Читать книгу Die neue Macht - Roland Enders - Страница 4
Die Dürre des Herzens
ОглавлениеGormen Helath ließ den Blick über die am großen Eichentisch versammelten Personen schweifen: die Schwarzen Mönche des Führungszirkels des Klosters, mit ihm sieben an der Zahl. Darunter zwei Frauen: die Feuermagierin Duna, die den jungen Attentäter außer Gefecht gesetzt hatte, und eine grauhaarige Ordensschwester.
„Nunoc Baryth ist tot“, begann er. „Meine Seele ist voller Trauer, denn wie ihr habe ich einen väterlichen Freund verloren. Nunoc zeigte sich stets als gütiger Mensch, in der Not immer für uns da, ein guter Ratgeber, wenn wir mit Sorgen zu ihm kamen. Und er zeichnete sich als großer Anführer aus. Unter seiner Leitung hat sich der Orden hervorragend entwickelt, und wir haben neue Mitglieder gewonnen. Sein Tod ist ein gewaltiger Verlust für unsere Gemeinschaft und jeden Einzelnen von uns. Nun obliegt es mir, seinem Stellvertreter, das Kloster bis zur Wahl eines neuen Abts zu führen. Diese Pflicht ist sehr schmerzlich für mich. Ich hoffe, ich kann der Verantwortung gerecht werden.“
Ein Mönch namens Teuben, ein dicklicher Mann mit verblassten Tätowierungen auf dem kahlen Schädel, erhob sich:
„Es steht doch außer Frage, Gormen: Wir wählen dich zum Abt. Keiner ist geeigneter für das Amt. Aber bevor wir zur Wahl schreiten, müssen wir erst die Umstände von Nunocs Tod vollständig aufklären. Was hast du von den beiden Attentätern erfahren?“
„Mit dem Soldaten habe ich bisher nicht sprechen können. Er ist immer noch ohnmächtig. Doch er kommt durch. Der Junge hat freiwillig Auskunft gegeben. Er schien überzeugt davon, seine Tat sei gerechtfertigt. Ihr wisst ja, Athlan Gadennyn, der Lord von Shoala, hat ihm den Mordauftrag erteilt. Damit haben sich Nunocs schlimmste Befürchtungen bestätigt. Athlan ist die Reinkarnation von Semanius.“
„Was hat das Verhör des Jungen über Gadennyn noch ergeben?“, erkundigte sich ein anderer Mönch.
„Leider gar nichts. Er ist in einen Schockzustand gefallen, liegt mit offenen Augen da, spricht, trinkt und isst nicht. Er hat ganz offensichtlich nicht gewusst, dass ihn Semanius als Werkzeug missbrauchte. Gadennyn hat ihn irgendwie glauben gemacht, unser Abt sei der wiedergeborene Semanius. Aus Traigar, so heißt der junge Mann, bekommen wir vorläufig nichts mehr heraus. Er leidet an der Dürre des Herzens.“
„Dürre des Herzens? Was ist das?“, erkundigte sich Duna.
„Eine Gemütskrankheit. Wenn ein Mensch eine schreckliche Tat begeht, belastet das sein Gewissen schwer. Manchmal kann er das nicht ertragen und zieht sich tief in sein inneres Selbst zurück. Der Volksmund sagt: Das Herz trocknet aus. Der Kranke verdrängt alle Empfindungen, um den Seelenschmerz über das begangene Unrecht nicht mehr fühlen zu müssen. In manchen Fällen gelingt ihm das nur, wenn er sein Denken ganz ausschaltet. Er befindet sich dann in einem schlafähnlichen Zustand. Seine Augen sind geöffnet, er sieht und hört, aber er versteht nicht, was ihm seine Sinne mitteilen.“
„Bist du sicher, er spielt uns das nicht vor, um der Strafe für seine barbarische Tat zu entgehen?“
„Vollkommen sicher. Traigar ist kein Mörder. Der Junge ist selbst ein Opfer Gadennyns.“
Einer der Mönche widersprach:
„Das spielt keine Rolle. Wir müssen ihn bestrafen. Diese Tat darf nicht ungesühnt bleiben!“
Gormen Helath blickte den Jüngeren eindringlich an und erinnerte ihn:
„Das ist eines Mönchs des Schwarzen Weges nicht würdig, Benic! Erinnere dich an Nunoc Baryths Worte zum rechten Weg:
Der Weiße Weg scheint einfach und klar, aber er führt in die Irre: Glaube sei Erlösung, täuscht er uns. Unglaube bedeute Verdammnis. Schuld verlange Strafe, Vergebung sei Schwäche. Zahle stets mit gleicher Münze zurück, verlangt er.
Der Schwarze Weg ist beschwerlicher und doch der rechte: Der Zweifel weist uns den Pfad zur Erkenntnis. Frommer Glaube webt ein Gespinst, das die Wahrheit verbirgt. Ihr sollt stets zweifeln und abwägen. Zweifelt an der Moral des Oberflächlichen, an Dogmen und Doktrinen, zweifelt an euch selbst, wägt jede Entscheidung in freiem Willen ab und lasst euch nicht sagen, was richtig oder falsch sei, ja, zweifelt auch an meinen Worten!
So lehrte er uns. Vergesst nicht, der Schwarze Weg ist der des Zweifels, aber auch der Gnade und Vergebung. Die Schuld selbst ist eine Last, eine Strafe. Deshalb übt nicht Vergeltung an denen, die euch Unrecht angetan haben. Helft ihnen, die Schuld zu überwinden.“
Benic senkte die Augen.
„Danke, dass du mich daran erinnert hast, Gormen. Es tut mir leid! Der Schmerz über unseren Verlust ist groß, und deshalb trübten Rachegedanken meine Vernunft.“
„Ich kann dich verstehen, Benic. Mir geht es wie dir.“ Duna klang aufgebracht. „Wir können die Mörder nicht einfach so davonkommen lassen. Denn Nunoc meinte auch, dass schwere Verfehlungen bestraft werden müssen.“
„Das ist richtig“, pflichtete ihr Gormen Helath bei. „Doch er sprach nicht von Rache oder Vergeltung, sondern davon, die Gesellschaft vor dem Täter zu schützen und den Täter vor sich selbst. Er soll Gelegenheit bekommen, über seine Tat nachzudenken und sie zu bereuen. Ein Dieb, der nicht tief in seinem Inneren versteht, wie er dem Bestohlenen, gleichgültig ob reich oder arm, schadet, hört nicht auf zu stehlen. Er muss erst erkennen: Der Schaden ist nicht nur materiell, er verletzt durch seine Handlung auch die Würde des anderen. Er soll begreifen, was er seinem Opfer angetan hat, wie dieses sich fühlt. Das gelingt manchmal mit einer angemessenen Bestrafung. Doch im Fall Traigars hätte sie keinen Sinn. Der Junge ist schon mehr als genug gestraft.“
„Und der andere? Dieser Ritter? Weiß er auch nicht, was er getan hat?“
„Wir werden sehen. Ich verhöre den Mann, sobald er wieder bei Sinnen ist.“
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Versammlungsraums. Ein Mönch in grauer Kutte trat ein.
„Verzeiht die Störung. Einer der Jäger wünscht Euch zu sprechen, Gormen. Es sei sehr wichtig, sagt er.“
„Schicke ihn herein.“
Ein Mann, dessen braun-grün gefleckte Lederkleidung ihn aussehen ließ, als wäre er mit Blättern und Gras bewachsen, betrat den Raum. Gormen Helath forderte den Späher mit einem Nicken auf zu sprechen.
„Ihr habt uns angewiesen, die Augen offen zu halten und zu berichten, falls sich etwas Ungewöhnliches in der Nähe tut“, sagte der Jäger. „Nun, ich habe einige berittene Fremde im Nachbartal entdeckt, die sich offensichtlich dort verstecken. Ich zählte allerdings mehr Pferde als Menschen und nehme daher an, die Gruppe umfasst mehr Personen, als ich gesehen habe. Ich fand außerdem einige Fährten, die über den Höhenrücken zwischen den Tälern führen. Ich vermute, mindestens zwei dieser Fremden halten sich hier im Klostertal auf.“
Unruhe breitete sich unter den Mönchen aus. Der stellvertretende Abt hob die Hand und gebot Ruhe.
„Das werden die zwei sein, die wir bereits in Gewahrsam haben, also Traigar und der Soldat, dessen Namen wir noch nicht kennen. Sie haben demnach Komplizen.“
Er wandte sich an einen der schwarz gekleideten Mönche:
„Methor, weise ein paar deiner Leute an, sie einzufangen. Sie dürfen aber kein Blut vergießen! Und du“, wandte er sich wieder an den Jäger, „begleitest sie und zeigst den Schwarzen Kämpfern den Lagerplatz der Fremden.“
Wenig später betrat Gormen Helath mit Duna den dunklen Kellerraum, in dem Hauptmann Gother gefesselt auf einer schmalen Pritsche saß. Einer seiner Wächter hatte ihm mitgeteilt, der Gefangene sei aufgewacht.
„Wer bist du?“, wollte Gormen mit scharfer Stimme wissen. Gother antwortete nicht.
„Wer hat dich geschickt?“ Schweigen.
„Bist du zu feige, um dich zu deinem Namen zu bekennen?“
Die Augen des Gefangenen blitzten wütend auf.
„Ich bin Hauptmann Gother.“
Der Stellvertreter Nunoc Baryths musterte ihn eindringlich. „Ich kenne dich, ich habe dich schon einmal gesehen.“
Gother presste die Lippen zusammen und schwieg.
„Ja, jetzt erinnere ich mich: Du warst vor mehr als einem Jahr hier im Kloster. Du hast auf dem Wagen eines Bierbrauers gesessen und dich als sein Gehilfe ausgegeben! Als Stellvertreter des Abts hatte ich auch den Posten des Zahlmeisters des Klosters inne. Du bist mir gleich verdächtig vorgekommen. Als ich dich anwies, du sollest das Leichtbier in den ersten und das Starkbier in den zweiten Kellerraum bringen, hast du die Fässer verwechselt. Der Brauer musste deinen Irrtum korrigieren. Von Bier verstehst du nicht genug, um mich zu täuschen. Ich erkannte deine heimlichen Blicke, die mehr als bloße Neugier widerspiegelten. Die Blicke eines Spions! Als ich Nunoc Baryth von meinem Verdacht berichtete, schickte er einen unserer Schwarzen Kämpfer hinter dir her, um herauszufinden, was du vorhast. Er ist nie zurückgekehrt. Was hast du mit ihm gemacht?“
„Ich habe ihn getötet.“ Aus Gothers Stimme klang unverhohlener Stolz.
Gormens Hand schoss nach vorn, seine Finger krümmten sich in der Luft zu Krallen, als würgten sie einen unsichtbaren Gegner. Der etwas entfernt sitzende Gefangene schnappte nach Luft, die Augen traten aus den Höhlen.
„Gormen!“, zischte Duna scharf.
Der Schwarze Mönch ließ die Hand sinken. Röchelnd sog Gother die Luft ein.
„Vollende doch, was dein Herr begonnen hat, und töte mich“. Seine Stimme klang rau und gepresst. „Oder will er es selbst zu Ende führen?“
„Du Scheusal!“, schrie Duna. „Er wäre niemals zum Mörder geworden, nicht einmal an dir. Ihr seid die Meuchelmörder!“
Gother runzelte nachdenklich die Stirn, dann begriff er. Für einen Moment erschien ein Ausdruck von Triumph auf seinem Gesicht.
„Dann ist er also tot? Der Junge hat seinen Auftrag demnach doch erfüllt!“
„Ja, Nunoc Baryth ist tot“. Gormen klang müde. „Euer Herr, Athlan Gadennyn, hat sein Ziel erreicht.“
Gother lächelte. „Nun steht ihm kein würdiger Gegner mehr im Weg. Semanius vereint das Alte Königreich bald wieder unter seiner Herrschaft.“
Duna starrte Gormen mit blitzenden Augen an. „Du kanntest also das wahre Gesicht Gadennyns! Im Gegensatz zu Traigar, den sein Herr getäuscht hat.“
***
Gadennyn biss gerade in eine blaue Weinbeere und verschluckte sich fast daran, als er es spürte: das unbändige Triumphgefühl des Hauptmanns. Der Lord, mit seinem Untergebenen über ein schwaches geistiges Band verbunden, konnte über zweitausend Meilen hinweg nicht mit Gothers Augen sehen und auch nicht dessen Gedanken lesen. Er empfand jedoch einen Hauch von dessen Emotionen. Das Unternehmen schien bisher unter einem schlechten Stern gestanden zu haben, denn bis eben hatte er nur Gothers Zweifel, Ärger, Wut und Frustration gespürt. Doch jetzt erkannte er deutlich die Freude über den Sieg. Nunoc Baryth musste also tot sein!
Eine Furcht fiel von Gadennyn ab, doch Gothers triumphales Glücksgefühl konnte er nicht teilen. Eigentlich hätte er große Erleichterung verspüren sollen, aber seine Gefühle blieben seltsam gedämpft und widersprüchlich. Es stand außer Frage: Traigar, Gother und die anderen würden den Schwarzen Mönchen nicht entkommen und für diese Tat bezahlen. Er empfand ein wenig Mitgefühl für seine Untergebenen, weil er sie in den sicheren Tod geschickt hatte. Doch es hatte sich als notwendig erwiesen. Er konnte nicht einmal Genugtuung darüber empfinden, dass sein ehemaliger Lehrer und gefährlichster Widersacher Nunoc Baryth nun nicht mehr unter den Lebenden weilte.
Gadennyn schüttelte seine seltsamen und beunruhigenden Empfindungen ab, wie jemand, der den Staub von seiner Kleidung klopft. Jetzt musste er sich der Zukunft und seinen Plänen widmen. Aturo Pratt sollte nun seine Schuld bei ihm begleichen.
Der Lord erinnerte sich: Nachdem Traigar und Harold seinen Burgverwalter des Mordes an Wingers Frau überführt hatten, lehnte er eine Gerichtsverhandlung in der Burg mit der Begründung ab, sein Sekretär fiele als Beamter des Königs unter die Gerichtsbarkeit des Hofes. Er ließ ihn von einer Eskorte aus Soldaten nach Inay überführen und gab dem Offizier einen Brief an den König mit. Der Mann glaubte, er übermittele mit dem Brief die Mordanklage und ritt mit seinen Leuten nach der Überstellung des Gefangenen zurück nach Shoal. In dem Brief stand jedoch nichts von einem Mord. Stattdessen enthielt er ein von Pratt unterzeichnetes und von Gadennyn bewilligtes Versetzungsgesuch an den königlichen Hof. Der Lord von Shoala hatte Pratt angeboten, für ihn als Spion zu arbeiten und ihm im Gegenzug Straffreiheit versprochen. Doch er hatte viel mehr mit Pratt vor. Es genügte ihm nicht zu wissen, was am Hof vorging. Der ehemalige Burgverwalter würde als sein verlängerter Arm dienen und für ihn – wenn die Zeit reif war – nach der Krone greifen.
Gadennyn ließ sich Feder und Pergament bringen und setzte einen Brief an Pratt auf, den er persönlich verschloss und versiegelte.
***
Gormen war mit Duna in den Versammlungsraum des Klosters zurückgekehrt.
„Es ist wahr“, berichtete er den anderen Ordensmitgliedern. „Gother ist der Einzige, der von der wahren Identität seines Herrn wusste. Traigar und seine Begleiter waren tatsächlich fest davon überzeugt, Nunoc sei der wiedergeborene Semanius. Das hat uns der Gefangene bestätigt.“
„Und was ändert das?“ meldete sich die ältere Frau zu Wort.
„Sie könnten sich als wertvolle Verbündete gegen Gadennyn erweisen. Sie kennen seine Burg und das Land, das sie umgibt. Traigar scheint eine beachtliche magische Begabung zu besitzen. Sie haben ihre Fähigkeit und Entschlossenheit schon bewiesen. Semanius konnte sie davon überzeugen, sich auf die lange und gefährliche Reise zum Land des vermeintlichen Feindes zu begeben. Sie hätten ihr Leben für diese Mission geopfert – leider für die falsche Seite. Vielleicht sind sie ja bereit, das Gleiche für die richtige zu tun.“
„Meinst du denn, wir können ihnen vertrauen?“
„Das wird sich erweisen. Wir wollen sehen, wie sie reagieren, wenn wir ihnen mitteilen, dass sie von ihrem Herrn verraten wurden.“
Traigar befindet sich in der Unterwelt, der Heimat der Geister und Dämonen, dem Reich Wathan-Khas, Fürst der Schatten. Dunkelheit und Kälte herrschen an diesem Ort. Er wandert ziellos in einer grauen Ödnis umher. Kein Strauch, kein Halm wächst in dieser steinernen Wüste, keine Vogelstimme, kein Summen von Insekten durchbricht die Grabesstille. Er wandelt im Reich des Todes. Er fühlt, sein Körper lebt noch, aber seine Seele spürt er nicht. Ist sie verloren?
Er ahnt, er hat etwas Schlimmes getan, bloß was? Er erinnert sich nicht. Soll er büßen für ein Verbrechen, dessen er sich nicht entsinnen kann? Er hat sein Gedächtnis von der frühen Kindheit an durchforscht, aber es endet abrupt bei seinem Artistenleben im Wanderzirkus. Was ist danach geschehen?
Grausame Eindrücke aus einem Krieg erscheinen vage vor seinem inneren Auge. Die Bilder schärfen sich: Leichen und Verstümmelte ringsumher. Eine gesichtslose Gestalt mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf taumelt über die Schlachtfelder, der einzige Überlebende weit und breit. Ist er es selbst, der da durch dieses Land des Schreckens wandelt? Ist er es, der diese furchtbaren Taten begangen hat?
Traigar verjagt die Traumbilder und setzt seinen Weg durch die trostlose Einöde fort, folgt ziellos seinem Schatten. Schatten? Am düsteren Himmel scheint doch gar keine Sonne! Woher kommt dann der dunkle Scherenschnitt, der ihn begleitet? Die schwarze Silhouette auf dem Boden vor ihm materialisiert und richtet sich auf: Ein seltsames Wesen, diese bleiche und ausgemergelte, fast durchscheinende Gestalt mit dem Insektenkopf. Große, schwarze Facettenaugen, stumpf und matt, bar jeden Lebenfunkens, starren ihn an.
„Wer bist du?“, fordert Traigar zu erfahren.
Als der Fremde spricht, bewegen sich die Mandibeln des Insektenmauls, und die Fühler wippen auf und ab.
„Dein Schatten, das was von dir in der wirklichen Welt noch übrig ist.“
„Ich bin ein Insekt?“
„Dummkopf! Du weißt, du warst ein Mensch. Du erkennst dich in dieser Gestalt wieder, weil du keine Gefühle mehr besitzt. Dein Herz ist so kalt wie das eines Ungeziefers.“
„Aber ich fühle doch etwas!“
„Wenn ich von Gefühlen spreche, dann meine ich Empfindungen für andere, nicht Angst und Selbstmitleid, wie sie alle Wesen in der Unterwelt verspüren. Sag mir: Spürst du Reue, Liebe, Mitleid?“
Traigar schweigt. Jetzt erkennt er, er bedauert wirklich nur sich selbst. Doch für wen soll er sonst etwas empfinden, wenn er sich an keine Person aus seinem Leben erinnert? Was soll er bereuen, wenn er nicht weiß, was er getan hat? Wütend erwidert er:
„Du hast gut reden! Ich weiß überhaupt nicht, weshalb ich hier bin.“
„Du bist ein Mörder“, klagt ihn sein Schatten an, „deshalb befindest du dich an diesem Ort.“
Traigar fühlt sich geschockt. „Was habe ich getan? Wen habe ich ermordet?“
„Deine Laufbahn als Mörder begann früh. Schon als Kind hast du einen anderen Jungen fast umgebracht, als du ihn gegen einen Baum schleudertest. Beim zweiten Mal warst du erfolgreicher. Du hast einen Schwarzen Kämpfer in das Schwert Gothers gestürzt. Als Entlastung kann man vielleicht anführen: Du hattest Angst und fühltest dich bedroht. Aber kurz darauf hättest du fast deinen Lehrer Harold umgebracht, als du ihm ein Weinfass gegen den Kopf werfen wolltest. Im letzten Moment hat deine Vernunft noch einmal gesiegt.
Dein nächstes Opfer war eine alte Frau. Du hast sie in so große Angst versetzt, dass ihr Herz stehenblieb. Dann folgte ein Tyrannenmord. Zugegeben, er wäre berechtigt, wenn sein Motiv so edel gewesen wäre, wie du gerne glauben möchtest. Aber du hast Amaran nicht getötet, um euch zu retten und einen Krieg zu verhindern, sondern aus blankem Hass und heißer roter Wut!
Und schließlich dein größtes Verbrechen, dein letztes Opfer: ein guter Mann. Sein Name war Nunoc Baryth.“
Traigar fällt alles wieder ein. Kaltes Entsetzen packt ihn. Er beginnt zu schreien. Schreit, bis ihm fast die Lunge birst und er nach Luft schnappt. Der Fremde wartet ungerührt ab, bis die Schreie zu einem leisen Wimmern verebben, bevor er fortfährt:
„Zu schreien nutzt dir gar nichts. Ich erkenne aber an: Nicht nur Selbstmitleid, sondern auch echte Reue verursachen deine Pein. Dein Schatten in der wirklichen Welt zeigt sich nur schwach. Noch kannst du in sie zurückkehren, wenn du deine Taten wenigstens zum Teil ungeschehen machst.“
Traigar hat sich wieder etwas gefasst. Hoffnung keimt in ihm auf.
„Was soll ich tun?“
„Du musst den wahren Semanius aufhalten.“
Winger hatte auf Schlaf verzichtet und wanderte fast die ganze Nacht hindurch. Der Wald lag bald hinter ihm, und der große Mann stieg einen sanft ansteigenden Hang hinauf, bis der Mond unterging und das Licht zu schwach war, um den Weg fortzusetzen. Da legte er sich auf den harten Boden, und seine Augen fielen zu. Beim ersten Morgengrauen kletterte er weiter, darum bemüht, keine verräterischen Spuren zu hinterlassen. Er hoffte, selbst Spin, der außergewöhnlich gute Kundschafter und Spurenleser, könne auf diesem felsigen Untergrund seine Fährte nicht entdecken.
Jetzt befand sich der Baumeister hoch oben auf der Flanke des Berges, dessen Ausläufer einen Rücken zwischen den beiden Tälern bildete, und spähte hinab. Im linken entdeckte er das Kloster und im rechten das Wäldchen, in dem sich die Gefährten versteckt hielten. Hier oben fühlte er sich sicher, sowohl vor seinen Begleitern, die ihn wohl vermissten und wahrscheinlich schon suchten, als auch vor den Schergen des Schwarzen Abts.
Doch wie sollte er nun in Erfahrung bringen, was im Kloster geschehen war? Hatten Traigar und Gother Erfolg gehabt oder versagt? Winger hatte auf ein Zeichen gehofft, vielleicht auf einen Alarm oder das Glockengeläut für eine Aufbahrung. Aber nichts war geschehen. Alles wirkte friedlich im Kloster. Kein Anzeichen von Aufregung oder Trauer. Er schalt sich einen Dummkopf. Was hatte er sich eigentlich vorgestellt? Dass ihm Wathan-Bejhi erscheinen würde? ‚Winger mein guter Diener: Traigars Mission ist erfolglos geblieben. Nun ist es an dir, sie zu vollenden. Gehe denn mit meinem Segen.’
Der Baumeister verfluchte seine Dummheit. Offenbar hatte ihm der jahrelange Missbrauch von Wein und Schnaps den Verstand vernebelt. Unschlüssig, ob er zurückkehren sollte, ließ er sich auf einen Stein sinken und stierte vor sich hin. Auf einmal erregte etwas seine Aufmerksamkeit: Auf dem Höhenzug zwischen den Tälern bewegte sich etwas! Kleine schwarze Punkte, aus der Ferne winzig wie Ameisen. Vielleicht Schafe? Nein, die würden nicht zielgerichtet den Bergrücken überqueren, sich auf der anderen Flanke verteilen und von allen Seiten in den Wald eindringen! Winger sprang auf und hastete mit großen Sätzen den Hang hinab.
Spin verfolgte die Spur des Baumeisters ein Stück, bis der steinige Boden keine Stiefelabdrücke mehr zeigte. Es schien, als habe Winger das Wäldchen verlassen und sei immer weiter den Hang hinaufgestiegen. Der Waldläufer gab die Suche nach dem Verschwundenen auf, kehrte zurück zu den Gefährten und erklärte ihnen seine Vermutung:
„Ich hoffe, es ist ihm nichts geschehen. Vielleicht ist er unserer Gesellschaft ja einfach überdrüssig und deshalb fortgegangen.“
„Ein Fahnenflüchtiger ist er!“, zischte Dremion. „Der Hauptmann hatte recht. Wir hätten ihm nicht trauen sollen.“
Boc wischte die Bemerkung des Soldaten mit einer Handbewegung beiseite.
„Er wird schon allein zurechtkommen. Wir haben Wichtigeres zu tun, als ihn zu suchen. Traigar und Gother sind nun schon fast einen Tag in der Hand des Schwarzen Ordens. Wir wissen nicht, wie es ihnen geht. Wir müssen mehr über ihr Schicksal herausfinden.“
„Ich gehe!“ Cora klang sehr bestimmt. „Ich reite einfach ganz offen durch die Schlucht in das Klostertal. Den Wachen am Eingang tische ich irgendeine Geschichte auf, etwas in der Art: Arme Frau auf der Flucht vor Räubern, die ihren Mann ermordet haben und sie schänden wollen, sucht Zuflucht bei edlen Mönchen.“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage!“, begehrte Boc auf. „Ich …“
„Still!“, zischte Spin. „Da kommt jemand.“
Sie lauschten und vernahmen das leise Knacken und Rascheln von Füßen, die auf trockene Zweige und Blätter traten. Es kam von allen Seiten! Kurz darauf traten etwa zwei Duzend Männer in schwarzen Kutten mit drohend erhobenen Kampfstäben auf die Lichtung und umzingelten die Gefährten. Dremion zog sein Schwert, doch Spin hielt Gegenwehr bei dieser Überzahl für sinnlos.
Ein Mann trat vor und schlug seine Kapuze zurück. Rote Zeichen bedeckten Schädel und Gesicht des Schwarzen Kämpfers.
„Wir wollen euch nichts tun“, sagte er mit sanfter Stimme. „Bitte übergebt uns eure Waffen und folgt uns.“