ambivalent aus: Einerseits ist die Plattformisierung eine Gefahr für die journalistischen Informationsmedien – für ihre Gatekeeper-Funktion und ihre Qualitätsstandards, damit stehen negative Auswirkungen auf den öffentlichen Diskurs im Raum. Andererseits haben zivilgesellschaftliche Akteure bessere Artikulationschancen und einen (potenziell) größeren Resonanzraum zur Verfügung als jemals zuvor. Das bedeutet eine Stärkung der Meinungsäußerungsfreiheit, aber auch der damit angesprochenen Probleme.
Die Entwicklung geht jedenfalls weiter und – das wusste schon Karl Popper – die Zukunft ist offen.
Zweites Fazit: Das Netz ergänzt die Massenkommunikation – aber es ersetzt sie nicht
Es lässt sich also resümieren: Massenkommunikation „beschreibt nur noch einen Teil der medial vermittelten, öffentlichen Kommunikation“ (Neuberger 2017: 564). Das Internet und die damit verbundenen kommunikationstechnischen Innovationen haben zusätzliche attraktive Möglichkeiten für öffentliche Kommunikation hervorgebracht. Das Social Web hat zu neuen digitalen Öffentlichkeiten geführt, aber der klassische Massenkommunikationsprozess ist bislang nicht ersetzt worden – im Gegenteil: Alle einschlägigen Todesanzeigen waren schlicht Fehlanzeigen.
Warum ist das so? Bleibt die moderne, digitalisiert-vernetzte Gesellschaft möglicherweise doch auf die etablierten massenmedialen Strukturen angewiesen?
Aus analytischer Perspektive ist diese Frage mit einem klaren JA zu beantworten. Im virtuellen Raum zerfällt das traditionelle Publikum (der Massenmedien) nämlich „in eine riesige Anzahl von zersplitterten, durch Spezialinteressen zusammengehaltenen Zufallsgruppen“ (Habermas 2008: 162). Was dort bislang fehlt, das sind „die funktionalen Äquivalente für die Öffentlichkeitsstrukturen, die die dezentralisierten Botschaften wieder auffangen, selegieren und in redigierter Form synthetisieren“ (ebd.).
Genau dies leisten die traditionellen, publizistischen Massenmedien, „sie bilden quasi den institutionellen Kern“ (Wimmer 2007: 43) der modernen Öffentlichkeit. Ihr zentraler Stellenwert ergibt sich zuallererst daraus, dass sie als Institutionen in der modernen Gesellschaft auf Dauer etabliert sind. Dadurch werden sie „sowohl von den an der Vermittlung von Themen interessierten gesellschaftlichen Akteuren wie von den Rezipienten als eine Einheit wahrgenommen. Erst die Kopplung zwischen einer Mitteilung und einer Medienorganisation und deren Publikation verleiht dieser Mitteilung gesamtgesellschaftliche Relevanz“ (Jarren 2008: 334) und auch eine entsprechende hohe Glaubwürdigkeit – dies gilt in erster Linie für Leitmedien37 wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sowie für ausgewählte Printmedien aus dem Segment der Qualitätspresse (Breunig/Eimeren 2015, Gleich 2017, Schultz/Jackob/Ziegele/Quiring/Schemer 2017). Und dies gilt außerdem sowohl für deren jeweilige Offline- bzw. Druckversion als auch ihren Online-Auftritt (Puchleitner 2017).
Der Fragmentierungsthese von Habermas, mit der er das Fehlen der „funktionalen Äquivalente für die Öffentlichkeitsstrukturen“ (Habermas 2008: 162) im Internet beklagt, ist daher wenigstens zum Teil zu widersprechen (vgl. dazu näher auch Neuberger 2009a: 19 ff.): Längst sind dort ja ohnehin die traditionellen, publizistischen Massenmedien zuhauf mit ihren jeweiligen Online-Auftritten präsent und es ist nicht auszuschließen, dass sich in Zukunft weitere online-basierte publizistische (Massen-)Medien herausbilden werden.
Wenngleich soziale Medien kontinuierlich relevanter werden. Das machen Daten am Beispiel des Nachrichtenkonsums erkennbar. So zeigt eine Spezial-Auswertung des Reuters Digital News Reports (2020) für Österreich38, dass ältere Befragte beim Konsum von Nachrichten eher auf traditionelle Nachrichtenquellen zurückgreifen, während jüngere Menschen vermehrt soziale Medien als Hauptnachrichtenquelle angeben (18- bis 24-Jährige zu 68,5 % und 25- bis 34-Jährige zu 63,2 %). Soziale Medien sind bekanntlich Plattformen, die (in der Regel) zu anderen (publizistischen) Medien verlinken. Ältere Daten aus der österreichischen Twitter-Szene (Maireder 2012) zeigen, dass bis zu 74 % aller Links aus Tweets zu redaktionellen Inhalten der traditionellen publizistischen Medien führen, häufig finden sich auch Links zu Presseaussendungen der nationalen Nachrichtenagentur/APA39 (ebd.). Der (mittlerweile legendäre) Ausspruch eines US-amerikanischen College-Studenten „If the news is that important, it will find me“ (Stelter 2008/03/27) trifft somit den Informations-Nerv der Internet-Generation – wenngleich mit nicht ganz unproblematischen Folgen, was die demokratisch wünschenswerte politische Informiertheit betrifft (ausführlich dazu: Gil de Zúñiga/Weeks/Ardèvol-Abreu 2017).
In diesem Zusammenhang ist das Phänomen News-Avoidance erwähnenswert: Als News-Avoider gelten Menschen, die willentlich die Rezeption von Nachrichtenangeboten verweigern. Erstmals typisiert wurde diese Gruppe im Reuters Digital News Report (Newman 2017). Der Anteil an Mediennutzer·innen, die News-Avoidance betreiben, ist am höchsten in den USA (41 %), gefolgt von Italien, UK, Frankreich und Spanien, Österreich liegt (mit 30 %) im oberen Mittelfeld, den niedrigsten Anteil haben Däenemark (15 %), Finnland (17 %) und Norwegen (21 %).40 Als eine der Ursachen gilt die Abnahme der sogenannten „duty to keep informed“-Einstellung (McCombs/Poindexter 1983; zit. nach Jandura 2020: 51) – vermutlich auch deshalb, weil sich (wie soeben erwähnt) infolge der digitalisierungsbedingten Vervielfältigung des medialen Angebots viele Menschen sicher zu sein scheinen, dass eine wichtige Nachricht schon irgendwie zu ihnen gelangen würde. Und sie gelangt tatsächlich immer häufiger über Soziale Medien zu ihnen – speziell wenn es sich um die jüngere Bevölkerungsgruppe handelt (Grossegger 2020). Die Diskussion darüber, inwiefern Personen, die sich im Zustand einer unterdurchschnittlichen Versorgung durch den Informationsjournalismus – also in einer Art News Deprivation – befinden, eine Bedrohung für unsere digitalisierten Gesellschaften sind, insbesondere für die demokratisch organisierten, wird in Zukunft sicher noch intensiv zu führen sein.
Eng damit verbunden scheint eine in den letzten Jahren wachsende Intensität negativer Einstellungen gegenüber klassischen journalistischen Medienangeboten zu sein. Diese neue Medienfeindlichkeit (Schindler/Fortkord/Posthumus et al. 2018) besteht im Wesentlichen in der „Vorstellung eines unmoralischen, gleichgeschalteten und manipulativen Mediensystems“ (ebd.: 296). Ein Zusammenhang mit populistischen Einstellungen (der Idee eines „guten“ Volkes und einer „bösen“ Elite) sowie mit der selektiven Nutzung alternativer Medien im Netz lässt sich nachweisen. Die Mainstream-Medien werden als Lügenpresse verunglimpft, die Fake News verbreiten.41
Im internationalen Vergleich zeigt sich überdies, dass man am Netz, insbesondere an den sozialen Medien zwar die nachrichtenbezogene Quellenvielfalt sehr schätzt; allerdings realisieren die Nutzer·innen zugleich auch die Gefahr, „wichtige Informationen oder gegenteilige Meinungen zu verpassen“ (Hölig/Hasebrink 2016: 547). Kurzum: Soziale Netzwerke stellen für die meisten Internetnutzer·innen lediglich „eine von mehreren Nachrichtenquellen“ (ebd.) dar. Man darf also nicht übersehen, dass „sich der größte Teil der Bevölkerung weiterhin im Wesentlichen aus journalistischen Angeboten informiert“ (ebd.) und dass gerade die jüngeren Zielgruppen die Inhalte der klassischen Medien immer häufiger online aufsuchen (Puffer 2016).42 Auch neuere Daten deuten in diese Richtung: Vor allem für den Nachrichtenkonsum wird für den Bevölkerungsdurchschnitt immer noch eine deutliche Nutzung der Angebote etablierter Medienmarken erkennbar (ARD/ZDF 202043, Hölig/Hasebrink/Behre 2020).
Der zentrale Stellenwert der traditionellen, publizistischen Massenmedien hängt aber v. a. auch damit zusammen, dass sie sich von anderen Organisationen, die ebenfalls Themen für die öffentliche Kommunikation bereitstellen (wie politische Akteure, Kulturorganisationen, Unternehmen oder auch Corporate-Publishing-Produkte) elementar unterscheiden: Sie können sich „glaubwürdig als Intermediäre ausflaggen“, weil sie „eine gesellschaftlich vermittelnde Funktion wahrnehmen“ (Jarren 2009: 3). Gerade als Intermediäre erbringen publizistische Medien elementare Vermittlungsleistungen zwischen Staat und Gesellschaft44: „sie bieten sich als Organisationen für das Zeitgespräch an, sie organisieren und moderieren Foren und sie laden zum Dialog ein“ (ebd.). Publizistische Medien, die so agieren, kann man daher als „intersystemische Organisationen“ (Jarren 2008: 342) begreifen, weil sie „eine hochgradig institutionalisierte Vermittlungsrolle für alle Akteure der Gesellschaft“ (ebd.) übernehmen.
Damit tun sie aber genau das, was den zersplitterten, durch eine Unzahl von jeweiligen Spezialinteressen zusammengehaltenen Zufallsgruppen auf diversen Social-Media-Plattformen abgeht: Sie richten den Blick aufs Ganze, indem sie verschiedene (auch widersprüchliche) Momente gesellschaftlicher Entwicklungen recherchieren, selektieren und kommentieren und so die „Unterstellung universeller Informiertheit“ (Luhmann 1981: 314) erzeugen. Das Wissen um ihre hohen Reichweiten führt beim Rezeptionsprozess außerdem dazu, dass man das „Bekanntsein des Bekanntseins“ (Luhmann 1996: 43) voraussetzen kann, d. h., jede·r Einzelne kann davon ausgehen, dass er·sie die publizierten Themen auch bei allen (jedenfalls: bei sehr vielen) anderen als bekannt unterstellen kann. Das verschafft den publizistischen Medien (insb. den Leitmedien) eine herausragende Stellung, die dazu führt, dass man in sozial unsicheren Situationen zu ihnen wechselt und ihnen auch bei der Überprüfung von Informationen besondere Beachtung schenkt (Jarren 2008: 335). Insgesamt ermöglichen die publizistischen Medien durch diese „Bereitstellungsleistungen eine gesamtgesellschaftliche Koordinierung. Das ist zwar nicht ihr Ziel, wohl aber das nicht intendierte Ergebnis der Medienleistungen – und darauf sind die einzelnen Gesellschaftsmitglieder angewiesen“ (Jarren 2009: 1, vgl. auch: Altmeppen/Donges/Künzler [u. a.] 2015).
Alles in allem wird deutlich, dass der Prozess der Massenkommunikation, wie er vorhin (Kap. 5.1) ausführlich besprochen und definiert worden ist, auch zu Beginn des dritten Jahrtausends noch nicht ausgedient hat. Erst wenn sich die Diffusion von Information in unseren Gesellschaften so sehr gewandelt haben sollte, dass publizistische Medien obsolet geworden sind, erst dann wird auch von Massenkommunikation nicht mehr sinnvoll die Rede sein können.
Auch wenn dafür bislang, wie gezeigt werden konnte, sowohl empirische Hinweise als auch angemessene Argumente fehlen, so bedeutet dies freilich nicht, dass medial vermittelte, öffentliche Kommunikation auch in Zukunft vorrangig als Massenkommunikation im traditionellen Sinn in Erscheinung treten wird. Neuberger (2017) hat darauf hingewiesen, dass sich neue Variationen im Internet längst anbahnen: Neben dem dispersen Publikum der Massenmedien nennt er additive und kopräsente Kollektive als zwei neue Typen von unorganisierten Kollektivphänomenen im Internet, bei denen die Interaktion einer Vielzahl von Akteuren möglich ist. Darauf wird weiter unten (Kap. 7.8) noch näher eingegangen.
In den nächsten beiden Kapiteln dieses Buches soll jedenfalls die Bedeutung von Massenkommunikation aus individueller und gesellschaftlicher Perspektive auf Basis bisher vorliegender, relevanter (kommunikations-)wissenschaftlicher Befunde zum Thema gemacht werden.
–Im Kapitel 6 geht es um die Frage der Wirkung jener Aussagen, die über Massenkommunikation an eine unübersehbar große Zahl von Menschen vermittelt werden.
–Im Kapitel 7 stehen sodann die Strukturen der modernen Kommunikationsgesellschaft im Mittelpunkt.
Freilich wird dies alles abermals – soweit, wie möglich – mit Blick auf die Ausbreitung des Internets und die damit verbundenen kommunikationstechnischen Innovationen geschehen, denn eines steht fest: Sowohl interpersonale als auch massenmediale Kommunikationsprozesse können heute und in Zukunft ohne die Existenz der wohl bald den gesamten Globus umspannenden, internetbasierten Infrastruktur nicht mehr angemessen betrachtet und analysiert werden.
1Die Zahl der Radio- und TV-Sender (insb. privatwirtschaftlich organisierter) hat sich vervielfacht, über Kabel und Satellit sowie online sind rund um die Uhr diverse Spartenkanäle zu empfangen und auch im Printbereich ist eine unermessliche Fülle an Special-Interest-Produkten entstanden.
2Als Urheber gelten der Radiopionier und Gründer der National Broadcasting Company (NBC) David Sarnoff (Peters/Simonson 2004: 9), aber auch Harry P. Davis, damals Vice President des Elektrokonzerns Westinghouse, der die Wortkombination 1930 in einem Buch über das Radio (Davis 1930) verwendete.
3Überdies ist das Publizieren heute längst nicht mehr den altbekannten Gatekeepern (in Print-, Radio- und TV-Redaktionen) vorbehalten – wenngleich Behauptungen wie „Wir alle sind zu Publizisten geworden“ (Humborg/Nguyen 2018: 1) doch mehr als gewagt erscheinen (zur Gatekeeper-Forschung vgl. näher Kap. 7.3).
4Interaktion ist – wie weiter oben (Kap. 2.3) gezeigt wurde – ein schillernder Terminus. Im vorliegenden Kontext sei darauf hingewiesen, dass Interaktion hier (im Anschluss an Neuberger 2007a) als Prozess und Interaktivität „als Potenzial von Einzelmedien und Kommunikationssituationen“ (ebd.: 42) begriffen wird. Zur Differenzierung derartiger Interaktivitätspotenziale (auch: Interaktivitätslevels) siehe außerdem: Goertz 1995, Rössler 2003.
5Rusch (2003) hat diese Idee (allerdings ohne expliziten Bezug auf Kob) sogar noch radikalisiert: Er plädiert angesichts neuer Verständigungsverhältnisse in der Mediengesellschaft überhaupt für eine Entkoppelung von Kommunikation und Rezeption und schließlich sogar (ein wenig vom Konstruktivismus inspiriert – vgl. dazu Kap. 7.6) für eine Revision bzw. „Dekomposition des Kommunikationsbegriffs“ (ebd.: 153).
6Zur Differenzierung von „situationsbezogenem“ und „inhaltsbezogenem“ Interesse kommunikativen Handelns vgl. oben Kap. 2.
7Publizität gilt als eines von vier Gattungsmerkmalen der Zeitung neben Periodizität (regelmäßiger Erscheinungsrhythmus), Aktualität (Bezug zu gegenwärtigen Ereignissen) und Universalität (kein Thema ist ausgenommen) (Wilke 2009: 50 f.). Näher dazu, auch kritisch: Averbeck 1999, Merten 1973, 1999. Vgl. dazu auch Luhmann (1981: 320), der die „Beteiligung aller an einer gemeinsamen Realität“ bzw. die „Erzeugung einer solchen Unterstellung“ (ebd.) als eine zentrale Funktion von Massenkommunikation begreift.
8Davon zeugt eindrucksvoll, dass Public Relations (Öffentlichkeitsarbeit) nicht nur ein boomendes Berufsfeld, sondern auch eine kommunikationswissenschaftliche Teildisziplin geworden ist (vgl. dazu stellvertretend: Röttger/Kobusch/Preusse 2018).
9Unter einer „Maxime“ versteht Kant das jeweils subjektive Prinzip des Handelns.
10Zu publizistischen Medien siehe ausführlich weiter oben (Kap. 2.4.2).
11Der Begriff Publizistik als Bezeichnung für „jegliche Art der Veröffentlichung“ geht auf Karl Jäger (1926: 67) zurück (näher dazu: Pürer 2014: 37 f.).
12Insb. in Teil III seiner penibel edierten Aufsatzsammlung kontrastiert Wolfgang Duchkowitsch (2014: 117 ff.) die publizistischen Repressionen im Absolutismus mit Aktivitäten emigrierter Publizisten in der Metternich-Ära des 19. Jhdts. Teil IV (ebd.: 249 ff.) gewährt dann beispielhafte Einsichten in das Korsett der Medienpolitik des Austrofaschismus der 1930er Jahre.
13Peters (1994: 51 ff.) weist darauf hin, dass eine derartige Rollenverteilung schon in größeren Versammlungen unvermeidlich ist und zu einer unumgänglichen „Asymmetrie von Sprecher- und Hörerrollen“ (ebd.) führt. Er erkennt außerdem bereits zu einer Zeit, in der das Internet noch in den Kinderschuhen steckt(!), dass auch „interaktive Medien“, die jedem·jeder Empfänger·in von Botschaften die Möglichkeit einer unmittelbaren Reaktion erlauben, „an diesem Problem gar nichts ändern“ würden: „Die Anzahl der aktiven Kommunikationsteilnehmer und die Zahl der Botschaften würde steigen, aber dies müsste unvermeidlich dazu führen, dass der durchschnittliche Empfängerkreis jeder einzelnen Botschaft (bei gegebenem Zeitbudget) kleiner würde“ (Peters ebd. 52).
14Ob von „Medialisierung“ oder von „Mediatisierung“ gesprochen werden soll, ist strittig (vgl. dazu sowie ausführlich zur gesamten Thematik: Steinmaurer 2016).
15Längst sind nicht nur politische Parteien, sondern auch viele Unternehmen zu Kommunikationsinstitutionen (mit Presse- bzw. Medien-, Unternehmens- oder Konzernsprecher·innen) geworden. Unsere Gesellschaft scheint sich auf „das Leitprinzip der Massenmedien – Publizität – und die spezialisierte Logik ihrer Herstellung“ (Marcinkowski/Steiner 2010: 51) fixiert zu haben.
16Der Begriff geht auf den amerikanischen Soziologen Erving Goffman (1971) zurück. Er fragt nach der einfachsten Struktur von Öffentlichkeit und erkennt: Jede zweite Person macht aus einem einsamen Individuum und sich selbst bereits eine Zusammenkunft (encounter) – zit. n. Merten 1999: 219. Gespräche bei kleineren Zusammenkünften in den Arbeiterkneipen dienten bereits im Kaiserreich (vor dem Ersten Weltkrieg) speziell beauftragten Beamten dazu, die Stimmung der arbeitenden Bevölkerung einzufangen und zu protokollieren (vgl. Evans 1989).
17So hat z. B. das deutsche Bundesverfassungsgericht die Fernsehberichterstattung bei Gerichtsverhandlungen mit der Begründung eingeschränkt, dass die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege (insb. die ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung) bei einer unbegrenzten Öffentlichkeit der Verhandlungen gefährdet wäre (Neidhardt ebd.).
18Kriesi (1994: 239 ff.) merkt an, dass Habermas allerdings noch von einem die Medienbotschaft eher passiv rezipierenden Publikum ausging; diese Vorstellung ist jedoch heute überholt. – Das nachfolgenden Kap. 6 (Wirkungsforschung) liefert dazu vielfach Belege.
19Vgl. Kleinen-von Konigslöw (2010), die detaillierte empirische Befunde dazu am Beispiel der wiedervereinten deutschen Öffentlichkeit erhoben hat.
20Die gewaltsame Zerstörung der New Yorker Zwillingstürme durch terroristische Attentäter am 11.09.2001 lassen sich infolge der medialen Live-Präsenz vor Ort als das erste welthistorische (man könnte auch sagen: weltöffentliche) Ereignis im engeren Sinn begreifen: Obwohl 9/11 ein lokales Ereignis war, wurde es „zeitgleich zu einem globalen Ereignis“, denn es „vollzog sich buchstäblich vor den Augen der Weltöffentlichkeit“ (Habermas 2004: 14).
21Er steht damit in der Tradition des US-amerikanischen Zukunftsforschers Alvin Toffler (1980), auf den das Kofferwort Prosument zurückgeht. Toffler prognostizierte damals, dass die Konsumenten in Zukunft sowohl Waren als auch Dienstleistungen nicht immer kaufen, sondern auch (z. B. in Heim- und Hausarbeit) eigenständig herstellen bzw. erbringen werden (vgl. dazu Blättel-Mink/ Hellmann 2010).
22Zur Klassifikation des Social Web (auch Web 2.0) siehe weiter oben (Kap. 2).
23Mit Digitalisierung ist die Umwandlung aller Informationen in genau definierte Werte aus einem binären 0–1-Code angesprochen – eine Idee, die sich übrigens bis ins 17. Jahrhundert zu Gottfried Wilhelm Leibniz zurückverfolgen lässt (Lenzen/Lorenz 2020). Digitalisierung sichert „eine höhere Übertragungsqualität durch Fehlererkennung und -korrektur, bei gleichzeitig geringerem Frequenzbedarf und gesenktem Energieverbrauch“ (Kleinsteuber 2013: 62). Obwohl Digitalisierung nicht zwangsläufig an den Computer gebunden ist (näher dazu: Koch 2017), wurde der Begriff im Alltagsverständnis zum Sinnbild für die moderne Computerentwicklung (Schröter/Böhnke 2004).
24Zur Internetverbreitung von 1993–2014 siehe: Media Perspektiven 2/2015: 104–106. Für den jeweils aktuellen Status siehe: www.internetworldstats.com (23.05.2021).
25Das iPhone von Apple des Jahres 2007 war die erste marktreife Version mit Internetverbindung (vgl. dazu auch die Auseinandersetzung mit dem Medien-Begriff im Kap. 2).
26Im Anschluss an den Grundgedanken, wonach die Masse (Crowd) über Kompetenzen verfügt oder Ideen entwickelt, die innerhalb der eigenen Institution möglicherweise nicht vorhanden sind oder nicht zum Ausdruck kommen, wird Crowdsourcing sogar vom österreichischen Parlament offiziell als eine Form politischer Partizipation und politischen Engagements unterstützt. https://www.parlament.gv.at/PERK/BET/CROWD/index.shtml (23.05.2021).
27Als „paradox“ gilt „etwas, das der vorherrschenden Auffassung, der Doxa, und der aus ihr resultierenden Erwartung entgegensteht“ (Neuberger ebd.: 37); man muss erkennen, dass eine gängige, bislang kaum angezweifelte Erklärung nicht (mehr) stimmt (ebd.).
28Auf die Gatekeeper-Forschung wird weiter unten (Kap. 7.3) näher eingegangen.
29Axel Bruns (2005) hat dafür den Begriff Gatewatching (als Gegenbegriff zu Gatekeeping) geprägt. Vgl. dazu näher Kap. 7.3.
30Gemeint sind z. B. die Mediatheken von ARD und ZDF, die ARD Audiothek, die TVthek und die Radiothek des ORF oder der Streamingdienst Joyn von ProSiebenSat1 sowie die Webpräsenzen der Printmedien.
31Es macht in einem Lehrbuch wenig Sinn, Fakten wie diese mit allzu detaillierten Prozentzahlen zu versehen, die relativ schnell veralten. Stattdessen sei auf das Webarchiv zur (seit 1964 regelmäßig, repräsentativ für die deutsche Bevölkerung durchgeführten) ARD/ZDF-Onlinestudie verwiesen, wo viele der hier erwähnten Daten kontinuierlich fortgeschrieben werden und permanent abrufbar sind. Ähnliches gilt für die ORF-Medienforschung, was entsprechende Daten aus Österreich betrifft.
32In Deutschland sind das etablierte Medienmarken wie ARD Tagesschau, ZDF heute, Die ZEIT, Süddeutsche Zeitung, n-tv, Der Spiegel. In Österreich: ORF, Standard, Presse, Servus TV, Kurier (Newman 2020).
33Nicht berücksichtigt sind hier die von China aus operierenden Internet-Unternehmen, wie Alibaba, Tencent oder Bytedance.
34Vgl. dazu den Exkurs zu Gegenöffentlichkeiten im Kap. 7.9.2.
35Vgl. dazu das Kapitel 7.2.1 über Fake News.
36Cambridge Analytica war ein britisch-amerikanisches Datenanalyse-Unternehmen, das in den Jahren 2015/16 persönliche Daten von US-amerikanischen Facebook-Nutzern für Wahlkampf-Aktivitäten der republikanischen Partei nutzbar machte (vgl. Hübl 2018).
37Als Leitmedien gelten Medien, die maßgeblich einen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte leisten und die einen prägenden Einfluss auf die Berichterstattung anderer Medien haben (Künzler 2013).
38Das Reuters Institute for the Study of Journalism (2020) in Oxford befragt seit 2012 Menschen über ihren Nachrichtenkonsum. Kooperationspartner in Österreich ist der Fachbereich Kommunikationswissenschaft an der Universität Salzburg (Gadringer et al: 2020).
39Die APA (Austria Presseagentur) ist Österreichs größte nationale Nachrichtenagentur. Sie ist genossenschaftlich organisiert – Genossenschafter sind österreichische Tageszeitungen sowie der öffentlich-rechtliche Rundfunk (ORF).
40Die Zahlen beziehen sich auf 2019 – vgl. dazu auch die überblicksartige Darstellung von Eisenegger/Schneider/Schwaiger (2020: 13), publiziert in einer lesenswerten und öffentlich zugänglichen Public Value-Publikation des ORF (Mitschka/Unterberger 2020).
41Siehe dazu ausführlich das Kap. 7.2.1 zu Fake News und Desinformation.
42Bezahlmodelle für hochwertige journalistische Online-Produkte könnten sich vielleicht bald auch kaufmännisch rechnen, denn insb. beim jüngeren Publikum ist die Zahlungsbereitschaft für Online-Nachrichten (wenn auch noch zaghaft) im Steigen begriffen (Gadringer/Holzinger/Sparviero/ Trappel/Nening – Pressemitteilung 2018: 15).
43Siehe dazu auch den Abschnitt zur Individualisieurung der Medienreperttiores bei Schrape (2021: 160 ff.).
44Intermedius (lat.) steht für das „Dazwischenliegende“. Es geht – so Jarren (2008: 339) – „um die Vermittlung des Differenten (…) Vorrangige Aufgabe der Medien als intermediäre Instanz ist es, den (artikulierten) Themen und Deutungen öffentliche Resonanz zu verleihen. Sie sind aber nicht ‚reine’ Verlautbarungs- oder Wiedergabeeinrichtungen, sondern sie selektieren Themen, deuten diese eigenständig und nehmen insoweit eine Transformation vor. Diese intermediäre Leistung ist für die gesellschaftlichen Akteure wie für das Publikum gleichermaßen relevant.“