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4. Kapitel

Nachdem Hanka Altmann seinen Laden verlassen hatte, war Stefan Blume durch eine Tür in der Werkstatt verschwunden, von deren Existenz nur er allein wusste. Die kleine Butze, die sich hinter dieser Tür verbarg, war fensterlos und vollgestopft mit Computern und elektronischem Überwachungsgerät. Vier Monitore an der Wand links der Tür verschafften ihm einen genauen Überblick über alles, was sich auf der Straße vor seinem Laden abspielte und über jedermann, der seine Geschäftsräume betrat und sich darin umsah. Nichts, was sein unmittelbares und weitergehendes Umfeld betraf, blieb ihm verborgen. Über eine Konsole mit Aufnahmegeräten, Tastaturen und Steuersticks konnte er die Kameras dirigieren, die außen am Gebäude und in seinem Laden angebracht waren. Gut getarnt, war es Uneingeweihten kaum möglich, sie zu entdecken.

Auch die Ankunft dieser Frau war Blume nicht verborgen geblieben. Er hatte ihr interessiert, aber ohne Argwohn zugesehen, wie sie sich unschlüssig umgeblickt und gezögert hatte, einzutreten. Das war typisch für viele seiner Kunden, die spätestens, wenn sie vor dem Schaufenster standen, eine gewisse Scheu entwickelten, hereinzukommen. Ein defektes Gerät reparieren zu lassen anstatt es wegzuwerfen, oder ein gebrauchtes zu erwerben, mochte ihnen in der Theorie reizvoll erschienen sein. Aber den Schritt tatsächlich zu tun, bedeutete möglicherweise, dass sie später als Verlierer wahrgenommen wurden, sich ihren Freunden und Bekannten gegenüber erklären mussten. Second-Hand-Artikel waren etwas für Menschen zweiter Klasse, die es sich nicht leisten konnten, jedes Jahr einen neuen Fernseher, ein Smartphone der neuesten Generation oder einen noch intelligenteren Kaffeevollautomaten zu kaufen.

Erst als die Frau nach hinten über den Hof gegangen, dann die Außentreppe hinaufgestiegen war und versucht hatte, durch die Tür zu gelangen, waren Blume Zweifel an ihren Absichten gekommen. Bestimmt hatte sie etwas anderes erwartet, sicher kein Geschäft mit elektronischem Klüngelkram. Als sie kurz darauf in seinen Laden getreten war, hatte er bereits geahnt, nach wem sie suchte.

Wenn jemand wie diese Frau dann tatsächlich nach dem Privatdetektiv Stefan Blume fragte, musste er vorsichtig sein. Nicht umsonst versteckte er seine Detektei hinter der Fassade eines unscheinbaren Elektroladens. Es gab genügend Gründe für ihn, sich die Leute genau anzusehen, die seine Dienste als Ermittler in Anspruch nehmen wollten. Und er hatte Hanka Altmann sehr gründlich in Augenschein genommen. Gut, ohne den Namen Daniel Kettler wäre die Detektei für sie auch bei ihrem zweiten Anlauf verschlossen geblieben. Wenn Daniel seine Adresse weitergab, dann nur an vertrauenswürdige Menschen. Dennoch, ein gewisses Restrisiko blieb immer und es war an ihm, es mit seiner Menschenkenntnis auszuschalten. Und darin war er richtig gut, war es schon immer gewesen – Menschen zu beobachten, ihnen zuzuhören, die richtigen Fragen zu stellen und am Ende zu wissen, mit wem er es zu tun hatte. Einer der Gründe, warum er noch lebte, davon war er überzeugt.

Hanka Altmann war eine harmlose Frau, so viel stand für ihn fest. Eine Mutter, die seit einer halben Ewigkeit nach ihrem vermissten Sohn suchte. Sie hatte ihm eine Geschichte aufgetischt, so absurd, als sei sie einem fantasiebegabten, aber kranken Hirn entsprungen. Er hatte ihr trotzdem bis zum Ende zugehört. Und er glaubte ihr, weil er nur zu gut wusste, nichts von dem, was sie erlebt hatte, war erfunden. So etwas konnte sich ein normaler Mensch nicht ausdenken. Und mit genau diesem Wissen saß er jetzt da und stierte auf seine Monitore. Hanka Altmann hatte ihn in einen verdammten Zwiespalt gebracht.

Ja, er hatte zugesagt, ihr zu helfen. Er hatte ihr Geld angenommen. Was aber nicht bedeutete, dass er den Auftrag, ihren Sohn zu finden, auch wirklich ausführen würde. Denn wenn er das tat, darüber war er sich im Klaren, dann musste er sich möglicherweise den alten Geistern stellen, seine Deckung, zumindest ein kleines Stück, aufgeben. Er wusste nicht, ob er dazu bereit war.

Die fünfhundert Euro Vorschuss hatten ihm erst einmal etwas Zeit verschafft. Genug, um über seine nächsten Schritte nachzudenken. Vielleicht würde er einen Rückzieher machen, ihr einen Teil des Geldes zurückgeben, ihr zu verstehen geben, dass sie ihre Hoffnungen in einen unfähigen Mann gesetzt habe. Immer noch besser, als den eigenen Kopf zu riskieren. Andererseits, wollte er wirklich für den Rest seines Lebens weglaufen, ständig Angst haben müssen, dass sie ihn irgendwann enttarnten? Musste er das Auftauchen dieser Frau nicht vielleicht als Wink des Schicksals verstehen, selbst aktiv zu werden, anstatt das Heft des Handelns anderen zu überlassen?

Blume seufzte und ließ das Geld in einem Wandtresor verschwinden. Das nächste Treffen mit Hanka Altmann würde nicht hier in seinem Laden stattfinden, sondern an einem Ort, den er noch bestimmen und ihr mitteilen würde. Sie selbst durfte sich nur im äußersten Notfall bei ihm melden, das hatte er ihr eindringlich klargemacht. Diese Art von Kommunikation ließ er ausschließlich über Handys mit Prepaidkarten laufen, von denen er etliche auf Vorrat hortete und die er beliebig wechseln konnte. Nichts war schlimmer, als in der digitalen Welt Spuren zu hinterlassen. Wenn jemand das wusste, dann er.

Im Grunde war es ein einfacher Auftrag, den ihm Hanka Altmann erteilt hatte. Sie wollte nicht mehr von ihm, als dass er einen Mann ausfindig machte, der ihr in einem Supermarkt im Harz über den Weg gelaufen war. Und mit der Beschreibung und den hervorstechenden Merkmalen des Mannes – strahlend blaue Augen und ein fehlender Finger – konnte man durchaus etwas anfangen, auch wenn ihm lieber gewesen wäre, Hanka Altmann hätte ihm den Namen der Firma nennen können, für die der Mann arbeitete. Leider hatte sie dem Schriftzug auf dessen Overall und später auf dem Kastenwagen keine Beachtung geschenkt. Aber auch ohne dieses Detail hätte er den Job relativ schnell erledigen können. Doch das würde nicht gehen, denn wenn es sich tatsächlich um den verschollenen Sohn der Frau handeln sollte, dann spielte die Zeit, die seit dessen Verschwinden vergangen war, eine wichtige Rolle, ebenso wie die Frage, was mit dem Mann in dieser Zeitspanne geschehen war. Niemand, der in der damaligen DDR auf derart mysteriöse Weise vom Erdboden verschluckt oder, wenn seine Auftraggeberin recht hatte, gekidnappt wurde, tauchte nach beinahe vierzig Jahren in irgendeinem Kaff im Harz wieder auf, wo er ein einfaches, unauffälliges Leben führte. So etwas gab es nicht. Oder etwa doch?

Je länger er darüber nachdachte, desto weniger Zweifel hatte er daran, dass die Dinge komplizierter lagen, als sie auf den ersten Blick schienen. Zumal er heute Morgen in den Nachrichten von einem Mord gehört hatte. Vom Mord am Marktleiter eben jenes Supermarktes, in dem Hanka Altmann glaubte, ihrem Sohn begegnet zu sein. Das musste, für sich genommen, erst einmal nichts bedeuten. Er konnte auf Anhieb keine Zusammenhänge erkennen. Allerdings lehrte ihn seine Erfahrung, dass der erste Eindruck zumeist täuschte. Er spürte, dass es auch in diesem Fall so war. Sollte er sich tatsächlich auf die Suche nach dem Vermissten machen, dann konnte er nicht nur an der Oberfläche kratzen. Dann musste er tiefer graben. In einer Vergangenheit, die auch seine war. Zu seiner eigenen Sicherheit. Und außerdem würde er Hilfe brauchen.

In Gedanken ging Blume all jene Personen durch, die ihm bei seiner Suche nützlich sein konnten, vor allen Dingen aber, denen er vertraute. Viele waren es nicht. Im Grunde hätte er sich die Überlegungen sparen können, denn von der ersten Sekunde an hatte sich ein Name in seinem Kopf festgebissen. Es war der Name einer Person, die ihm näherstand, als jeder andere Mensch auf der Welt. Und das, obwohl er sie schon seit den Tagen kurz nach der Grenzöffnung nicht mehr gesehen hatte. Heimlich, ohne Abschied, ohne ein Wort der Erklärung war er damals aus ihrem Leben verschwunden. Von einer Minute auf die andere. Sie waren sich danach nie wieder begegnet, hatten nichts mehr voneinander gehört. Vergessen hatte er sie dennoch nicht. Er wusste nicht, wo sie sich aufhielt, wie sie lebte und was sie trieb, wie sie die zurückliegenden Jahre verbracht hatte. Er würde sie suchen müssen. Und wenn er sie gefunden hatte, würde er sie erst um Verzeihung und dann um Hilfe bitten. Von ihr wollte er es abhängig machen, ob er Hanka Altmanns Auftrag ausführte oder nicht. Sollte sie ihm vergeben und helfen wollen, war er zu allem bereit. Er hatte eine Heidenangst, ihr unter die Augen zu treten. Trotzdem beschloss er, genau diesen Weg zu gehen.

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