Читать книгу Die neue Macht - Roland Enders - Страница 7
Spins Plan
ОглавлениеAm nächsten Tag trafen sie sich erneut im Meditationsraum, den Gormen Helath wegen seiner hellen, freundlichen Atmosphäre schätzte. Doch durch die hohen Fenster drang heute nur trübes Licht von einem bleiernen Himmel. Draußen regnete es schon seit Stunden. Ein kalter Wind peitschte den Regen durch die unverglasten Fensteröffnungen, sodass Gormen die Läden schloss. Nun saßen sie bei Kerzenlicht im Kreis auf den Sitzkissen.
Der Ordensführer eröffnete die Versammlung.
„Bevor wir beginnen, möchte ich gerne wissen, wie es Winger geht. Cora, du hast dich doch um ihn gekümmert?“
„Myria und ich haben uns abgewechselt. Er ist noch nicht bei Bewusstsein und schwebt immer noch in Lebensgefahr. Heute Morgen ist der Schamane der Nomaden eingetroffen. Ich verstehe seine Sprache nicht, aber Duna sagt, er sei überzeugt, er könne Winger retten.“
„So lasst uns ein stilles Gebet für ihn sprechen. Jeder möge in seinen Worten und Gedanken bei Wathan um seine Genesung bitten.“
Sie senkten die Köpfe, und Traigar dachte an den Mann, dessen Lebensweg vom Unglück geleitet schien: der frühe Verlust der Eltern, die harte Kindheit und Jugend, seine Trunksucht, der Tod seiner Frau, an dem er sich schuldig fühlte, die falschen Entscheidungen, die der Baumeister immer wieder getroffen hatte, bis hin zu seinem letzten fatalen Fehler, der Befreiung Gothers. Gott schien es nicht gut mit ihm zu meinen. Traigar sprach eine stille Fürbitte und bat Wathan, Wingers Leben zu verschonen.
Sie wurden aus ihrer Andacht gerissen, als ein Rabe draußen krächzte und ein wütender Kater ihm fauchend antwortete. Gormen ergriff wieder das Wort:
„Wir sind zusammengekommen, um die Gefahr, die Athlan Gadennyn darstellt, einzuschätzen und uns zu überlegen, wie wir sie abwehren können.“
Legis, einer der Schwarzen Kämpfer, schlug vor:
„Wenn wir unseren Feind besiegen wollen, sollten wir uns klarmachen, wer er ist. Wir Ordensleute kennen ihn als Athlan, den Novizen, der mit uns gemeinsam betete, aß, trank und schlief. Für Traigar und seine Freunde ist es Lord Gadennyn, ein Fürst ihres Landes, aber für all die Menschen, die er bedroht, ist er die Reinkarnation des Lordmagiers Semanius. Ich schlage vor, wir nennen ihn bei diesem Namen.“
Gormen nickte. „So soll es sein. Wir müssen uns fragen, was Semanius vorhat.“
„Er hat uns hinters Licht geführt, indem er uns weismachte, Nunoc Baryth sei der wiedergeborene Lordmagier“, meinte Boc, „aber er erzählte uns auch, dieser plane, die Länder des Alten Königreichs unter seiner Herrschaft zu vereinen. Ich denke, in diesem Punkt musste er nicht lügen. Das ist genau sein Ziel! Auch Gother hat es bestätigt.“
„Und was das für eine Herrschaft wäre, können wir uns alle denken“, erinnerte Teuben. „Eine totale Unterdrückung, eine Tyrannei ohnegleichen. Erreichen könnte er dieses Ziel nur mit Krieg, der Abertausende das Leben kosten würde.“
„Aber wann wird er losschlagen?“, fragte Seyn, ein weiterer Kämpfer.
„Wenn er alle Hindernisse aus dem Weg geräumt hat“, antwortete Teuben. „Nunoc Baryth war das erste. Wer das nächste ist, dürft ihr gerne raten.“
„Vielleicht du, Gormen?“, meinte Cora. „Du bist der neue Führer des Ordens, und Semanius wird wissen, dass du Nunoc Baryths Vermächtnis annehmen und ihn mit allen Mitteln bekämpfen wirst.“
Dremion hatte einen anderen Vorschlag: „Oder Traigar? Schließlich war er es, der Nunoc Baryth mit seiner Magie getötet hat.“
Alle sahen, wie der Genannte zusammenzuckte.
„Tut mir leid, mein Junge, aber Gadennyn – ich meine Semanius – wird erkannt haben, dass deine magischen Fähigkeiten ihm gefährlich werden können.“
Doch Gormen war anderer Meinung:
„Teuben hat weder mich noch Traigar als Semanius’ nächstes Opfer im Sinn. Der Lordmagier dürfte uns beide nicht als besonders gefährlich einschätzen. Von mir weiß er vermutlich wenig, und Traigar ist jung und unerfahren. Ich hoffe, dass er seine Fähigkeiten unterschätzt. Nein, ich denke ebenso wie Teuben an ein anderes Ziel.“
„Aber an wen denn?“, wollte Traigar wissen. „Wer soll so mächtig sein, Semanius aufhalten zu können?“
Da dämmerte es Cora:
„Natürlich. Der König, unser König!“
„Der Herrscher von Koridrea?“, wunderte sich Methor, der Anführer der Schwarze Kämpfer.
Gormen nickte. „Cora hat recht. Der König in Inay kann Semanius enorme Probleme bereiten. Er würde es nicht zulassen, dass einer seiner Fürsten zu mächtig wird. Und dann ist da noch das Haus der Lords, die Fürstenversammlung. Auch sie wird argwöhnisch werden, wenn Semanius zu offensichtlich nach Macht strebt. Der König befehligt eine gewaltige Armee, die die wenigen Soldaten, die der Fürst von Shoala aufbieten kann, hinwegfegen würde. Also wird der Lordmagier den gleichen Weg wählen, den er schon einmal in der Vergangenheit fast erfolgreich beschritten hat, den Weg der Intrige. Doch diesmal ist er bestimmt vorsichtiger. Sein damaliger Versuch, das Volk aufzuwiegeln, hat sich als Fehler erwiesen. Er wird anders vorgehen.“
„Und wie?“, fragte Spin.
Teuben stellte Vermutungen an:
„Weder wissen wir es, noch können wir es erraten. Wir könnten seine Intrigen auch nicht durchkreuzen. Schließlich befinden sich zweitausend Meilen zwischen uns und eurem Land. Wir müssen leider davon ausgehen, dass es Semanius irgendwann gelingt, die Macht in Koridrea zu ergreifen. Dann untersteht die Armee des Königs ihm, und der Krieg wäre nicht aufzuhalten. Uns bleibt nur eines: Wir müssen die Zeit nutzen und ebenfalls eine Armee aufstellen, die die anderen Länder verteidigen kann.“
„Nein!“, begehrte Traigar auf. Seine Stimme klang trotzig und wütend. „Wir müssen einen Krieg um jeden Preis verhindern!“
Mit ruhigem Ton erwiderte Gormen:
„Du hast Teuben falsch verstanden. Genau diesem Zweck soll die Armee, die er aufstellen will, dienen. Sieht sich Semanius einem gleich starken oder stärkeren Heer gegenüber, so wird er nicht angreifen! Er ist viel zu klug, um eine Niederlage zu riskieren. Teubens Strategie beruht auf Abschreckung.“
„Aber das wird Semanius nur vorübergehend aufhalten“, warf Spin ein. „Euch ist doch klar, was ihm die enorme Macht verleiht, die ihn fast unbesiegbar macht: das Amulett! Wir können ihn nur außer Gefecht setzen, indem wir es ihm abnehmen!“
Cora runzelte die Stirn. „Und wie willst du das bewerkstelligen? In seine Burg marschieren? Ihm freundlich Hallo sagen, die Hand schütteln und ihm am Ende die Kette vom Hals reißen?“
Gormen pflichtete ihr bei: „Semanius hat das Tagebuch im Kloster, in dem er als Novize ausgebildet wurde, zurückgelassen – warum auch immer. Das war ein großer Fehler, den er später zu korrigieren versuchte. Er hat nämlich jemanden geschickt, es zu stehlen. Das wissen wir von dem Abt, den Nunoc besucht hat. Jemand ist einige Wochen danach ins Kloster eingebrochen, hat Athlans ehemalige Zelle und die Bibliothek durchsucht, das Tagebuch aber nicht gefunden. Er wird sich fragen, ob wir es aufgespürt haben könnten. Dann würden wir sein Geheimnis, nämlich, dass seine Macht auf dem schwarzen Stein beruht, kennen. Er wird niemanden an sich heranlassen, der davon wissen könnte.“
Boc meinte: „Und was ist mit Magie? Traigar kann doch Dinge aus der Ferne bewegen. Wenn er dicht genug an ihn herankäme…“
„Unmöglich!“, meinte Traigar. „Semanius beherrscht alle magischen Gaben besser als jeder lebende Mensch. Aber seine Geistmagie ist sein größtes Talent. Damit spürt er sofort, wenn ich mich ihm nähere. Er würde mich oder jeden anderen Magier als große Bedrohung empfinden und uns seine ganze Macht entgegenstellen. Er würde uns vernichten! Spins Schattentigerfell nützt uns auch nichts, denn es verfügt ebenfalls über magische Kraft. Du wärest darin vor seinem magischen Sinn nicht verborgen, Spin.“
„Das ist genau das, was ihm zum Verhängnis werden wird“, sagte Spin. Seine Augen leuchteten, und er lächelte zufrieden. „Ich habe einen Plan: Ihr drei, Gormen, Duna und Traigar, sollt als Magier die Galionsfiguren des Widerstands und der Köder sein, den wir für Semanius auslegen. Ihr werdet durch die Länder ziehen und den Menschen von der drohenden Gefahr berichten, die von dem auferstandenen Semanius ausgeht. Sein Name verbreitet selbst heute noch Furcht und Schrecken. Ihr sollt die Menschen mit euren Argumenten überzeugen und viele Anhänger um euch scharen. Rekrutiert eine Armee, die eine echte Bedrohung für Semanius darstellt, und zieht mit ihr nach Süden. Der Lordmagier wird schon lange vorher davon erfahren und über jeden eurer Schritte unterrichtet sein. Er wird seine ganze Aufmerksamkeit auf euch richten, auf die größte Gefahr für seine Herrschaft, und kann – so abgelenkt – nicht erkennen, welche Gefahr ihm wirklich droht, nämlich von dem einzigen Wesen, das in der Lage ist, ihm den Stein zu entwenden.“
Alle blickten den Waldläufer mit großen Augen an. Selbst Gormen wirkte verblüfft. „Von wem sprichst du?“, wollte er wissen.
Spin genoss die Aufmerksamkeit. Er lehnte sich ein wenig zurück und machte eine effektvolle Pause, bevor er sagte:
„Von Zpixs natürlich!“
Sie hatten eine Hügelkuppe erreicht. Vor ihnen dehnte sich die Savanne scheinbar endlos aus. Das hohe, trockene Gras reichte bis zum Bauch von Groms Reittier. Der Schwarze Kämpfer, von Gormen zusammen mit zwei anderen ausgesandt, um Gother zu verfolgen, richtete sich in den Steigbügeln auf und schattete die Augen mit der Hand ab. Die Spuren im niedergetretenen Gras verschmolzen in der Ferne zu einer dünnen Linie und führten schnurgerade nach Westen in die tief stehende Sonne. Grom wandte sich an seine Begleiter:
„Er schläft nicht, isst im Sattel und reitet sehr schnell. Sein Vorsprung wächst von Stunde zu Stunde. Im Dunkeln können wir ihn nicht verfolgen. Wenn er keine Rast einlegt, können wir ihn nicht einholen.“
„Aber der Soldat mit der Narbe im Schädel sagte doch, Gother wolle nach Khor, wo ein Schiff auf ihn warte. Warum verfolgen wir überhaupt seine Spur? Lasst uns doch direkt nach Khor reiten“, meinte der zu seiner Rechten.
„Ich traue diesem Dremion nicht. Vielleicht ist der Hinweis auf Khor nur eine Finte. Wir folgen weiter der Fährte. Irgendwann muss er ja einmal schlafen“, erwiderte Grom.
Der dritte Reiter hatte etwas entdeckt und zeigte nach vorne, hoch in die Luft:
„Schaut mal da.“
Grom sah es auch: In der Ferne, weit jenseits des Punktes, an dem die Spur sich verlor, kreisten Vögel am Himmel. Aaskrähen!
Kurz vor Einbruch der Dämmerung hatten sie den Ort erreicht. Ihr Kommen verscheuchte die Krähen vom Kadaver eines Pferdes. Die starren Augen waren weit aufgerissen und blutunterlaufen. Die Zunge hing heraus. Das Fell war verklebt von getrocknetem Schweiß.
„Er hat es zuschanden geritten“, meinte einer von Groms Begleitern. „Jetzt muss er umso mehr achtgeben auf das ihm noch verbliebene Tier.“ Grom nickte zustimmend.
„Er muss nun langsamer reiten, um das Pferd schonen. Vielleicht holen wir ihn ja doch noch ein.“
Myria, die Heilerin, trat ein und unterbrach die Versammlung. „Winger ist zu sich gekommen“, berichtete sie freudestrahlend. Alle erhoben sich und folgten ihr zum Krankenzimmer. Auf dem Weg dorthin begegneten sie einem kleinen, fremdländisch aussehenden Mann. Die eingefallenen Wangen, aus denen die Backenknochen hervortraten, das schüttere graue Haar, die tiefen Runzeln im Gesicht und die Krähenfüße um die Augen ließen auf ein Alter jenseits der Siebzig schließen. An seinem Kinn spross ein dünnes Ziegenbärtchen. Der Greis trug derbe Reiterkleidung aus Ziegenfell: eine Hose, bis zu den Knien reichende Schnürstiefel und eine Weste. Darunter war sein Oberkörper nackt, und die Rippen traten unter der Haut hervor. Der Mann lächelte freundlich. Seine mandelförmigen, wachen Augen leuchteten jadegrün. Gormen blieb ein paar Schritte vor dem Alten stehen und verbeugte sich respektvoll, bevor er Worte in einer den Koridreanern unbekannten Sprache an ihn richtete. Sie klang anders als das Vulcoranisch, das sie bisher gehört hatten. Nach einer kurzen Unterhaltung verbeugten sie sich nochmals voreinander, und der Mann trat aus einer Tür hinaus ins Freie.
„Wer war der Fremde, und aus welchem Land kommt er?“, erkundigte sich Dremion.
„Der Fremde?“, Gormen schien amüsiert. „Nur weil du die Sprache nicht kennst und er anders aussieht als du und ich, muss er doch kein Fremder sein. Im Gegenteil. Vulcor ist sein Land, und wir waren einst die Fremden, die in es eingedrungen sind. Du bist gerade dem Schamanen der Pferdeleute begegnet. Seine Vorfahren haben schon lange vor uns diese Gegend besiedelt.“
„Hat er Winger heilen können?“, fragte Traigar.
„Er hat alles für ihn getan, was möglich schien, sagt er. Den Rest müsse die Zeit heilen. Winger soll noch für einige Tage das Bett hüten. Er ist schwach, und es wird dauern, bis er sich vollständig erholt hat. Bald wird der Schamane wieder nach ihm sehen. Jetzt geht er zurück zu seinen Leuten.“
„Der Heiler der Yauqui! Ich muss unbedingt mit ihm sprechen.“ Cora wollte dem kleinen Mann nacheilen, aber Gormen hielt sie zurück. „Falls du von ihm lernen willst, so muss ich dir leider sagen, er wird seine Kenntnisse nicht mit dir teilen. Spar dir also die Mühe, ihn auszufragen.“
Cora schien enttäuscht. „Aber warum macht er ein Geheimnis daraus? Alle Heiler sollten ihr Wissen miteinander teilen, um den Kranken und Verwundeten besser helfen zu können.“
„Es hat etwas mit seiner Religion zu tun. Das Pferdevolk glaubt an Naturgötter. Thishi ist der Gott der Erde, Rakh beherrscht das Wasser, Roghon die Luft. Und unter diesem Dreigestirn tummeln sich noch Tausende geringere Götter: In jeder Wurzel, jedem Strauch, jeder Quelle wohnt ein Geistwesen, das die heilsamen Kräfte des von ihm Beseelten an die Schamanen weitergibt. Die Tränke, Rezepte, Arzneien und Rituale wirken aber nur – so glauben sie jedenfalls –, wenn der Heiler an die ihnen innewohnenden Gottheiten glaubt. Deshalb macht es für einen Schamanen keinen Sinn, seine Geheimnise Andersgläubigen zu offenbaren. Die Heilmittel wären wirkungslos, vielleicht sogar schädlich.“
Kurz darauf hatten sie sich alle um das einzige Bett im Krankenzimmer versammelt, in dem ein totenblasser Winger lag. Er schien die Nähe seiner Gefährten zu spüren. Flatternd öffneten sich seine Augenlider. Ein schwaches Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als er zu dem über ihn gebeugten Traigar aufblickte. Er wandte mühsam den Kopf und sah nun auch seine anderen Freunde einträchtig neben den Schwarzen Mönchen stehen. Das Lächeln verschwand. Ängstlich versuchte er, sich zu erheben, sank aber gleich wieder geschwächt in sein Kissen zurück. „Was ist geschehen?“, fragte er mit kaum vernehmlicher Stimme. Gormen antwortete in beruhigendem Tonfall:
„Hab keine Angst. Du bist hier unter Freunden. Es ist alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen. Deine Fragen beantworten wir, sobald du dich etwas kräftiger fühlst.“
***
König Bredos hatte in seinen besten Jahren etwas Königliches ausgestrahlt: Sechseinhalb Fuß groß und muskulös, mit leuchtenden Augen und einem Vertrauen erweckenden Lächeln, besaß er das Charisma des geborenen Führers. Das Volk betete ihn seit seinem glorreichen Sieg über Orinokavo an, als er selbst die Armee in die entscheidende Schlacht geführt hatte. Seine diplomatischen und politischen Fähigkeiten konnten mit seiner Beliebtheit nicht mithalten, aber er besaß genug Menschenkenntnis, sich gute Berater auszusuchen, und den Verstand, auf sie zu hören. Deshalb hatte er sich in der Vergangenheit als erfolgreicher Herrscher erwiesen und sich seinen ehrenvollen Platz in den Geschichtsbüchern redlich verdient.
Doch das war lange her. Sein Niedergang hatte vor fünfzehn Jahren begonnen. Damals hatte ihm seine Frau den lang ersehnten Thronfolger geschenkt, starb aber im Kindbett am Fieber. Bredos war außer sich. Seine Trauer wirkte tief und echt, obwohl er jedes halbwegs ansehnliche weibliche Wesen, das am Hof Dienst tat, in sein Bett geholt hatte. Alle kannten den König als Schürzenjäger ohnegleichen, dennoch hatte er seine Königin geliebt. Nach ihrem Tod entsagte er den körperlichen Gelüsten vollständig und rührte keine Frau mehr an.
Der zweite schwere Schlag traf ihn erst vor zwei Jahren: Sein Sohn stürzte bei einem Jagdausflug vom Pferd und brach sich den Hals. Wieder fühlte sich Bredos verzweifelt. Gramgebeugt alterte er schnell und verfiel immer mehr. Er weigerte sich, dem Rat der Hofbeamten zu folgen und wieder zu heiraten, und selbst wenn er sich eine neue Frau genommen hätte, er wäre nicht mehr in der Lage gewesen, ein Kind zu zeugen. Das Reich hatte nun keinen Thronerben. Nach Bredos’ Tod würde das Haus der Lords zusammentreten und einen neuen König aus seiner Mitte wählen. Seine potentiellen Nachfolger wetzten schon Messer.
Als der König zunehmend senil wurde, begannen einige der mächtigen Fürsten, seine Berater und Hofbeamten zu bestechen und zu kaufen. Man konnte ja nicht wissen, wie lange der alte Mann noch lebte. Bis zu seinem sehnsüchtig herbeigewünschten Ende durfte nicht alles aus der Bahn geraten, der Machtwechsel musste gut vorbereitet sein. Die Berater entmündigten den greisen König praktisch und herrschten an seiner statt, gelenkt von Marionettenfäden, die die mächtigsten der Fürsten in den Händen hielten. Und natürlich versuchten diese, einander auszustechen. Bald kam es zum offenen Machtkampf zwischen ihren Handlangern am Hof, die sich gegenseitig ausmanövrierten und absetzten.
Zu diesem Zeitpunkt sandte Lord Gadennyn seinen Vertrauten Aturo Pratt an den Hof. Pratt war gerissen und sein Herr mächtig, und so stieg er rasch in der Hierarchie der Hofbeamten auf. Im Gegensatz zu den anderen Intriganten, die den schwachen König bei ihren Entscheidungen einfach ignorierten, schlich sich Pratt in dessen Vertrauen ein, bekundete ihm seine Loyalität. Er berichtete Bredos von den Intrigen und Machtkämpfen, die sich hinter seinem Rücken am Hof abspielten, wie das Land vor die Hunde ging, die sich schon um Knochen stritten, welche noch gar nicht vom Tisch gefallen waren. Der alte Herrscher hatte ab und zu noch lichte Momente, und in einem dieser selten gewordenen Augenblicke erkannte er, wie sehr man ihn hinterging. Das versetzte ihn in rasenden Zorn, und noch einmal ließ er seine frühere Autorität spüren. Er entließ die meisten der illoyalen Beamten, jagte die Berater vom Hof und ernannte Aturo Pratt zum Kanzler einer neuen Regierung. Der ehemalige Sekretär Gadennyns, seinem früheren Herrn durch dessen Wissen über den Mord an Wingers Frau zu Gehorsam verpflichtet, besaß nun freie Hand. Die anderen Fürsten schäumten.
Aber Gadennyn handelte mit Umsicht. Es war noch viel zu früh, um die Konfrontation zu suchen. Er hatte Pratt in die Nähe des Königs beordert, um diesen zu schützen. Lebend würde er Gadennyn nützlicher sein als tot, denn zum jetzigen Zeitpunkt würden die Provinzfürsten den Lord von Shoala wohl kaum zu Bredos’ Nachfolger wählen. Gadennyn schien ihnen zu mächtig und sie hatten Angst vor ihm. Sie fürchteten, er würde als Herrscher die Fürstenversammlung entmachten. Diese Bedenken musste er zuerst zerstreuen. Er sandte Briefe an sie und machte deutlich, er stünde auf ihrer Seite, und es ginge ihm darum, die Fürsten als ausgleichenden Machtfaktor gegenüber dem Monarchen zu stärken. Er werde nicht selbst den Handschuh in den Ring werfen, sondern einen aus ihrer Mitte bei der Königswahl unterstützen. Gadennyn instruierte Pratt, mit dem Haus der Lords zusammenzuarbeiten und sein Kabinett von ihm absegnen zu lassen. Die Fürsten zeigten sich beruhigt. Das Reich besaß wieder eine stabile Regierung, und sie betrachteten es jetzt sogar als Vorteil, dass Bredos die von ihnen gelenkten rivalisierenden Beamten entlassen hatte, denn gegen jeden der von ihnen selbst gekauften hatte eine Übermacht von in Diensten ihrer Konkurrenten stehender Hofschranzen gestanden. Jetzt schien das Kräfteverhältnis wieder ausgeglichen. Pratt unterstand Gadennyn, und dieser zeigte sich neutral und – so glaubten sie – nicht an der Macht interessiert. Die Kontrahenten um den Thron fingen jetzt an, um die Gunst des Fürsten von Shoala zu buhlen, der plötzlich zum Königsmacher aufgestiegen war. Alles lief so, wie Gadennyn es geplant hatte. Nun schien die Zeit für den nächsten Schritt reif.
Die beiden Wachen vor dem zweiflügeligen Tor zum Thronsaal hatte Aturo Pratt selbst ausgesucht. Sie waren ihm treu ergeben. Mit einer Verbeugung öffnete einer von ihnen die Tür. Pratt trat ein. Er schlenderte den langen Säulenhof entlang und bewunderte die marmornen Pfeiler zu beiden Seiten, die das Spitzgewölbe stützten. Der Königspalast hatte ehemals als Tempel gedient, bis die Schulden des Klerus, der stets über seine Verhältnisse lebte, bei Hof so groß geworden waren, dass der Vater des jetzigen Königs das prächtige Gebäude kurzerhand enteignet hatte. Nun schritt der Kanzler über einen kunstvollen, aus kleinen bunten Kacheln zusammengesetzten Mosaikboden, der Motive aus der ruhmreichen Vergangenheit des Alten Königreichs darstellte. Das aus den hohen Buntglasfenstern über der Galerie eintretende Licht wies mit farbigen Fingern auf die Schlachtenszene unter Pratts Füßen und ließ sie aufleuchten.
Er näherte sich dem Thron. Der schwere, aus Malachit und Bergkristall zusammengesetzte Stuhl stand auf einer fünfstufigen mit einem Baldachin überdachten Empore. Der alte Mann, einst ein strahlender Held, kauerte darauf. Er schien geschrumpft. Seine altersfleckige gelbliche Haut spannte sich straff um seinen knochigen Schädel, der in einem Kissen an der Rückenlehne des Throns ruhte. Ein wenig Speichel troff aus seinem offenen Mund. Die schweren Lider waren tief herabgesunken. Ob der König schlief oder sich in einem geistlosen Dämmerzustand befand, konnte man nicht ausmachen. Auf seinem schneeweißen Haupt saß eine kleine Krone, die, welche er als Kind getragen hatte. Die große, goldene und mit prächtigen Edelsteinen verzierte Amtskrone war ihm zu schwer geworden. Sie ruhte auf einem Samtkissen neben dem Thron.
Der alte Monarch befand sich allein in der Halle. Außer seinem Mundschenk, dem Leibarzt und zwei Dienern besuchte ihn nur noch Aturo Pratt. Die anderen Bediensteten des Hofs hatten strikte Anweisung, den Thronsaal nicht zu betreten, um ihren gebrechlichen und kranken Herrscher nicht zu stören. Pratt räusperte sich: „Verzeiht, wenn ich Euren Schlummer unterbreche, Majestät.“
Die Augenlider flatterten und öffneten sich. Der lange dünne Mann, der einem zerbrechlichen Gerippe in einer pergamentenen Hülle glich, nur durch Sehnen und Bänder zusammengehalten, blickte den Kanzler an, wie es schien, ohne ihn zu erkennen. Aber Pratt wusste, Bredos hatte heute einen seiner guten Tage. Der Mundschenk hatte ihm berichtet, der alte Herrscher habe ihn herumkommandiert und angebrüllt, sich über das ungenießbare Essen beschwert und sich sogar an den Namen des Kochs erinnert, den er teeren und federn lassen wollte. Der Diener wirkte erfreut über die ungewohnten Lebenszeichen, denn er liebte seinen Herrn und wusste, er meinte es nicht ernst. Für Pratt hingegen war nur von Bedeutung, dass der König heute ansprechbar wirkte.
„Majestät, ich habe besorgniserregende Kunde erhalten: Meine Agenten haben heute einen Brief mit staatsgefährdendem Inhalt abgefangen, ohne Adressat und Absender. Sie verhafteten den Boten, doch dieser weigerte sich preiszugeben, für wen der Brief bestimmt ist und wer ihn verfasst hat. Der Mann hat sich bedauerlicherweise in seiner Zelle das Leben genommen, sodass wir von ihm nichts mehr erfahren können.“
Das Interesse des Königs schien geweckt.
„Bist du sicher, dass sich der Bote selbst umgebracht hat, oder haben ihn deine Leute beim Verhör zu hart behandelt?“
Oh ja, Bredos ist heute hellwach, dachte Pratt.
„Zu einem richtigen Verhör ist es gar nicht erst gekommen, Majestät. In Eurem Interesse hätten meine Leute nie zugelassen, dass der Mann ums Leben kommt.“
„Jedenfalls nicht, bevor er seinen Auftraggeber preisgegeben hätte“, meinte der alte Mann. „Lies mir den Brief vor. Du weißt ja, meine alten Augen sehen nicht mehr gut.“
Der Kanzler holte ein gefaltetes Stück Papier aus seinem Ärmel, entfaltete es, räusperte sich und rezitierte:
„Krähe: Rufe die anderen zusammen. Es ist soweit. Drei von uns – du weißt, wen ich meine – wollen nicht länger warten. Silberhelm kann hundert und mehr Jahre alt werden, so wie Pratt ihn hütet und pflegt. Wir müssen ihn in die Unterwelt schicken. Ich verkünde euch noch wann, wo und wie. Auch Gadennyn kann uns nicht aufhalten. Wir treffen uns in drei Tagen im Horst.
Der Brief ist unterzeichnet mit ‚Kolkrabe’.“
Bredos schien versonnen durch Pratt hindurchzuschauen. Beide wussten, wer mit Silberhelm gemeint war. Schon in frühester Jugend hatte der Herrscher silberweißes, dichtes Haar gehabt, dessen Schopf ihn aus der Ferne wie einen strahlenden Helden mit hell glänzendem Helm aussehen ließ.
„Was vermutest du?“, wollte der alte Mann wissen.
Pratt legte nachdenklich den Finger auf die Wange und blickte sinnend zu Boden.
„Der Rabenbund. Ihr habt gewiss schon vom ihm gehört, Majestät. Ein Geheimbund innerhalb des Hauses der Lords. Niemand weiß, wer dahinter steckt und wer dazu gehört. Es gibt natürlich Gerüchte, aber beweisen lässt sich nichts.“
„So glaubst du also, der Rabenbund will mich umbringen lassen?“
„Das steht leider außer Zweifel, Majestät, doch wir sind gewarnt. Es wird Euch nichts geschehen.“
„Kolkrabe“, sinnierte der König. „scheint ihr Anführer zu sein. Er will mir den Thron stehlen, bevor meine Zeit gekommen ist. Finde heraus, wer er ist.“
„Das tue ich, Majestät.“
***
Eine Weile hatten sie bei Winger verbracht, ihm Trost und Zuversicht gespendet. Auf seine Frage, ob Nunoc Baryth tot sei, hatten sie wahrheitsgemäß mit ja geantwortet. „Wathan sei Dank“, hatte der Verwundete gemurmelt, bevor er erschöpft ins Kissen zurückgesunken und eingeschlafen war. Seine Freunde kamen überein, ihm erst später zu erzählen, was wirklich geschehen war. Nun versammelten sich die Schwarzen Brüder und die Koridreaner wieder im Meditationsraum. Gormen wandte sich an den Waldläufer:
„Bevor wir zu Winger gingen, sprachst du von jemandem, der uns helfen könnte und von einem Ablenkungsmanöver. Wie sieht dein Plan aus, Spin?“
„Wie ich schon sagte: Semanius dürfte andere Magier als Gefahr betrachten, deshalb solltet ihr, Gormen, Duna und Traigar, die ihr die Magie beherrscht, durch die Länder des Alten Königreichs ziehen und auf eurem Weg nach Shoala auf Menschenfang gehen.“
„Menschen fangen?“, wunderte sich Cora.
Teuben schaltete sich ein und griff den Vorschlag Spins auf. Er legte Nachdruck in seine Worte:
„Ja, denn allein stellt ihr kaum eine Bedrohung für Semanius dar. Deshalb müsst ihr jedem, dem ihr begegnet, von dem wiedergeborenen Lordmagier und seinen Eroberungsplänen erzählen und so viele Anhänger rekrutieren wie möglich, am besten Tausende. Es können Fürsten und Gelehrte sein, einfache Bauern und Soldaten, Hauptsache, sie sind zahlreich. Nur eine Armee verleiht euch das Gewicht, unseren Feind zu beunruhigen.“
Dremion fand das keine gute Idee: „Wäre es nicht besser, in einer kleinen Gruppe nach Süden zu ziehen, heimlich, ohne dass Semanius Wind davon bekommt? Schließlich hatten wir mit dieser Methode auch…“ Er verstummte.
„Du meinst Erfolg?“, gab Duna scharf zurück. „Ja, ihr habt es geschafft, Nunoc Baryth zu töten, aber der beherrschte nicht die Geistmagie!“
„Semanius soll ja gerade wissen, dass ihm eine Gefahr droht“, erklärte Spin. „Er soll seine ganze Aufmerksamkeit auf eine von Gormen und den Schwarzen Kämpfern angeführte Armee richten, die nach Süden zieht und sich auf ihrem Weg bedrohlich vergrößert. Das wird ihn ablenken. Während ihr den Köder spielt, nehme ich denselben Weg, auf dem wir hergekommen sind. Ich hoffe, Cora, Boc und Dremion begleiten mich, denn ihr benötigt sie nicht bei eurem Feldzug. Wir wollen Zpixs finden und um Hilfe bitten. Es wird sicher nicht einfach, ihn zu überzeugen, aber ich hoffe, es gelingt uns. Wenn es zur Konfrontation zwischen euch und Semanius kommt, sollte der Xinghi zur Stelle sein. Nur er kann ihm das Amulett abnehmen.“
Gormen, Teuben und die anderen Mitglieder des Schwarzen Ordens blickten den Waldläufer verständnislos an. Darauf berichteten die Gefährten, wie sie Zpixs kennengelernt hatten und über welche magischen Fähigkeiten das kleine Wesen verfügte.
„Er kann den Fluss der Zeit verändern?“ Teuben zeigte sich skeptisch. Doch als er alles erfahren hatte, schwieg er beeindruckt.
„Aber seine Fähigkeit, die Zeit zu beschleunigen, ist auch magischer Natur“, wandte Traigar ein. „Semanius kann ihn genauso entdecken wie mich. Schließlich habe ich den Xinghi auch gespürt, als er uns verfolgte.“
„Aber erst nachdem er seine Magie angewandt hat! Erinnert euch: Bevor du ihn bemerkt hast, Traigar, hatte er uns ja für eine Weile verlassen, um seinem Volk Bericht zu erstatten. Er hat die Zeit manipuliert, um uns schnell wieder einzuholen.“
„Ja, das stimmt. Ich konnte die verblassenden Bahnen im veränderten Gewebe der Magie wahrnehmen, entlang derer er sich bewegt hat. Aber als er dann Gother angriff und dir den aufgelegten Pfeil von der Sehne nahm, ging alles viel zu schnell für meine Magieperzeption. Er hätte uns alle töten können, ohne dass ich irgendetwas dagegen hätte unternehmen können.“
„Semanius mag ein viel besserer Geistmager sein als du“, fuhr Spin fort. „Aber er kann ihn nicht bemerken, solange Zpixs seine Fähigkeit nicht anwendet, und wenn er es dann tut, ist es für den Lordmagier zu spät, denn in seinem Zeitfluss gefangen ist er viel zu langsam, um zu reagieren.“
Eine Weile diskutierten alle über Spins Vorschlag, bis auf den in Gedanken versunkenen Gormen, der sich an dem Gespräch nicht beteiligte. Schließlich fiel Cora das Schweigen des Ordensführers auf:
„Gormen, Ihr habt uns in den Orden aufgenommen, Ihr seid unser Führer und sollt eine der Hauptrollen in dem Plan spielen. Was sagt Ihr dazu?“
Der Stellvertreter des getöteten Abts blickte auf.
„Verzeiht mein Schweigen, ich musste erst eine Weile darüber nachdenken. Aber Spins Plan ist gut, ja, er gibt uns eine wirkliche Chance, Semanius’ Pläne zu durchkreuzen. Nur müssen die richtigen Leute am richtigen Platz sein, damit er gelingt. Darüber habe ich nachgedacht, und ich bin zu folgendem Entschluss gekommen: Duna und Traigar, ich weiß, ich verlange viel von euch, wenn ich euch bitte, die Gruppe, die nach Süden zieht, anzuführen. Die Schwarzen Kämpfer begleiten euch. Es ist keine einfache Aufgabe, den Part des Köders in Spins Plan zu spielen. Aber ich habe vollstes Vertrauen in euch.“
Er wandte sich an Spin, Cora und Boc. „Ich aber gehe mit euch in die Ostlande. Es ist besser, wenn ihr auf diesem gefahrvollen Weg auf die Kräfte eines Magiers zählen könnt.“
Er blickte den Soldaten mit der Narbe auf dem Schädel an. „Dremion, ich bitte dich, im Kloster zu bleiben. Jemand muss sich um Winger kümmern. Wir können nicht so lange warten, bis es ihm besser geht.“
Schließlich wandte er sich an seinen Stellvertreter: „Teuben, unter diesen Umständen kann ich nicht für das Amt des Abts kandidieren. Ich werde Monate, wenn nicht Jahre fort sein. Ich bitte dich, mir diese Last abzunehmen.“
Ohne die Antwort auf seine Entscheidungen abzuwarten, erhob er sich. „Die Einzelheiten werden wir noch ausarbeiten. Doch jetzt ruft das Abendgebet.“
Nach der Andacht und dem gemeinsamen Mahl trafen sie sich erneut. Doch diesmal schlug Gormen vor, nach draußen zu gehen. Er führte die Gesellschaft durch das Klostertor hinaus, und sie wanderten zwischen den Feldern, Wiesen und Weiden hindurch bis zu einem schmalen Weg, der den Osthang des Tals hinaufführte. Sie folgten ihm bis zu einem kleinen, felsigen Plateau. Von hier aus hatte man über die niedrigen Höhenzüge des Vorgebirges hinweg einen atemberaubenden Blick auf die weiten Grasebenen Vulcors. In der Ferne graste eine große Herde. Um welche Tiere es sich handelte, konnten sie nicht erkennen. Die Sonne stand nur noch vier Handbreit über dem Horizont und begann sich langsam rötlich zu verfärben. Die Gruppe nahm im Kreis auf einem großen Findling Platz, den ein längst geschmolzener Gletscher hierher geschoben haben musste.
Gormen betrachtete die Versammelten, zuerst die fünf aus Koridrea: Traigar, Spin, Cora, Boc und den Soldaten Dremion, der sich gerne Spaltschädel nennen ließ, und danach die fünf Schwarzen Ordensmitglieder: Teuben, seinen treuen Freund, Duna, die ungestüme junge Feuermagierin, die er wie eine Tochter liebte, Methor, den Anführer der Schwarzen Kämpfer, ein beeindruckender Mann, hart wie ein Fels, und seine beiden Untergebenen und Freunde, Seyn und Legis, die Zwillingsbrüder, die man nur auseinander halten konnte, weil Seyn ein Ohrläppchen fehlte. Gormen Helath musterte diese Menschen, die dem furchtbaren Lordmagier die Stirn bieten sollten, lange. Schließlich erklärte er:
„Spins Plan kann nur gelingen, wenn jeder von uns die ihm zugedachte Rolle vorbehaltlos, mit Vertrauen auf die anderen und Überzeugung annimmt. Ich möchte daher hören, was ihr dazu meint. Falls ihr mit eurer Rolle nicht einverstanden seid, so äußert eure Bedenken – jetzt.“
Sie schwiegen, aber Gormen erkannte, wie es in einigen arbeitete. Du musst ihnen mehr Zeit geben, dachte er. Doch Dremion unterbrach die Stille. Seine Stimme klang bitter:
„Ihr traut mir nicht, Gormen Helath, nicht wahr? Deshalb soll ich hier bleiben, während Ihr mit meinen Weggefährten in den Kampf zieht. Nun, Ihr hattet ja auch Anlass genug zum Misstrauen. Ich stand bis zum Schluss auf der Seite Hauptmann Gothers und habe mich stets als treuer und loyaler Soldat Gadennyns bewiesen. Ich würde an Eurer Stelle nicht anders handeln. Ich stelle ein Risiko dar.“ Er senkte seinen traurigen Blick auf den glatt geschliffenen Fels, auf dem sie saßen.
Gormen erwiderte:
„Du bist jetzt ein Mitglied des Ordens, Dremion. Du hast den Eid geschworen. Ich würde jedem Bruder und jeder Schwester unseres Ordens mein Leben anvertrauen. Nein, ich betrachte dich nicht als Risiko. Du bist von Gadennyn und Gother ebenso getäuscht worden wie deine Freunde. Ich hoffte, es wäre dir recht, im Kloster zu bleiben, ich glaubte, du wolltest etwas wiedergutmachen.“
„Etwas wiedergutmachen?“
„Es stimmt, was du sagst: Du hast Gother mehr vertraut als alle anderen, doch du konntest nicht anders, denn du hattest ihm als deinem Vorgesetzten einen Treueeid geleistet. Aber Gother hat Winger fast umgebracht! Wir müssen euren Freund, den Baumeister, zurücklassen. Wie, glaubst du, wird er sich fühlen, allein unter den Schwarzen Brüdern und Schwestern, von denen kaum jemand seine Sprache spricht? Er, der einen Mörder befreit hat, der glaubt, er habe während eurer ganzen Mission immer nur versagt, habe stets das Falsche getan, trage die Schuld an allem, was schiefgegangen ist. Sobald er erfährt, dass Nunoc Baryth ein unschuldiges Opfer war, sein Herr Gadennyn, dem er jahrelang gedient hat, der wahre Feind der Menschheit ist, und dass Gother, der Mörder, der Dank seiner Hilfe entkommen konnte, jetzt Semanius warnen kann, wird er in tiefe Verzweiflung fallen. Dann wäre niemand da, ihm zu helfen. Einer von euch muss um seinetwillen hier bleiben!“
Dremion brauchte eine Weile, um darüber nachzudenken, dann nickte er:
„Ihr habt recht, Abt Helath. Ich sollte etwas davon wiedergutmachen, was der, dem ich vertraute, angerichtet hat. Ich bleibe und kümmere mich um Winger. Aber sobald er genesen ist, folge ich Traigar, und ich hoffe, Winger wird mit mir kommen.“
„Ich danke dir, Dremion“, erwiderte Gormen. „Aber ich bin – ungeachtet deiner Anrede, mit der du mich ehren wolltest – nicht der Abt des Ordens.“
Teuben ergriff das Wort:
„Das ist ein Punkt, der mich nicht froh stimmt, Gormen. Du bist zwar noch nicht unser Abt, aber du solltest es werden. Ich verstehe, dass du diesen Kampf auch zu deinem machen willst, aber dennoch: Du bist unser zukünftiger Führer! Nunoc Baryth hat dich auserwählt. Du musst den Orden leiten. Wenn du fortgehst, will ich als dein Stellvertreter das Kloster bis zu deiner Rückkehr führen, aber ich bin nicht für dieses Amt ausersehen.“
„Niemand ist dazu ausersehen, Teuben. Der Abt unseres Ordens wird gewählt und nicht ernannt. Ja, Nunoc hat mich vorgeschlagen, aber er wollte damit den Orden nicht bevormunden. Du warst es, der ihn drängte, einen Stellvertreter zu benennen! Erinnerst du dich? Und du weißt auch, warum er mich vorgeschlagen hat. Nicht weil er mir mehr vertraute oder mich für fähiger hielt als einen anderen unseres Ordens. Du wärest in vielen Punkten geeigneter für das Amt: Du bist älter, klüger, erfahrener. Wäre Nunoc Baryth in seiner Entscheidung frei gewesen, hätte er dich benannt. Doch leider ließ er sich von einer nutzlosen Tradition leiten. Der Abt sollte ein Magier sein.“
„Nutzlose Tradition? Es hat noch nie einen Nichtmagier als Führer unseres Ordens gegeben, Gormen. Ich bin kein Magier, und deshalb fehlt mir die Eignung für dieses Amt!“
„Du weißt wie ich, Teuben: Die Zeit der Magier ist bald vorbei. Diese Fähigkeit ist selten geworden in unseren Tagen, und das ist vielleicht ganz gut so. Magier vereinen zuviel Macht in sich. Ein einziger wie Semanius kann zur Bedrohung für die ganze Welt werden. Irgendwann muss die Führung des Ordens in andere Hände übergehen. Angenommen, ich stürbe auf unserer Mission, wer sollte dann die Verantwortung übernehmen? Die einzige Person, die der Tradition entspräche, wäre Duna, aber die ist noch viel zu jung. Zwar beherrschen auch die Schwarzen Kämpfer Magie, aber auf eine andere Weise, und es ist nicht bloß eine unbegründete Tradition, sondern eine unumstößliche Regel unserer Ordensstatuten, dass ein Kämpfer den Schwarzen Orden nicht führen darf. Ich bin der festen Überzeugung: Du, Teuben, bist in jeder Hinsicht der am besten Geeignete von allen, unser nächster Abt zu sein. Ich bitte dich ja lediglich zu kandidieren. Nur, wenn unsere Schwestern und Brüder meine Auffassung teilen, werden sie dich auch wählen.“
Teuben gab nach: „Nun gut. Ich denke zwar immer noch, du wärest der bessere Abt, aber wenn du von der Kandidatur zurücktrittst, muss ein anderer die Verantwortung übernehmen. Ich werde mich der Wahl stellen.“
Gormen bedankte sich bei ihm. Dann blickte er in die Runde als Aufforderung an die anderen, ihre Bedenken zu äußern. Methor meldete sich als Nächster:
„Wenn alle Schwarzen Kämpfer mit Duna und Traigar nach Süden ziehen, bleibt das Kloster ungeschützt zurück. Das gefällt mir überhaupt nicht. Lass mich zu den Yauqui gehen und sie um Hilfe bitten, Gormen. Sie sind sehr wehrhaft und furchtlos. Ich könnte beruhigt aufbrechen, wenn ich drei Dutzend ihrer Reiter im Kloster wüsste.“
„Ein guter Vorschlag“, lobte Gormen. „Handele ganz nach deinem Ermessen.“
„Verzeiht, Gormen, auch ich habe noch eine Frage“, ergriff Cora das Wort.
Der große Mönch lächelte. „Die ich dir gerne beantworten will, Cora. Aber zunächst bitte ich euch Koridreaner, mich nicht so förmlich anzusprechen. Ihr gehört jetzt zum Orden. Wir alle hier haben unterschiedliche Aufgaben und Verantwortung. Und dennoch sind wir gleich. Selbst der Abt, ich spreche jetzt von Nunoc Baryth, wurde von jedem Pferdeknecht und jeder Dienstmagd mit dem vertraulichen Du angesprochen, denn wir alle sind Brüder und Schwestern. Bitte macht mir die Freude und betrachtet mich so, nicht als einen Führer, der ich ja noch nicht einmal bin.“
Cora errötete leicht. „Gut, Gormen. Was ich wissen will, hat nichts direkt mit unserem Plan zu tun, sondern mit dem, was Ihr … du gerade gesagt hast: Wir Koridreaner haben den Eid geschworen und gehören jetzt zum Orden. Aber du hast Traigar in den Rang eines Schwarzen Kämpfers erhoben. Muss er deshalb nicht tätowiert werden?“
Wieder lächelte Gormen:
„Das stimmt. Es gibt noch viel zu tun, bevor wir aufbrechen können: Die Totenfeier für Nunoc Baryth und Jela, die Wahl des Abts und natürlich die Weihe Traigars zum Schwarzen Kämpfer. Das alles hat seine Bedeutung und ist sehr wichtig, aber ich hätte es fast vergessen. Gut, dass du mich daran erinnerst. Natürlich soll dein junger Freund die Zeichen tragen. Morgen ist sein Weihetag.“
Als die anderen aufbrachen, um den Hang zum Kloster hinabzusteigen, blieb Traigar auf dem Findling sitzen. „Geht ihr schon“, verabschiedete er sie. „Ich möchte noch ein wenig hierbleiben.“ Keiner bot sich an, ihm Gesellschaft zu leisten, denn er wollte offensichtlich allein sein.
Die Sonne hatte sich zu einem orangeroten Oval verformt, breiter als hoch, und berührte den flirrenden Horizont. Keine Wolke stand am Himmel. Die Luft wirkte glasklar. Vor der leuchtenden Feuerscheibe sah er einen Schwarm Vögel auf ihrem Flug nach Süden vorbeiziehen, die ersten Wanderer, die vom Ende des Sommers kündeten. Wie eine rotglühende Metallkugel, die sich ihren Weg durch schmelzendes Eis bahnt, versank die Sonne in der lehmfarbenen Erde. Danach verfärbte sich der westliche Himmel purpurn, schließlich violett. Traigar warf einen Blick nach Osten. Die hohen, schneebedeckten Berge badeten noch in rotem Licht, doch der Himmel über ihnen zeigte sich schon in dunklem Grau wie mattes Eisen, und die ersten hellen Sterne funkelten am Firmament.
Die letzten drei Tage waren wie im Traum vergangen. Ein Traum, dessen Sinn zu entschlüsseln Traigar noch nicht die Zeit gefunden hatte. Sein Leben kam ihm auf den Kopf gestellt vor. Ausgesandt, um einen Feind der Menschheit zu vernichten, hatte er einen Unschuldigen getötet, kam fast in Flammen um, und nach einem Aufenthalt in der Unterwelt war seine Seele in die Welt der Lebenden zurückgekehrt. Statt Traigar zu bestrafen, hatte ihn der Orden aufgenommen und zu einem der Seinen gemacht. Und nun schmiedete er Pläne gegen seinen früheren Herrn. Es schien zu viel, um es fassen zu können.
Traigar befand sich in einem seltsamen Gemütszustand. Kurz nach seinem Erwachen nach der Tat hatte er sich in Verzweiflung gesuhlt. Der Traum und die furchtbare Schuld hatten noch in seiner Seele nachgehallt wie der Donner eines abziehenden Gewitters. Doch jetzt fühlte er nichts mehr davon. Er bereute natürlich seine Tat, aber seine innere Beteiligung war schwach. Es kam ihm vor, als habe das Schicksal oder eine Gottheit seinen Weg vorgezeichnet. Wenn er sich zurückbesann, schien alles Geschehene unausweichlich. Niemals hatte er wirklich die Freiheit besessen zu entscheiden, was er tun wollte. Stets hatte man von ihm verlangt, seine Pflicht zu erfüllen. Und nun wieder. Er hatte – ohne ausreichende Zeit, darüber nachzudenken – einen Eid geschworen, der ihn abermals in die Pflicht nahm. Aber den anderen ging es kaum besser, auch sie wurden vom Malstrom des Schicksals mitgerissen. Zum Weg, der nun vor ihnen lag, gab es offenbar keine Alternative. Traigar wünschte sich, sein Vater wäre hier und er könnte mit ihm über alles sprechen.
Die Dämmerung sank wie ein dunkles Tuch über die Welt. Immer mehr Sterne zeigten sich. Ein schwaches, milchiges Band bog sich hoch über den Himmel wie ein Regenbogen. Sternschnuppen ritzten schnell wie Blitze schnurgerade Furchen in das Firmament.
Was hätte sein Vater ihm geraten? Daedor hatte ihn mit Strenge und Konsequenz, aber stets gerecht erzogen. Wenn der Junge etwas angestellt hatte, bestrafte ihn Daedor erst, nachdem er ihn nach seinen Beweggründen gefragt hatte. „Warum hast du das getan? Erklär es mir.“ Manchmal hatten sich Traigars Gründe als gut genug erwiesen, um der Strafe zu entgehen. Und in den anderen Fällen bewirkte die Frage immerhin, dass der Junge über seine Taten nachdachte und seine Fehler einsah. Daedor hatte ihm erklärt, er sei für sein Tun verantwortlich und habe die Folgen zu akzeptieren, aber jeder Mensch müsse Fehler begehen, denn ohne Fehler könne er nicht lernen, im Leben zurechtzukommen. Aber das hieße auch, man sollte einen Fehler nicht zweimal begehen, denn das bewies, man hatte nichts aus ihm gelernt.
Heute hätte er seinem Sohn wahrscheinlich den Rat gegeben, sein Handeln nicht nur auf das Vertrauen zu einem einzelnen Menschen zu gründen. Gadennyn hatte dieses Vertrauen missbraucht. Manche Taten erwiesen sich als so folgenschwer, dass man nur handeln durfte, wenn man sich absolut sicher fühlte. Traigar fragte sich, ob er jetzt nicht in die gleiche Falle lief. Konnte er Gormen, Duna und den anderen des Schwarzen Ordens wirklich trauen? Akzeptierte er das Tagebuch von Semanius als Beweis? Konnte es Nunoc Baryth nicht gefälscht haben, um ihn wieder zu täuschen? Dagegen sprach die Tatsache, dass der Schwarze Abt ja nicht ahnen konnte, dass Traigar und seine Freunde kommen würden, um ihn zu töten. Wieso sollte er dann Beweise fälschen? Nein, das Tagebuch musste echt sein. Außerdem hatte Gother ja Gadennyns Identität als Semanius zugegeben. Diesmal konnten kein Irrtum und keine Täuschung vorliegen.
Sein Vater hätte ihm sicher erklärt, für moralische Menschen gebe es oftmals keine freie Wahl. Sie müssten das tun, was ihr Gewissen ihnen befehle. Aber das Gewissen allein konnte nicht immer die richtige Entscheidung treffen. Traigar wusste: Hätte er auf die erste innere Stimme gehört, die seiner Grundüberzeugung, dass es falsch ist, einen Menschen zu töten, wäre Nunoc Baryth jetzt noch am Leben. Aber Gother hatte ihn – wahrscheinlich unbewusst – manipuliert: Der Hauptmann hatte sich bei seinem Anschlag auf den Schwarzen Abt selbst in Gefahr begeben, von diesem getötet zu werden und hatte Traigar so in einen Gewissenskonflikt gestürzt. Und der hatte sich leider falsch entschieden: für das Leben Gothers und gegen das Nunoc Baryths. Jetzt sah er seinen Weg klar vor sich. Die Tatsachen belegten: Gadennyn stellte als der wiedergeborene Semanius eine große Gefahr für die Menschheit dar. Traigars Gewissen konnte sich auf diese Erkenntnis stützen. Er würde dem vorgezeichneten Weg folgen.
Inzwischen hatte sich Dunkelheit über das Tal gelegt. Im Kloster leuchteten die Fenster der Wohngebäude, und ein paar Öllampen an hohen Pfosten warfen ihr gelbes Licht auf den Innenhof. Hier oben am Hang konnte der auf dem Findling sitzende Traigar kaum den Erdboden am Fuß des Felsens erkennen. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und der junge Magier fragte sich, wie er ohne zu stürzen die Böschung hinabsteigen sollte. Da entdeckte er das flackernde Licht einer bewegten Fackel, deren Träger eben diesen Hang hinaufkletterte. Die tanzende Flamme erreichte den Rand des Plateaus und kam direkt auf ihn zu. Ihr Lichtschein beleuchtete eine zierliche Gestalt in einer grauen Kutte. Die Kapuze war zurückgeschlagen, und Traigar erkannte Duna. Einen Augenblick später stand sie vor ihm.
„Ich dachte, ich hole dich ab, bevor du dir in der Dunkelheit ein Bein brichst“, erklärte sie.
Sie saßen nebeneinander auf dem großen, runden Felsen. Duna hatte die Fackel in die Erde am Fuß des Findlings gesteckt. Sie lieferte dort unten kaum Licht und keine Wärme. Traigar fröstelte in der Kühle der Nacht. Der jungen Frau schien die Kälte hingegen nichts auszumachen. Sie zog die Knie bis ans Kinn, legte die Arme um ihre Unterschenkel und blickte ihn an.
„Du solltest nicht alleine grübeln. Ich weiß, wie schwer alles für dich ist. Lass uns darüber reden.“
Überrascht und verbittert lachte Traigar auf.
„Aber du magst mich nicht! Wie könnte ich jemandem mein Herz ausschütten, der mich, den Mörder deines Herrn und väterlichen Freunds Nunoc Baryth, hasst und verachtet?“
Duna seufzte.
„Ich hasse dich nicht, Traigar. Ich habe über das, was geschehen ist, lange nachgedacht. Du hast einen schweren Fehler begangen, indem du einen Unschuldigen getötet hast. Aber wie könnte ich dich verurteilen, da ich doch beinahe den gleichen Fehler gemacht hätte?“
„Den gleichen Fehler? Was meinst du damit?“
„Ich wollte dich töten, nicht nur umbringen, sondern qualvoll verbrennen! Dein Tod sollte eine grausame Strafe für dein Verbrechen sein. Aber deine Magie hat das Feuer von deinem Körper ferngehalten. Du musst den Flammen die Nahrung entzogen haben, indem du die Luft zur Seite gedrückt hast. Sie konnten deinen Körper nicht erreichen, aber gleichzeitig hast du dir damit die Luft zum Atmen genommen und bist ohnmächtig geworden.“
„Ich habe mich mit Magie verteidigt? Das war mir gar nicht bewusst. Ich glaubte, du hättest mich verschont.“
„Nein, ich hätte dich getötet, wenn ich gekonnt hätte. Als du zu Boden stürztest, dachte ich, du wärest tot und erstickte die Flammen, damit der Turm kein Feuer fing. Dann habe ich mich sehr gewundert, denn du hast keine nennenswerten Verletzungen davon getragen. Lediglich ein paar Haare hat das Feuer angesengt. Gut, dass Gormen in diesem Augenblick hereinkam, sonst hätte ich dich doch noch umgebracht.“
„Aber welchen Fehler hast du denn gemacht? Ich verstehe immer noch nicht.“
„Ich sagte doch: den gleichen Fehler wie du. Ich habe versucht, einen Menschen zu töten, ohne zu wissen, ob er den Tod verdient hat. Ich habe mich nur von meinen Rachegefühlen, nicht von den Tatsachen leiten lassen.“
Traigar nickte nachdenklich.
„Dann haben wir beide etwas daraus gelernt. Glaub mir, ich würde alles dafür geben, um Nunocs Tod ungeschehen zu machen.“
„Und ich hatte lediglich Glück, dass ich weniger erfolgreich war als du. Ich habe meine Meinung über dich geändert, Traigar. Du bist zwar nicht schuldlos, aber deine Schuld ist, in Anbetracht der Täuschung durch Gadennyn und des Verrats von Gother an euch, gering. Mir steht es zwar nicht zu, dir zu vergeben, denn ich hätte an deiner Stelle kaum anders gehandelt, aber Nunoc würde dir verzeihen, da bin ich sicher. Wir müssen jetzt in die Zukunft schauen. Wir beide sollen gemeinsam die Schwarzen Kämpfer nach Süden führen, Tausende von Gleichgesinnten um uns scharen und eine Armee gegen Gadennyn aufstellen. Deshalb müssen wir uns vertrauen und uns auch … mögen.“
Traigar blickte die junge Feuermagierin an. Im schwachen Schein der Fackel konnte er ihre Gesichtszüge kaum erkennen, aber ihre Augen glänzten weich. Eine warme Welle der Zuneigung überflutete ihn.
„Ich mag dich, Duna! Ich glaube, ich habe dich schon gemocht, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Weißt du noch, in Shoal? Ich habe gleich gemerkt, dass du eine Magierin bist. Du ahnst gar nicht, welche Hochgefühle das in mir geweckt hat. Ich fühlte mich auf einmal nicht mehr allein, würde mit jemandem sprechen können über diese Kraft, die von denen, die sie nicht beherrschen, als dämonisch verurteilt wird. Es schien mir, als hätte ich in der Wüste eine Quelle gefunden. Als du plötzlich verschwunden bist, fühlte ich mich sehr enttäuscht. Ich habe dich überall in der Stadt und außerhalb gesucht. So sehr habe ich mir gewünscht, dich wiederzufinden. Und endlich, da es mir gelungen war, stand auf einmal der Tod Nunoc Baryths zwischen uns. Ich habe mich dafür verflucht.“
Ihre Zähne glitzerten im Dunkeln. Sie lächelte.
„Hätte ich in Shoal gewusst, dass du… aber lassen wir das. Was vorbei ist, ist vorbei. Nun wiederhole ich, was ich zu Beginn sagte: Du solltest nicht alleine grübeln. Lass uns darüber reden, was dich beunruhigt, denn dass etwas in dir vorgeht, habe ich dir angesehen, als wir dich vorhin verließen.“
Traigar blickte hinauf zu den funkelnden Sternen, die rätselhafte Zeichen bildeten.
„Ich mache mir Gedanken darüber, was es bedeutet, ein Mitglied des Schwarzen Ordens zu sein. Sieh mal, Duna: Ich weiß kaum etwas über die Schwarzen Brüder und Schwestern. Niemand hat mich gefragt, ob ich einer von euch sein will. Ich war zwar bereit, den Eid zu leisten, aber völlig unvorbereitet, als Gormen mir mitteilte, ich sei nun ein Schwarzer Kämpfer. Morgen werden sie rote Zeichen auf mein Gesicht tätowieren, und ich weiß noch nicht einmal, für was sie stehen.“
„Ich werde dir sagen, was sie bedeuten. Es sind Wörter, die in einer alten Sprache verfasst sind, einer Sprache, die schon lange vor der Gründung des Alten Königreichs nicht mehr gesprochen wurde. Erschrick nicht: Es sind die Worte Wathan-Khas.“
Aber Traigar erschrak doch. “Ihr betet die böse Seite des Weltenerschaffers an?“
„Nein, Traigar. Wir trennen nicht zwischen beiden Aspekten Gottes. Und wir beten ihn auch nicht an. Im Gebet und in der Meditation sprechen wir mit uns selbst, mit dem Teil von ihm, der in uns ist. Wir müssen uns dabei immer und immer wieder bewusst machen, dass Welt und Gott mit ihren sämtlichen Schattierungen zwischen grau und bunt eine Ganzheit darstellen. Alles – jedes Ding, jedes Lebewesen – besitzt zwei Pole, zwischen denen es pendelt. Wir können nicht verhindern, dass unser Leben immer mal wieder zur Seite Wathan-Khas ausschlägt. Aber wir müssen es erkennen und – so weit es in unseren Kräften steht – korrigieren. Wir stehen auf einem schmalen Grat zwischen einem steilen Hang hinauf zur Erlösung und einem tiefen Abgrund hinab zur Verdammnis. Unsere Aufgabe im Leben ist es, das Gleichgewicht zu halten, lehrte mich Nunoc. Manchmal rutschen wir ab und müssen uns wieder hinaufarbeiten. Wenigen von uns gelingt es, ein kleines Stück den Hang hochzuklettern. Aber vor dem tiefen Abgrund müssen wir uns hüten. Die roten Zeichen stehen für Angst und Schmerz als Gegensätze zu Freude und Glück, Hass als Gegenteil zur Liebe, Entbehrung als Gegensatz zum Genuss, Einsamkeit als Gegenstück zur Geselligkeit, Ichbezogenheit und Selbstsucht als Widerparte der Nächstenliebe. Diese schlechten Gefühle hat jeder von uns einmal, aber wir müssen alles daran setzen, das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlagen zu lassen. Daran sollen uns die Zeichen erinnern. Es ist nichts Dämonisches daran. Aber es gibt noch ein weiteres Zeichen, man nennt es RHA. Es steht für den Tod. Dieses Pendel können wir nicht zurückschlagen lassen. Wenn wir bis zu unserem Tod nicht das richtige Gleichgewicht im Leben gefunden haben, ist es um uns geschehen. Daran müssen wir uns stets erinnern.“
Traigar nickte. „Ich verstehe jetzt ein wenig besser. Aber manches ist noch unklar. Warum trägt Athlan Gadennyn die Zeichen nicht? Er ist doch ein Magier, und als solcher hätte er in den Schwarzen Orden aufgenommen werden müssen?“
„Ja, das war vorgesehen, aber Nunoc Baryth hat es ihm zu recht verwehrt. Er erkannte, der junge Novize würde niemals das Gleichgewicht zwischen beiden Aspekten Wathans finden. Athlan tendierte eindeutig zu Wathan-Khas Seite.“
„Ja, bis auf eine einzige Sache.“
„Was meinst du damit?“
„Ich meine den Tod. Er hat das Pendel zurückschlagen lassen und wurde wiedergeboren. Er hat ihn überwunden.“
„Nein, das siehst du falsch, Traigar. Das Zeichen RHA steht nicht für das körperliche Ableben, es steht für die ewige Verbundenheit zu Wathan-Kha. Wer diesen spirituellen Tod erlitten hat, kommt nie mehr zurück, auch wenn sein Körper wiedererweckt wurde. Er ist Wathan-Bejhi so fern, wie man es nur sein kann.“