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Der Schwur

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Traigars Zunge fühlte sich an wie eine dicke, ausgetrocknete Schnecke. Seine verdorrte Kehle kratzte, und sein Kopf dröhnte, als habe ihn jemand als Pauke benutzt. Er schlug die Augen auf. Er lag immer noch auf demselben Bett, stellte er fest, jetzt aber nicht mehr an die Bettpfosten gefesselt. Er richtete sich auf. Auf einem Nachttisch fand er einen Krug mit Wasser und einen Becher. Er schenkte sich ein und leerte ihn durstig, wobei sein Hals beim Schlucken schmerzte.

Traigar fühlte sich völlig entkräftet. Seine Hand, die den erneut gefüllten Becher zum Mund führte, zitterte stark, und er vergoss ein paar Tropfen.

Er erinnerte sich jetzt wieder an alles, und deshalb fühlte er sich so grauenvoll. Die Stimme in seinem Traum hatte ihm vorgehalten, er sei ein Mörder. Und es stimmte! Gadennyn hatte ihn hinters Licht geführt, daran bestand kein Zweifel mehr. Der Schatten in der Unterwelt hatte ihn überzeugt. Die Autorität, die das insektenhafte Wesen ausstrahlte, machten Traigar sicher, es konnte sich nur um Wathan gehandelt haben.

Wie sollte er den Mönchen in die Augen blicken können, denen er den Anführer und einen geliebten Menschen genommen hatte? Er fühlte unbändigen Hass auf Gadennyn in sich emporsteigen und ballte die Fäuste, bis das Blut aus ihnen wich und die Knöchel weiß durch die Haut schimmerten. Doch seine Wut schlug rasch in Trauer und Selbstverachtung um. Er hatte als Todeswerkzeug des Lords gedient und damit große Schuld auf sich geladen.

Bedrückt erhob Traigar sich und wankte zum Fenster. Von hier aus konnte er in den Hof des Klosters hinabschauen. Ein Schreck durchfuhr ihn, als er einige seiner Gefährten dort unten erblickte. Sie saßen gefesselt auf dem gepflasterten Boden, und zwei in Schwarz gekleidete und mit Kampfstäben bewaffnete Männer bewachten sie. Er entdeckte Spin, Boc, Cora und Dremion. Von Winger und Gother keine Spur. Sind sie vielleicht entkommen? Hoffentlich, dachte er.

Traigar trat zur Tür. Er musste zu seinen Gefährten, ihnen das Unfassbare erklären, seinen furchtbaren Fehler gestehen. Ohne Hoffnung drückte er die Klinke nieder und fand den Ausgang zu seinem Erstaunen unverschlossen. Draußen erstreckte sich ein kurzer Flur mit einigen weiteren Türen, der in ein Treppenhaus mündete. Er folgte den Stufen hinab in eine Halle, öffnete die Pforte zum Hof und trat hinaus. Die Sonne stand im Südosten - Vormittag. Er musste einen ganzen Tag und eine Nacht geschlafen haben! Hatten ihm die Mönche etwas eingeflößt? Langsam schlurfte er zu den Gefangenen in der Mitte des Hofs. Cora entdeckte ihn als Erste und stieß einen Ruf der Überraschung aus, durch den die Wächter alarmiert wurden. Doch sie stürzten sich nicht wie erwartet auf Traigar, um ihn wieder festzunehmen. Stattdessen entfernte sich einer der Mönche und verschwand im Klosterturm.

Traigar erreichte die Freunde, die ihn bestürzt anblickten. Sie schienen nicht zu wissen, ob sie sich freuen sollten, ihn unverletzt und frei zu sehen, oder sich um ihn sorgen sollten, weil er so unendlich traurig wirkte.

„Ich …“, setzte er an, doch Spin unterbrach ihn.

„Ich weiß, Traigar. Ich habe alles gesehen. Du hast Semanius getötet.“

„Du weißt gar nichts. Nicht Semanius!“ Die Stimme des jungen Magiers brach fast. „Nunoc Baryth war ein großer und verdienstvoller Mann. Die Welt ist viel ärmer ohne ihn. Ich habe einen Unschuldigen getötet. Doch das ist noch nicht das Schlimmste: Der wahre Semanius ist …“

„Lord Gadennyn!“, unterbrach ihn eine Stimme in seinem Rücken in fast akzentfreiem Koridreanisch. Gormen Helath, der neue Führer des Ordens, trat neben ihn.

Er musterte die Gefangenen, die nicht zu begreifen schienen, was der große, schlanke Mann ihnen da erzählte. Doch der ließ ihnen keine Zeit, das Unvorstellbare zu verstehen.

„Euer Herr, der Lord von Shoala, hat euch an der Nase herumgeführt. Immerhin sei euch eines zu Gute gehalten: Ihr wusstet nicht, was ihr tatet. Mit einer Ausnahme: Gother hat gestanden, dass er Gadennyns Absichten und dessen wahre Identität als Einziger kannte.

Wir haben lange darüber nachgedacht, wie wir mit euch verfahren sollen. Viele von uns wollten euch hart bestrafen, denn das Unheil, das ihr angerichtet habt, ist groß. Vielleicht gelingt es Semanius Dank eurer Hilfe jetzt, die Welt ins Verderben zu stürzen. Doch ich messe mir einige Menschenkenntnis zu und bin mir sicher, Traigar bereut seine Tat und will sie wiedergutmachen. Ich gebe auch euch die Gelegenheit dazu, wenn ihr dem Orden bedingungslose Treue schwört. Ich lasse euch nun allein, damit ihr darüber nachdenken könnt. In zwei Stunden kehre ich zurück und erwarte eure Antwort.“

Diese beiden Stunden zählten für die Gefährten zu den schlimmsten ihres Lebens. Als ihnen ins Bewusstsein drang, was sie angerichtet hatten und in welchem Ausmaß Gadennyn ihre Loyalität missbraucht hatte, versanken sie zunächst in tiefe Trübsal, stierten auf den Boden und wälzten dunkle Gedanken. Irgendwann rief Cora sie dazu auf, miteinander zu reden. Aber sie sprachen nicht über das, was vor ihnen lag, sondern über die Vergangenheit, über verpasste Chancen, suchten Gründe für ihr Verhalten, Ausreden und Entschuldigungen. Sie verfluchten Gadennyn und Gother. Vor allem Dremion fühlte sich von seinem Vorgesetzten tief enttäuscht.

Traigar beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Er grübelte und machte sich heftige Vorwürfe. Wenn jemand aus ihrer Gemeinschaft neben dem verräterischen Hauptmann Schuld trug, dann er selbst. Seine Freunde hatten ihn auf dieser Mission um seinetwillen begleitet, ihm vertraut. Traigar hätte Gother besser kennen müssen als sie, ja selbst besser als Dremion, dessen Untergebener. Der junge Magier hatte sich von dem Hauptmann und vor allem von Gadennyn hintergehen lassen. Seine Menschenkenntnis hatte aufs Schlimmste versagt. Erst ganz am Schluss der Reise war sein Gewissen erwacht, und dennoch hatte er nicht auf sein Herz gehört und den Schwarzen Abt getötet. Die Erinnerung an seine furchtbare Traumreise durch die Unterwelt und die insektenhafte Gestalt, die ihn zur Rede gestellt hatte, kam wieder auf. Das Wesen – konnte es wirklich Wathan gewesen sein? – hatte Traigar eine neue Aufgabe gegeben. Er sollte den wahren Semanius zur Strecke bringen, um seine Schuld zu begleichen. Nur dadurch würde er seinen Seelenfrieden wiedergewinnen. Entschlossen unterbrach er die fruchtlose Debatte seiner Gefährten.

„Ja, wir sind verraten worden und haben einen schlimmen Fehler gemacht. Wir waren uns einig im Ziel unserer Mission und haben uns furchtbar geirrt. Aber ich habe die Tat begangen! Dafür seid ihr nicht verantwortlich. Ich werde wohl nie überwinden, was ich getan habe. Ein schlechtes Gewissen ist die mindeste aller Strafen, die ich für ein solches Verbrechen verdiene. Doch es hilft nichts, wenn wir jammern und uns selbst bemitleiden. Wir müssen Semanius’ Pläne, das Land zu unterjochen, durchkreuzen.“

Seine Gefährten stritten ab, dass er die alleinige Schuld trug. Sie pochten auf ihre Mitverantwortung. Aber sie gaben ihrem jungen Anführer Recht: Wenn ihnen der stellvertretende Abt die Wahrheit erzählt hatte, so mussten sie helfen, Gadennyn aufzuhalten. Doch Cora hatte Zweifel:

„Dürfen wir diesen Schwarzen Mönchen denn trauen? Was, wenn sie gelogen haben, um die Schmach ihrer Niederlage zu verringern? Was, wenn Nunoc Baryth doch der wiedergeborene Lordmagier war?“

„Nur einer kann uns darüber die Wahrheit sagen“, meinte Boc, „nämlich Gother.“

Bevor sie über Gormens Angebot, dem Orden Treue zu schwören, nachgedacht hatten, kehrte dieser zurück.

Spin erklärte dem stellvertretenden Abt ihren Standpunkt:

Vielleicht haben wir einen großen Fehler begangen, aber vielleicht führst du uns ja an der Nase herum. Bevor wir dir helfen, wollen wir erst mehr wissen. Erzähle uns alles über Nunoc Baryth, euren Orden und wie ihr erfahren haben wollt, Gadennyn sei Semanius. Außerdem wollen wir dies von Gother bestätigt haben.“

Gormen schien das Ansinnen nicht als Anmaßung zu verstehen. Er hatte wohl damit gerechnet.

„Gut, so soll es sein. Ich werde euch die Fesseln abnehmen lassen, doch noch seid ihr Gefangene. Die Freiheit erhaltet ihr, nachdem ihr den Schwur geleistet habt. An eine Flucht braucht ihr gar nicht erst zu denken. Die Klosterpforten sind geschlossen und schwer bewacht. Sonst gibt es keinen Ausgang.“

Nachdem die Wachen die Gefährten losgebunden hatten, fuhr er fort:

„Kommt mit, ich führe euch jetzt zu Gother.“

Winger beobachtete von der Felsenplattform am Hang des Klostertals, wie man die Gefangenen in ein Gebäude führte. Aus dieser Entfernung konnte er sie ohne Fernrohr nicht erkennen, aber er zählte insgesamt acht Menschen und nahm an, die in der Mitte Gehenden seien seine Freunde. Der Baumeister rätselte: War Semanius tot? Drohte seinen Gefährten unmittelbar Unheil? Würde man sie sofort töten oder ihnen später den Prozess machen?

Doch jetzt, am helllichten Tag, konnte er nichts unternehmen. Er wollte bis zur Dunkelheit warten und dann in das Kloster eindringen.

Traigar blickte voller Verachtung in das grinsende Gesicht des Hauptmanns, der gefesselt auf seiner Pritsche in einer Zelle im Kellergewölbe des Klosters hockte. Gother hatte gerade Gormens Behauptung bestätigt.

„Ja, es stimmt. Ihr alle habt Semanius gedient – trotz eurer mangelnden Loyalität besser, als ich erwartet habe. Und ich bin ein bisschen stolz auf euch. Ihr habt große Gefahren gemeistert, um den gefährlichsten Feind des Lords zu töten. Ich wünschte, wir könnten zurückkehren, um gemeinsam die Anerkennung und Dankbarkeit Lord Gadennyns zu erfahren. Vielleicht würdet ihr es ja dann begreifen: All dies war notwendig.“

„Erkläre es uns jetzt!“, forderte Spin mit kalter Stimme.

Gother seufzte. „Ich glaube kaum, dass ihr das versteht. Aber ich will es versuchen:

Gadennyn ist zweifellos ein großer Mann, überaus fähig und von Wathan dazu auserkoren, das Reich zu einen und wieder zu alter Größe zu führen. Aber er verfügt nicht über Armeen, um diesen Anspruch zu verwirklichen. Die Mächtigen im zersplitterten Königreich, seien es die koridreanischen Fürsten, unser eigener unfähiger König, der idiotische Herrscher von Orinokavo, die Kaufleute und die Bandenführer von Pheldae, ja, nicht einmal der Pridemus, würden ihm folgen und ihre eigene Macht aufgeben für einen Traum von einem Großreich, das bis an die Grenzen der Welt reicht. Doch es ist Wathans Wille: Jemand soll diesen Traum verwirklichen. Deshalb sandte er seinem auserwählten Volk einen Führer und schenkte ihm eine gefallene Seele, die des letzten Lordmagiers, eines Mannes, der über beinahe unbegrenzte magische Kraft verfügte. Vielleicht wollte Semanius ja damals zu viel, forderte mehr von der Welt, als sie ihm zu geben bereit war, ging zu unbedacht und zu stürmisch vor. Aber Lord Gadennyn, der neue Semanius, ist ein anderer. Einer, dem man die Welt anvertrauen darf, der das Beste für sie will. Oder vielmehr: das Beste für die Menschen des wiedervereinten Reiches, denn er wird dessen Feinde vom Erdboden tilgen!

Ihr kennt die Geschichte der Eroberungsfeldzüge aus dem Süden, die nur Dank der Magier des Alten Königreichs aufgehalten werden konnten. Sonst hätten die Südländer die Städte niedergebrannt und geplündert, die Frauen und Kinder versklavt und die Männer getötet. Semanius hat noch ein paar Rechnungen mit ihnen offen. Und ich werde seine Liste um ein weiteres Feindesvolk ergänzen, nämlich das der verdammenswerten Ostmenschen! Auch wenn du ihren Herrscher Amaran getötet hast, Traigar: Seine Untertanen sind und bleiben eine Gefahr für die Menschen des Westens und müssen ausgerottet werden.“

„Also will Gadennyn ebenfalls die Welt mit Krieg überziehen“, stellte der junge Magier mit tonloser Stimme fest.

„Ja, aber mit einem Krieg, der uns den Sieg und die Herrschaft über alle Länder beschert. Jetzt, wo Nunoc Baryth tot ist, kann niemand mehr den Lord aufhalten. Schade, wir werden es nicht mehr erleben, denn diese schwarzen Krähen bringen uns zweifellos um.“

„Da irrt Ihr Euch, Hauptmann“, erwiderte Gormen Helath. „Wir töten niemanden.“

Gother lachte: „Umso besser! Wenn ihr mir nicht das Leben nehmt, entkomme ich euch irgendwann, oder Gadennyn wird mich befreien. Und auf seiner Liste stehen nicht nur die Feinde von außen, sondern auch die von innen. Er wird mit euch nicht so gnädig verfahren.“

Dremion sprach mit zitternder Stimme. „Ich habe Euch vertraut, Hauptmann, dachte, Ihr seid ein guter Mensch. Aber Ihr seid grundböse!“

Wieder lachte der Gefangene auf. „Du bist naiv, kleiner Soldat. Moral kann man drehen und wenden. Die Bösen stehen immer auf der jeweils anderen Seite. Deshalb ist es so einfach, Kriege zu begründen.

Boc spuckte aus. „Bei ihm ist guter Wille verloren. Wir haben gehört, was wir erfahren mussten. Gehen wir.“

Der stellvertretende Abt führte sie in eine kleine Halle. Wandteppiche, die religiöse Szenen darstellten, schmückten sie. Der Raum besaß an der einen Seite hohe Fenster und wirkte hell und freundlich, wies aber keinerlei Mobiliar auf. Lediglich einige Sitzkissen lagen auf dem Boden.

„Dies ist unser Meditationsraum“, erklärte Gormen. „Hier finden wir in den Stunden zwischen dem Abendmahl und dem Nachtgebet Ruhe, Einkehr und Besinnung. Bitte setzt euch. Ich erzähle euch nun alles, was ich weiß.“

Er schickte die Wachen aus dem Raum. Die Gefährten und er ließen sich auf den Kissen im Kreis nieder. Er blickte sie einen nach dem anderen an, bevor er begann:

„Ihr wolltet mehr über Nunoc Baryth und den Schwarzen Orden erfahren. Ich weiß: Viele Menschen verbinden die Farbe Schwarz mit dem Bösen, ein Vorurteil, dass Gadennyn natürlich gut passt. Der Tod kommt in schwarzem Gewand, will man Legenden und Kamingeschichten glauben, und deshalb erweckt schwarze Kleidung, wie wir sie tragen, bei einigen Angst und Schrecken. Auch in der religiösen Tradition unseres Ordens steht schwarz für den Tod. Aber nicht für den Tod als schreckliches Ende, sondern für den Neubeginn, für die Ablösung der Seele vom schwachen Fleisch und für das spirituelle Leben nach der Vereinigung mit Wathan. Schwarz ist für uns die Farbe Gottes, des ewigen Lebens und der Freude.

Nunoc Baryth hat den Schwarzen Orden nicht gegründet, er ist schon Hunderte von Jahren alt. Bereits zu Semanius’ Zeiten – des ersten Semanius’ meine ich – existierte er schon lange. Damals eine gewöhnliche Klosterbruderschaft, unterschied er sich durch seine Riten und Zeremonien nur wenig von anderen Orden. Bald aber ragte er heraus durch die Gelehrsamkeit seiner Glaubensbrüder. Unsere Gemeinschaft war die erste, die Frauen in ihre Reihen aufnahm. Nicht selten in der Ordensgeschichte stand eine Hohe Äbtissin an seiner Spitze.

Der Schwarze Orden hat nie das weltliche Wissen gebrandmarkt; ganz im Gegenteil: Er war berühmt für seine großen Naturforscher und Denker. Die bedeutende Philosophin Meire Tessalin, die den ‚Kodex für die Herrschenden’ verfasst hat, und der Astronom Pashamar gehörten ihm an. Wir sind dem Großtempel Wathans schon immer ein Dorn im Auge gewesen, weil wir undogmatisch sind und nicht jedes Ereignis göttlichem Handeln zuordnen. Wathan hat die Welt erschaffen, das stimmt, aber er hat ihr auch die Naturgesetze geschenkt, die es ihr erlauben, ohne sein ständiges Wirken zu funktionieren. Wathan schickt keine Stürme, Fluten, Dürren oder Hungersnöte. Das sind Naturereignisse, voraussehbare Wirkungen, die auf weltlichen Ursachen beruhen. Wathan bestraft in diesem Leben weder die bösen Menschen noch führt er die guten in Versuchung. Er hat Mensch und Tier einen Platz in der Welt zugewiesen, und wir müssen selbst sehen, wie wir damit zurechtkommen. Alle Ungerechtigkeiten, die uns widerfahren, werden jedoch vergessen sein, wenn wir einst mit ihm vereint sind ... Oh, verzeiht, ich schweife ab.

Ich sagte, dass sich der Schwarze Orden als Hort der Forschung und Lehre hervortat. Ein Zweig des Wissens hat es uns besonders angetan, die Geschichte unseres und anderer Völker dieser Welt. Wir beobachten das Wirken der Menschheit schon lange, denn auch wenn wir keine Mittel gegen Naturkatastrophen, gegen Krankheit und Tod haben: Die größte Gefahr für uns Menschen geht immer noch von uns selbst aus. Unsere schlimmsten Geißeln sind Krieg, Unterdrückung, Unfreiheit, Hass und Verachtung für die, die wir als gering von Wert einschätzen. Menschen tun den Menschen Schlimmes an. Und die größte Bedrohung geht von den Mächtigen aus. Nicht alle Fürsten und Könige, ja nicht einmal die hohen Würdenträger des Tempels sind gute Menschen. Manche missbrauchen ihre Macht zu ihren eigenen Zwecken.

Aus der Vergangenheit kann man vieles lernen. Man kann sie mit Entwicklungen der Gegenwart vergleichen und erkennen, ob diese zum Guten oder Schlechten führen. Also haben wir schon immer beobachtet, aufgeschrieben, verglichen und analysiert.

Wir haben uns bemüht, unsere Erkenntnisse einzusetzen, um gute Entwicklungen zu fördern und schlechte zu verhindern. Über Jahrhunderte hinweg sandten wir Berater an den Hof der gerade regierenden Könige und Königinnen, an Fürstensitze im ganzen Reich, an Stadträte, die Verbände der Kaufleute, der Bauern und an alle Einflussreichen, die die Geschicke der Menschen mitbestimmten. Viele von ihnen hießen unseren Rat willkommen, doch nicht wenige hörten nicht auf uns, und manche verfolgten uns gar mit bitterem Hass. Einer von diesen war Semanius, der Lordmagier. Der Schwarze Orden beobachtete ihn und sein Wirken und warnte Königin Kierande. Doch er konnte das heraufziehende Unheil nicht verhindern. Semanius ließ unsere Klöster überall niederbrennen. Weit mehr als die Hälfte unserer Mönche und Nonnen starben. Wahrscheinlich hätte er unseren Orden ganz ausgelöscht, wenn er nicht seltsamerweise freiwillig aus dem Leben geschieden wäre.

Nach seinem Tod dauerte es sehr lange, bis die überlebenden und weit zerstreuten Brüder und Schwestern wieder zusammenfanden und neue Klöster überall im Königreich errichteten, darunter dieses hier, in dem ihr euch befindet. Der Orden bekam großen Zulauf. Viele Menschen suchten nach all den Schrecken des Bürgerkriegs einen neuen Lebenssinn. Aber dem damaligen Hohen Abt genügte es nicht, einfach so weiterzumachen wie bisher. Er berief eine Klausur ein. Alte und neue Ordensmitglieder berieten viele Wochen und fassten weitreichende Beschlüsse, die die Grundziele des Ordens neu definierten. Die Versammlung zeigte sich einig: Eine so schreckliche und gewaltsame Unterdrückung wie unter Semanius dürfe nie wieder geschehen. Es reiche nicht aus, zu beobachten und zu warnen, sondern man müsse auch eingreifen, um das Schlimmste zu verhindern. Man fand Ordensbrüder und -schwestern mit entsprechenden Fähigkeiten – darunter Magier, Magierinnen und ehemalige Soldaten – und bildete sie zu Kämpfern aus. Sie sollten eingesetzt werden, wann immer die Mächtigen bestimmte Grenzen verletzten, Grenzen, deren Überschreitung in Krieg oder Völkermord münden konnte. Sie waren nicht mit Schwertern und Streitbeilen, sondern mit magischen Waffen ausgerüstet, Waffen, die nicht töteten, sondern die Gegner nur kampfunfähig machten und entwaffneten.

Die Schwarzen Kämpfer haben so manchen Kampf gefochten, manchen Krieg verhindert, manchen Tyrannen gestürzt. Sie besaßen großen Rückhalt in der Bevölkerung, bis Pridemus Erthon der Fünfte seine Macht von ihnen bedroht sah. Er betrachtete die Herrschenden (und damit sich selbst) als von Wathan Auserwählte, deren Handlungen dem Willen Gottes entsprachen und betrachtete Widerstand gegen sie als Sakrileg. Er verbot den Schwarzen Orden mit der Begründung, er würde Irrlehren verbreiten und die Gewalt verherrlichen. Dabei hatten unsere Brüder und Schwestern die neuen Ordensstatuten gerade geschaffen, um Gewalt als Mittel der Macht zu bekämpfen! Natürlich konnten wir uns nicht dem geistigen Oberhaupt unserer Religion widersetzen. Wir mussten uns fügen. Der Pridemus ließ unsere Klöster auflösen. Ihre Mönche und Nonnen, die unseren Prinzipien abschworen, wurden in andere Orden aufgenommen. Die Schwarzen Kämpfer aber bannte und verjagte man.

Nun, bis in den hohen Norden reicht der Arm des Großtempels nicht mehr, seitdem das Alte Königreich zersplittert ist. Hierhin konnten sich die wenigen Anhänger unseres Ordens und die Kämpfer zurückziehen, und hier hat unsere Bruderschaft überlebt. Unser Wirkungskreis ist nach dem Bann aber verschwindend klein geworden. Doch wir beobachten die Welt und ihre Mächtigen weiter aufmerksam und registrieren die politischen Entwicklungen.

Kommen wir zur nahen Vergangenheit und zur Gegenwart:

Nunoc Baryth war über vier Dekaden unser Abt, ein großer Mann und ein ungewöhnlich begabter Magier. Unter seiner Führung nahm das Kloster viele Novizen mit magischer Begabung auf, die eine Zuflucht vor Verfolgung fanden, denn ihr wisst ja, dass Magier heutzutage nicht sehr beliebt sind.

Vor etwa zwanzig Jahren kam Athlan, ein junger Novize eines anderen Ordens aus Vulcor, zu uns. Er hatte sein magisches Talent erst vor kurzem entdeckt. Doch als er dies dem Abt seines Klosters offenbarte, zwang ihn dieser – ein erbitterter Gegner der Magie, die er für das böse Werk Wathan-Khas hielt – den Orden auf der Stelle zu verlassen. Athlans Vater, der Fürst von Shoala, hatte seinen Sohn zur Ausbildung in den Orden geschickt, und der junge Mann traute sich nicht, mit der Schmach zurückzukehren, dass man ihn hinausgeworfen hatte. Den Grund konnte er Lord Gadennyn nicht nennen, denn dieser wusste nichts von seinen Fähigkeiten und verabscheute Magie. Also begab er sich auf eine ziellose Wanderschaft. Dann hörte Athlan vom Schwarzen Orden, und er vernahm Gerüchte, dass man dort der Magie freundlich und offen gegenüberstehe. Also kam er zu uns und bat um Aufnahme. Nunoc Baryth erkannte schnell das außerordentliche Talent des jungen Mannes, das dem seinen ebenbürtig schien, daher förderte und lehrte er ihn. Doch bald bemerkte er, dass Athlan nichts daran lag, spirituelle Erkenntnis zu erlangen. Ihm ging es einzig darum, die Magie ausüben und seine magischen Fähigkeiten erweitern und vertiefen zu können. Er lernte rasch, und seine Macht wuchs unaufhaltsam. Nunoc bezweifelte nun, ob es richtig gewesen war, den Jungen auszubilden. Er wurde ihm langsam unheimlich. Selbst die Schwarzen Kämpfer hatten Angst vor ihm. Keiner schien ihm mehr gewachsen. Der Abt erinnerte sich an den ganz ähnlichen Werdegang des jungen Semanius, Jahrhunderte zuvor. Natürlich kam ihm da noch nicht in den Sinn, es könne eine Verbindung zwischen dem toten Lordmagier und dem Novizen geben, aber er fürchtete, Athlan könnte ein zweiter Semanius werden. Eines Tages bat er ihn zu einem Gespräch. Er wollte ihm die Geschichte des Lordmagiers als abschreckendes Beispiel für den Missbrauch der Magie erzählen, aber als er dessen Namen nannte, fing der Junge an zu lachen, bis ihm die Tränen die Augen traten. Über Semanius brauchst du mir wirklich nichts zu erzählen, sagte er. Ich weiß mehr über ihn, als du je erfahren wirst!

Nunoc verstand erst nicht, doch dann berichtete Athlan über Details aus dem Leben des Lordmagiers, die nicht einmal ihm bekannt waren. Der Abt glaubte ihm natürlich kein Wort, hielt den jungen Mann für einen Aufschneider. Aber nachdem Athlan ihn verlassen hatte, ging er sofort in die Ordensbibliothek, öffnete eine verborgene magisch versiegelte Tür, von der nur wenige Eingeweihte wussten, und betrat das Geheimarchiv. Dort las er in den Aufzeichnungen des Ordens über Semanius und erfuhr zu seiner Bestürzung, dass alles, was Athlan behauptet hatte, stimmte. Es gab nur zwei Möglichkeiten, wie er davon wissen konnte. Entweder hatte er das Geheimarchiv gefunden und es irgendwie geschafft, die Tür zu öffnen, oder – aber das schien undenkbar!

Nunoc übertrug die Führung des Klosters seinem damaligen Stellvertreter, sattelte sein Pferd und machte sich unter dem Vorwand, Hilfe für einen sehr kranken Klosterbruder zu suchen, auf die lange Reise zu einem anderen Orden am Fluss Thes. Er kannte die Äbtissin. Sie war im Geheimen eine Geistmagierin, eine, die spüren konnte, ob jemand die Wahrheit sprach oder log. Er bat sie um Hilfe, und sie ritt mit ihm. Nach vielen Wochen trafen sie wieder hier ein. Die Äbtissin gab sich als Heilerin aus, die gekommen war, um den kranken Mönch zu pflegen. Tatsächlich verstand sie einiges von der Heilkunst, doch der wahre Grund ihrer Anwesenheit bestand natürlich darin herauszufinden, was der junge Athlan im Schilde führte. Sie suchte sein Vertrauen, und der Junge fühlte sich trotz des Altersunterschieds von fünfzehn Jahren zu der hübschen Frau hingezogen. Sie unterhielten sich oft, und Athlan erzählte ihr einiges von dem, was er schon Nunoc Baryth berichtet hatte, aber darüber hinaus viel mehr, denn sie konnte die Menschen mit ihrer Gabe zum Reden bringen.

Athlan hatte nicht gelogen, berichtete sie unserem Abt: Er war wirklich der Sohn und Erbe des koridreanischen Fürsten Lord Gadennyn, der ihn zur Ausbildung in den hohen Norden geschickt hatte. Es stimmte auch, dass der Junge zuerst in einem anderen Kloster gelebt hatte und man ihn von dort fortjagte, nachdem er sein magisches Talent offenbart hatte. Und sie bestätigte Nunoc Baryths furchtbaren Verdacht, dass sich der junge Mann für den wiedergeborenen Semanius hielt. Athlan hatte es ganz offen zugegeben. Aber es gab einen Punkt, an dem er verschlossen wie eine Auster blieb, nämlich, als ihn die Frau fragte, wann er es entdeckt habe und wie ihm seine zweite Persönlichkeit bewusst geworden sei. Selbst mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten konnte sie es ihm nicht entlocken. Athlan hatte sich sofort misstrauisch gezeigt, als sie darüber sprach, als ob sie ihm mit diesem Wissen die Identität und die Macht Semanius’ hätte rauben können. Der junge Mann verbarg etwas vor ihr.

Nunoc Baryth fühlte sich ratlos. Was sollte er tun? Er durfte Athlan nicht weiter ausbilden, so viel schien klar – gleichgültig ob der Novize an einer Wahnvorstellung litt oder wirklich der war, für den er sich ausgab. Seine magische Kraft nahm von Tag zu Tag zu. Doch wenn er den Jungen des Klosters verwies, beraubte er sich jeden Einflusses auf ihn. Die anderen Oberen des Ordens bedrängten ihn, Semanius alias Athlan Gadennyn zu verstoßen. Sie fürchteten, er könne die Macht an sich reißen. Schweren Herzens befolgte der Abt ihren Rat. Er teilte Athlan mit, er müsse das Kloster verlassen. Der junge Magier zeigte sich gekränkt und wütend, aber er ging.

In den vergangenen Jahren versuchten wir immer wieder, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen. Wir wollten wissen, was aus ihm geworden ist. Deshalb schickte Nunoc Baryth von Zeit zu Zeit Kundschafter nach Koridrea. Und sie berichteten, dass Athlan inzwischen das Erbe seines Vaters angetreten hatte und als Lord die Provinz Shoala regierte, doch er verhielt sich unauffällig und ruhig, schien sich als besonnener, um das Wohl seiner Untertanen besorgter Fürst zu erweisen. Es gab keinerlei Anzeichen von Machtgier oder Eroberungsgelüsten. Nunoc zeigte sich erleichtert. Doch dann, vor nicht allzu langer Zeit, kam ein Mann aus dem Süden mit koridreanischem Akzent in unser Kloster – Gother, wie sich nun herausgestellt hat. Ich fasste den Verdacht, er sei ein Spion, und Nunoc sandte ihm deshalb einen Schwarzen Kämpfer nach, der herausfinden sollte, für wen Gother spionierte. Natürlich ahnten wir es schon. Als unser Mann nicht mehr zurückkehrte, schien es Gewissheit zu sein: Lord Gadennyn hatte seine Aufmerksamkeit auf uns gerichtet. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Wir verschärften unsere Wachsamkeit, konnten aber dennoch nicht verhindern, dass ihr unseren Abt getötet habt!“

Am Schluss klangen seine Worte bitter. Die Gefährten schwiegen betreten.

Nach einer langen Pause erklärte Traigar: „Ich schwöre den Eid.“

Eine Weile danach warteten die Gefährten auf Geheiß Gormen Helaths auf dem Klosterhof, wo die Feier nach der Zeremonie der Vereidigung stattfinden sollte. In graue Kutten gekleidete Mönche und Nonnen – es gab nicht wenige Frauen unter den Bewohnern des Klosters – trugen Stühle und Tische nach draußen und deckten sie mit Tellern und Bechern. Aus dem Fenster der großen Küche drangen Gerüche, die den Koridreanern das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Sie konnten sich kaum an ihr letztes Mahl erinnern, das sie an einem Tisch eingenommen hatten. Doch das musste noch warten, denn zuvor sollten sie den Eid leisten. Die Gefährten fühlten sich etwas nervös, denn sie wussten nicht genau, was sie erwartete. Der zukünftige Abt hatte von einer heiligen Zeremonie gesprochen, von einem Versprechen, das sie nicht ihm, Gormen Helath, sondern Wathan, dem Höchsten, persönlich geben müssten. Sie sollten ihre Gedanken reinigen und sich bewusst machen, dass dieser Schwur ihr Leben ändern würde, hatte er nachdrücklich erklärt. Sie sollten ihn nicht leichtfertig leisten.

Duna, die Feuermagierin, näherte sich ihnen. Traigar hatte zum ersten Mal Muße, sie genauer zu betrachten. Sie trug eine graue Kutte, deren Kapuze sie zurückgeschlagen hatte. Die junge Frau von zierlicher Gestalt besaß langes braunes Haar, haselnussfarbene Augen, ein herzförmiges Gesicht mit einem Grübchen am Kinn. Die gerade Nase schien ein wenig zu lang, die Mundwinkel hatte sie mürrisch leicht herabgezogen. Zu seiner Bestürzung bedeckten einigen rote Tätowierungen die gerunzelte Stirn und die Schläfen, jene seltsamen Zeichen, die auch die anderen Schwarzen Mönche und Kämpfer trugen.

Duna musterte die Menschen aus Koridrea misstrauisch. Sie schien sie nicht zu mögen. Kein Wunder, zeigten sie sich doch für den Tod des verehrten und geliebten Abts, Nunoc Baryth, verantwortlich.

„Gormen hat gesagt, ich soll eure Fragen beantworten, falls ihr noch welche habt, und euch die Zeremonie erklären. Fragt also“, erklärte sie barsch.

Cora ergriff das Wort.

„Du bist traurig und zornig, das sieht man. Es wäre vermessen von uns, wenn wir dir versicherten, wie wir das alles bedauern. Es würde deinen Schmerz nicht lindern. Ich weiß, du kannst uns jetzt nicht vergeben. Ich könnte es an deiner Stelle ebenso wenig.“

„Und was willst du, das ich tun soll?“

„Gar nichts. Verfluche und beschimpfe uns. Hasse uns ruhig eine Weile. Uns ginge es an deiner Stelle vermutlich nicht anders. Trauere um Nunoc Baryth. Der Schmerz wird nach und nach vergehen, und vielleicht kannst du uns irgendwann verzeihen.“

Duna blickte sie an.

„Ich hasse euch nicht. Aber ich kann auch keine Freundschaft für euch empfinden. Das werde ich vielleicht niemals können. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Nun stellt eure Fragen.“

Die Gefährten schwiegen einen Augenblick betreten. Schließlich ergriff Spin das Wort:

„Wir wissen noch viel zu wenig über Euch, um den Treueid in voller Überzeugung ablegen zu können. Dies ist kein Orden, wie ich ihn aus Koridrea kenne. Dort leisten alle dem Pridemus Gehorsam. Ich sehe aber in diesem Kloster Männer und Frauen. Der Stellvertreter Wathans hat aber, soweit ich weiß, gemischte Orden verboten. Er sagt, dies leiste Unkeuschheit Vorschub.“

„Wir erkennen den Pridemus nicht als Stellvertreter Wathans an. Die Pridemi der Vergangenheit haben gezeigt, wie fehlbar sie sind. Von den Sünden, die sie begangen haben, scheint mir Unkeuschheit noch die harmloseste! In unserem Orden dienen Frauen und Männer Wathan, dem Erhabenen. Sie arbeiten, beten und essen zusammen. Nur zum Schlafen ziehen sie sich in getrennte Häuser zurück.“

Spin nickte. Traigar stellte die nächste Frage:

„Hier gibt es in Grau gekleidete Ordensbrüder und -schwestern ebenso wie solche in schwarzen Roben. Manche sind tätowiert wie du und Gormen Helath, andere tragen keine Zeichen. Was hat es denn damit auf sich?“

„Nicht alle in unserer Gemeinschaft fühlen sich dazu berufen, für Wathan auf andere Weise zu kämpfen als mit Worten. Dennoch steht das Kloster jedem offen, der Gott dienen will. Nur diejenigen, die bereit sind, die Gründungsregeln unseres Ordens ohne Einschränkung zu befolgen und eine schwere Prüfung bestehen, dürfen Schwarz anlegen und die roten Zeichen tragen. Normalerweise ist dafür eine jahrelange Ausbildung erforderlich.“

„Aber du trägst sie doch ebenfalls“, warf Traigar ein. „Es ist noch kein Jahr her, da habe ich dich in Shoal gesehen. Da warst du noch nicht tätowiert. Außerdem bist du viel zu jung, um eine langjährige Ausbildung erhalten zu haben. Du trägst auch keine schwarze Kutte. Wie kannst du dann zum Schwarzen Orden gehören?“

Duna runzelte die Stirn und musterte ihn neugierig.

„Ja, jetzt erinnere ich mich wieder an dich. Auf dem Gauklerwettbewerb, nicht wahr? Du warst gut! Ich habe dich nicht erkannt, denn damals warst du ziemlich mager und sahst viel jünger aus.

Du hast recht: Ich gehöre den Schwarzen Kämpfern an. Ich habe mich damals nach Vulcor eingeschifft, weil ich hörte, im Norden werde die Magie noch nicht als Makel betrachtet, den man verstecken muss. Ich wollte sie ausüben, ohne Angst und Scham. In Helmseth traf ich einen Schwarzen Mönch. Allerdings trug er eine graue Kutte, die sein Haupt verhüllte. Er schien mich zu durchschauen und sprach mich an. In seinem Kloster, so versicherte er, gebe es einen Platz für mich. Magier seien in seinem Orden hoch geachtet. Nun, ich wollte mein Leben nicht unbedingt als Nonne beenden, aber er überredete mich, mit ihm zu kommen. Als ich seinen Herrn, Nunoc Baryth, traf, lernte ich zum ersten Mal einen Menschen kennen, dem ich vorbehaltlos vertraute. Er war … ich kann es nicht beschreiben. Du hättest ihn kennen lernen sollen! Aber …“

Sie brach ab und schluckte. Eine Träne rollte über ihre Wange. Für einen kurzen Moment blitzen ihre Augen Traigar böse an. Doch dann fasste sie sich wieder und fuhr fort:

„Magier brauchen keine lange Ausbildungszeit. Ihre Aufgabe ist nicht der physische Kampf. Zwar hat Nunoc Baryth mich vieles gelehrt, auch, meine Magie besser einzusetzen, aber meine Aufnahme in den Schwarzen Orden erfolgte schon nach vier Monaten.“

„Aber warum trägst du keine schwarze Kutte?“, wollte Dremion wissen.

„Die schwarze Robe müssen wir nur zu besonderen Anlässen anlegen, etwa beim Gebet oder der Meditation. Ansonsten kleiden wir uns in Grau wie die Novizen und die Brüder und Schwestern, die zwar dem Kloster angehören, sich aber nicht berufen fühlen, in den Schwarzen Orden einzutreten, und Wathan lieber auf andere Weise dienen wollen. Einigen meiner Ordensbrüder ist es zu lästig, sich mehrmals am Tag umzuziehen, deshalb tragen sie ständig schwarz. Ich halte es mit Nunoc Baryth, der als Zeichen seiner Demut die meiste Zeit die graue Kutte trug. Nun muss ich aber auch Schwarz anlegen, denn euer Eid steht bevor. Folgt mir.“

Duna führte sie in eine Kleiderkammer in einem der Klostergebäude. Hier hingen schwarze und graue Kutten an den Wänden. Sie öffnete eine Kiste und nahm einige nicht getragene graue Kleidungsstücke heraus.

„Ihr müsst euch nackt ausziehen und dürft nur diese Sachen tragen. Sucht euch aus, was euch passt. Du –“, sie zeigte auf Cora, „wie heißt du?“ Die Angesprochene nannte ihren Namen. „Gut, Cora. Folge mir in den Umkleideraum der Schwestern. Euch hole ich hier wieder ab.“

Etwas später standen sie alle wieder beisammen, gekleidet in graue und mit einem Lederriemen gegürtete Kutten aus rauem, grobem Stoff, der unangenehm auf der Haut kratzte. Nur Duna trug Schwarz. Sie wies sie an, ihre Häupter mit den Kapuzen zu verhüllen, bevor sie das Allerheiligste beträten. Damit meinte sie den Tempel des Klosters, in dem die heiligen Zeremonien abgehalten wurden. Die Koridreaner folgten ihr in den schlichten, schmucklosen Raum, in dessen Mitte ein Altar stand. Auf diesem Altar hatte man eine senkrechte Eisenstange angebracht, auf der zwei durchbohrte, etwa kopfgroße Kugeln aufgereiht waren, die obere schwarz und die untere Rot. Das Zeichen Wathans.

Cora verstand. Die schwarze Kugel stand für Wathan-Bejhi, die rote für Wathan-Kha. Deshalb die schwarzen Roben und die roten Tätowierungen der Mitglieder des Ordens. Sie dienten beiden Aspekten Gottes, nicht nur dem Schenker, Schöpfer und Lebensspender, wie es die meisten anderen Orden taten, sondern auch dem Fordernden, dem Richter und Strafenden.

Duna wies sie an, vor dem Altar niederzuknien. Nach und nach füllte sich der Tempel mit Männern und Frauen, die in einem Kreis um die Knienden Aufstellung nahmen.

„Ihr wartet hier schweigend, bis alle Ordensbrüder versammelt sind. Dann tritt Gormen Helath vor euch und spricht euch den Eid vor. Jeder von euch wird ihn Wort für Wort wiedergeben, wenn er euch dazu auffordert. Ich sage euch jetzt die Worte des Eides, damit ihr darüber nachdenken könnt. Wenn ihr ihn schwört, muss jedes Wort von Herzen kommen und absolut ehrlich gemeint sein. Falls ihr zu der Überzeugung kommt, den Schwur nicht leisten zu können, dann steht auf und geht hinaus.

Der Eid lautet:

Ich schwöre dem Schwarzen Orden und meinem Herrn, Wathan, unverbrüchliche Treue bis in den Tod. Von nun an bin ich ein Grauer“, sie wandte sich an Cora: „oder eine Graue. Ich entsage jeglichem Besitz. Alles was ich habe, gehört allen meines Ordens. Ich gelobe dem Ordensoberhaupt und den Schwarzen Brüdern und Schwestern Gehorsam und befolge ihre Anweisungen, sofern sie nicht dem Willen Wathans widersprechen. Ich gelobe, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um Böses von der Welt abzuwenden, Kranke zu heilen, die Not der Armen zu lindern, die Wehrlosen zu verteidigen und zu beschützen.“

Boc schaute sie mit entsetztem Gesichtsausdruck an. „Das kann ich nicht schwören!“

Duna lächelte unerwartet. „Und warum nicht?“

„Ich kann kein Mönch werden. Ich liebe Cora und will sie heiraten!“

„Keine Angst. Keiner von euch wird durch den Eid ein Mönch oder eine Nonne. Der Orden hat geistige und weltliche Angehörige. Die wenigsten der Schwarzen Kämpfer etwa sind Mönche. Ihr müsst die geistlichen Pflichten, wie etwa die Durchführung der heiligen Rituale, nicht erfüllen. Allerdings würde es gerne gesehen, wenn ihr am Gebet teilnehmt, solange ihr euch im Kloster aufhaltet. Selbstverständlich dürft ihr außerhalb des Klosters eine Familie gründen. Wathan braucht Menschen, die ihm auf ihre Weise dienen, nicht Betbrüder und Scheinheilige.“

Der Tempel war gut gefüllt, doch noch immer ließ sich der Ordensführer nicht blicken. Die Zeit schien wie zäher Sirup zu verrinnen. Traigars Knie schmerzten. Ja, er hatte Dunas Rat befolgt und gut über den Eid nachgedacht. Die Verpflichtungen, die er damit einging, schienen ihm angemessen, sogar gering, wenn er sie gegen seine Schuld aufwog, gegen den immensen Verlust, den der Orden und die ganze Menschheit durch den Tod Nunoc Baryths erlitten hatten. Die anderen schienen ähnlich zu denken, denn keiner von ihnen war aufgestanden und gegangen. Er erkannte allerdings, dass Dremion immer noch schwer mit sich zu kämpfen hatte. Auch Spin, Cora und Boc schien die Entscheidung nicht leicht gefallen zu sein. Er hatte ihre zweifelnden Gesichter beobachtet, doch jetzt schienen sie ruhig und entschlossen.

Eine Glocke ertönte. Die Ordensbrüder und -schwestern murmelten ein Gebet. Dann erschienen die Schwarzgekleideten, in ihrer Mitte Gormen Helath. Traigar kniete ganz rechts außen und Gormen trat vor die am linken Ende der Reihe kauernde Cora. Er legte ihr die Hand auf das Haupt und rezitierte den Eid. Die junge Frau sprach ihn ohne zu zögern nach. Dann kam Boc an die Reihe. Nach und nach leisteten alle den Schwur, bis der Ordensführer endlich vor Traigar trat, der die Worte inzwischen auswendig kannte. Gormen begann:

„Ich, Traigar, schwöre dem Schwarzen Orden und meinem Herrn, Wathan, unverbrüchliche Treue bis in den Tod. Von nun an bin ich ein Schwarzer.“ Traigar wiederholte die Worte, beinahe ohne nachzudenken. Erst am Ende des Satzes zögerte er. „Von nun an bin ich ein, äh, Grauer.“

„Du hast die Eidesformel nicht korrekt nachgesprochen, Traigar“, erklärte Gormen mit milde tadelndem Ton und korrigierte ihn: „Von nun an bist du ein Schwarzer, ein Mitglied des Schwarzen Ordens.“

Traigar fühlte sich verwirrt. „Aber die anderen …“

„Wir müssen deinen besonderen Fähigkeiten Rechnung tragen. Du bist ein Magier, und …“, er griff hinter sich und nahm von einem seiner Brüder den Kampfstab entgegen, den Traigar in der Waffenkammer von Lord Gadennyns Burg gefunden hatte, „ein Schwarzer Kämpfer. Du hast diesen Stab mit Recht getragen.“ Er erwiderte den entsetzten Blick des Jungen mit Augen, die Gelassenheit und Vertrauen zeigten. „Keine Angst, ich weiß sehr wohl, wem diese Waffe gehörte. Aber nicht du warst es, der ihn getötet hat. Nimm ihn nun. Können wir mit dem Schwur fortfahren?“

Traigar nahm die Waffe aus der Hand des Abts an und nickte wie betäubt.

Als sie draußen auf den Bänken saßen, aßen und tranken, feierten und lachten, als gäbe es überhaupt keinen Trauerfall im Orden, konnte er es noch immer nicht fassen: Er gehörte nun zu den Schwarzen Kämpfern!

Die Reisegefährten aus Koridrea saßen zusammen mit Gormen Helath, Duna und einem Dutzend schwarz gekleideter Ordensbrüder und -schwestern an einem langen Tisch. Ringsumher, an den anderen Tischen, herrschte eine ausgelassene und gar nicht klösterliche Stimmung. Eine Frau lachte kreischend, ein Mann sang ein lustiges Lied von einem Fährmann, der eine Herde Schafe übersetzen sollte, deren Hammel sich mit ihm um den Preis stritt, so jedenfalls fasste Traigar den Inhalt des in vulcoranischer Sprache vorgetragenen Liedes für seine Freunde zusammen.

Am Tisch der koridreanischen Gäste unterhielt man sich vorwiegend in deren Landessprache, die neben Gormen und Duna auch einige der Schwarzen Kämpfer recht gut beherrschten. Aber die meisten der Brüder und Schwestern verstanden kein Koridreanisch, und so übersetzten Gormen und Duna für sie. Wenn Traigar mit ihnen sprach, benutzte er aus Höflichkeit die Landessprache von Vulcor, und so flogen Wörter und Sätze in beiden Idiomen hin und her.

Cora erklärte, sie freue sich zwar darüber, dass man sie so freundlich aufgenommen habe und gemeinsam ihren Eintritt in den Orden feiere, aber sie frage sich auch, ob denn niemand der Anwesenden um Nunoc Baryth trauere. Gormen antwortete ihr:

„Für Freude gibt es eine Zeit, für Trauer eine andere. Natürlich sind wir sehr, sehr betrübt über Nunocs Tod, aber er hätte ebenfalls gewollt, dass wir eure Aufnahme in den Orden mit Freude begehen. Nach unseren Sitten und Gebräuchen wird er drei Tage lang im Totenraum aufgebahrt, sodass jeder von ihm persönlich Abschied nehmen kann. Erst danach findet das Begräbnis statt.“

Zweimal unterbrach ein Aufruf zum Gebet das Fest. Alle begaben sich dazu in den Tempel. Erst nach der zweiten Andacht schenkte man Wein aus. Die Feier dauerte weit in die Nacht hinein, bis Gormen schließlich ihr Ende verkündete. Nachdem man den neuen männlichen Ordensmitgliedern Pritschen im Schlafsaal der grauen Mönche zugewiesen hatte (Cora war Duna in das Schlafgemach der Frauen gefolgt), versank Traigar trotz des lauten Chors der Schnarchenden schnell in einen tiefen Schlaf.

Winger staunte, als er kurz nach Monduntergang das Kloster erreichte: Das Tor stand weit offen!

Er erblickte im schwachen Sternenlicht Tische und Bänke und die Überreste eines Festessens im Klosterhof. Was hatte das zu bedeuten? Er schüttelte den Kopf. Unwichtig. Die Befreiung seiner Gefährten war das Einzige was zählte. Geduckt huschte er an der Innenmauer entlang auf die Gebäude zu. Er hoffte den Kerker zu finden.

Die Zellen der Gefangen mussten irgendwo im Kellergeschoß sein, vermutete er. Es dauerte eine geraume Zeit, bis er eine Treppe nach unten entdeckte. Zuvor hatte er dunkle Gänge durchquert, an Türen gelauscht und einige geöffnet, die Ausdünstung zahlreicher Schläfer gerochen und ihr Schnarchen vernommen, war durch leere Zimmer und Säle geschlichen, immer auf der Hut, aber keiner Wache, keinem schlaflosen Mönch begegnet. Als er, beinahe blind in der Dunkelheit, die Stufen hinabstieg und sich dabei an der Wand entlang tastete, dankte er Wathan-Bejhi, der bis jetzt seine schützende Hand über ihn gehalten hatte.

Er befand sich nun in einem Vorratskeller. In dem halbrunden Gewölbe stapelten sich Fässer und Kisten, Käseräder und Brotlaibe lagen in den Regalen, in tönernen Krügen bewahrte Ziegenmilch ihre Frische. Er konnte dies mit seinen an die Dunkelheit angepassten Augen nur deshalb erkennen, weil am Ende des Gewölbes eine Öllampe schien. Dort befand sich eine mit Eisen beschlagene Tür, und davor kauerte ein schnarchender, grau gekleideter Mann auf einem Schemel, das Kinn auf die Brust gesunken, den Rücken an die Wand gelehnt. Sein Mund stand offen, und die Unterlippe zitterte, wenn er rasselnd den Atem ausstieß.

Winger näherte sich vorsichtig und leise. Um den Hals trug der Schlafende eine Kette mit einem Schlüssel daran. Der Baumeister beugte sich über ihn und roch den weingeschwängerten Atem. Unendlich behutsam hob er die Kette über den Kopf des Mannes. Dann blickte er sich um. Er fand eine Flasche mit Lampenöl auf dem kleinen Tischchen, auf dem die Öllampe stand, träufelte ein paar Tropfen davon auf den Schlüssel und steckte ihn ins Schloss der Tür. Er ließ sich geräuschlos drehen. Zum Glück schienen die Scharniere gut geölt zu sein. Kein Quietschen oder Knarren war zu hören, als er die schwere Tür öffnete. In der engen Zelle saß ein wacher Hauptmann Gother gefesselt auf seiner Pritsche und blickte ihn überrascht an.

Winger trat zu ihm und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Er zog seinen Dolch und schnitt Gother die Fesseln durch.

„Wo sind die anderen?“, flüsterte er leise. Gother antwortete:

„Später. Gib mir deinen Dolch.“

Winger war etwas verwundert, doch er reichte dem Hauptmann die Waffe ohne Zögern. Der trat aus der Zelle und schnitt mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung dem Wächter die Kehle durch. Schmerzgepeinigt riss dieser die Augen auf. Doch er konnte nicht mehr schreien. Er sank auf den Boden und verblutete dort. Winger erstarrte vor Grauen. Er versuchte zu verstehen, was er gerade gesehen hatte, aber er begriff immer noch nicht, als sich der Hauptmann zu ihm umdrehte, ihm das Messer bis ans Heft in die Seite stieß und sagte:

„Tut mir leid, mein Freund. Aber jetzt brauche ich dich nicht mehr.“

Die neue Macht

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