Читать книгу Harzkinder - Roland Lange - Страница 9

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2. Kapitel

Hanka erreichte unversehrt ihr Zuhause, was an ein kleines Wunder grenzte. Hätte sie an Gott geglaubt, wäre sie ihm ein Dankeschön schuldig gewesen dafür, dass seine Engel sie auf der Rückfahrt von Elbingerode bis vor ihre Haustür in Königslutter vor einem Unfall bewahrt hatten.

Etwa anderthalb Stunden waren vergangen, seit sie in den Edeka-Markt zurückgelaufen war, zu ihrem Einkaufswagen, der immer noch dort stand, wo sie ihn hatte stehen lassen. Sie hatte den Wagen zur Kasse geschoben, sich in die Schlange der Kunden eingereiht und vom zähen Strom mitziehen lassen. Wie paralysiert war sie gewesen, der Kopf wie leer gefegt, zu keinem klaren Gedanken fähig. Sie hatte die Frau an der Kasse nach dem Mann mit dem fehlenden Finger gefragt, hatte wissen wollen, ob sie ihn kenne, ihr hastig zu erklären versucht, dass es sich möglicherweise um ihren vermissten Sohn handele. Doch die Kassiererin hatte nur mit halbem Ohr zugehört, dabei stoisch die Waren über den Scanner gezogen und ihr bei der Herausgabe des Wechselgeldes mit knappen Worten zu verstehen gegeben, dass sie keine Ahnung habe, wer der Mann gewesen sei. Dann hatte sie sich auch schon der nachfolgenden Kundin zugewandt gehabt.

Hanka war in ihr Auto gestiegen und mit ihr der Mann aus dem Markt. Sein Bild war ihr einfach nicht aus dem Kopf gegangen, hatte Erinnerungen in ihr wachgerufen, sie in einen Strudel sich widersprechender Gefühle hineingezogen, gepaart mit unangenehmen körperlichen Missempfindungen. Sie hätte irgendwo anhalten und ihre Fahrt unterbrechen müssen, bis Herzrasen, Atemnot und das heftige Zittern abgeklungen gewesen wären. Stattdessen war sie weitergefahren. Streckenweise wie im Blindflug hatte sie einige brenzlige Situationen heraufbeschworen und war jedes Mal nur knapp einer Kollision entgangen.

Umständlich fummelte Hanka den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Haustür. Je einen prallvollen Einkaufsbeutel in jeder Hand, trat sie in den düsteren Flur und schloss die Tür hinter sich, indem sie ihr mit dem Hacken des rechten Fußes einen Tritt versetzte.

„Rudi ...! Hallo, bist du da?“, rief sie. Eine überflüssige Frage, reine Gewohnheit. Ihr Mann verließ seit einiger Zeit kaum mehr das Haus. Seine Knochenschmerzen ließen es nur noch selten zu, dass er sich allein für längere Zeit aus seinem häuslichen Umfeld entfernte.

Sie stellte die Beutel in der Küche auf dem Tisch ab und ging ins Wohnzimmer. Die Stimmen, die sie bereits leise im Flur vernommen hatte, kamen aus dem Fernseher, gehörten zu den aufgeregt plappernden Personen einer Vorabend-Serie. Rudolf saß in seinem geliebten Fernsehsessel. Einige Haare seines grauen Schopfes ragten wirr über die Rückenlehne hinaus. Mehr war nicht von ihm

zu sehen. Sie ging hinüber, stellte sich seitlich neben den Sessel.

„Ich bin wieder zurück“, sagte sie.

„Hmhm ...“, brummte er, ohne seinen Blick vom Bildschirm abzuwenden.

Hanka sah sofort, dass es ihm schlecht ging. Sein Gesicht war grau vor Schmerzen, seine ganze Haltung starr und verkrampft. Sein Blick ging ins Leere. Schwer zu sagen, ob er überhaupt wahrnahm, was sich vor seinen Augen abspielte.

„Es hat sich gelohnt heute. Ich bin fast alle meine Gläser losgeworden“, versuchte sie, Rudolf für sich zu interessieren. Seine Antwort war ein mürrisches Grunzen, die Augen hielt er weiter geradeaus gerichtet, ohne jede Reaktion.

„Ich habe Sascha gesehen!“, platzte es aus ihr heraus. Hanka hatte die Neuigkeit für sich behalten, Rudolf nicht damit überfallen wollen angesichts seines Zustandes. Es gelang ihr nicht. „Im Edeka-Markt in Elbingerode!“

Ihr Mann verharrte in seiner starren Haltung. „Ach ...“, presste er nur hervor.

Hanka erkannte das plötzliche nervöse Zucken in seinen Mundwinkeln. Es hätte ihr eine Warnung sein müssen. Doch sie konnte sich nicht zurückhalten. Sie musste darüber reden, um den Druck loszuwerden, der sich in ihr aufgestaut hatte. „Diesmal war er es wirklich. Keine Einbildung. Seine Augen. Diese hellen blauen Augen. Und die Hand, weißt du. Der Finger! Der kleine Finger hat gefehlt! Ich habe das zu spät kapiert, habe ihn nicht aufgehalten! Ich ...“

„Sei doch mal ruhig, verdammt!“, unterbrach Rudolf sie schroff. „Ich kann nicht verstehen, was die im Fernseher sagen, wenn du dazwischenquatschst.“

„Hast du nicht verstanden? Ich habe Sascha gesehen! Meinen Sohn!“

In den scheinbar leblosen Körper kam plötzlich Bewegung. Rudolf stemmte seine Hände auf die Sessellehnen, drückte sich hoch und wandte sich Hanka ächzend und mit schmerzverzerrtem Gesicht zu. „Mal wieder, ja? Hast deinen Sascha mal wieder gesehen?“ Er legte eine verächtliche Betonung auf das Wort „deinen“ und schnaubte wütend. „Du bist ja verrückt! Wie lange willst du mich eigentlich noch mit deinen Halluzinationen nerven, hä? Das ist doch nicht mehr normal!“

Hanka ignorierte seine Worte. Zu oft hatte sie schon hören müssen, dass sie verrückt sei und mit ihren Wahnvorstellungen in die Hände von Psychologen gehöre, nicht nur von Rudolf. In der Vergangenheit hatte sie sehr unter derartigen Bezichtigungen gelitten, hatte sich verkrochen und sich manche Nacht die Augen ausgeheult. Mittlerweile gelang es ihr immer besser, mit den Angriffen und Unterstellungen umzugehen, sie an sich abtropfen zu lassen.

„Glaub es oder nicht! Dieses Mal habe ich mich nicht getäuscht“, beharrte sie. „Eine Mutter spürt es, wenn sie ihrem Sohn gegenübersteht!“

„Ach? Tut sie das?“

„Allerdings! Aber davon hast du natürlich keine Ahnung! Du weißt ja nicht, wie das ist, eigene Kinder zu haben! Sonst würdest du dich mit mir freuen, dass ich Sascha endlich wiedergefunden habe!“

„Oh ja, natürlich! Und was ist mit deinem Ex? Dem Erzeuger deines Bengels? Warum hat der dich sitzenlassen? Der hätte dann ja auch überall nach seinem verschollenen Sohn Ausschau halten und irgendwann halluzinieren müssen! Hat er aber nicht! Er hat im Gegensatz zu dir nämlich akzeptiert, dass der Junge tot ist. Und er ist geflüchtet vor dir. Weil er deine Psychomacke nicht mehr ertragen konnte!“ Rudolf schnappte nach Luft, ließ sich stöhnend in seinen Sessel zurücksinken.

Hanka stemmte ihre Fäuste in die Hüften. „Und du? Warum hast du mich überhaupt geheiratet?“ Ihre Stimme bebte. „Du wusstest von Sascha. Du wusstest, dass ich ihn nie aufgeben werde, solange mir keiner seine Leiche bringt. Wenn ich dir so zuwider bin, warum bist du dann immer noch bei mir?“

„Das frage ich mich auch“, brummte Rudolf erschöpft.

„Ich sage dir, warum“, ging Hanka zum Angriff über, „du bist ein Wrack, brauchst meine Fürsorge mit deinem scheiß Rheuma, kommst alleine nicht mehr klar. Du weißt, dass du langsam zum Krüppel wirst. Darum bist du noch bei mir!“ Sie wollte ihn verletzen, es ihm mit gleicher Münze heimzahlen. Das hatte er verdient.

„Halt den Mund, verdammt!“, fauchte er mit letzter Kraft. „Verschwinde! Ich kann dein blödes Geplärre nicht mehr hören!“

Hanka drehte sich um, stapfte wütend aus dem Wohnzimmer, knallte die Tür mit voller Wucht hinter sich zu. In der Küche blieb sie vor dem Tisch stehen, stützte sich auf der Lehne des Stuhls ab, der ihr am nächsten stand. Sie atmete tief durch, starrte auf die vollen Einkaufstüten. Rudolfs Abfuhr tat weh, bereitete ihr körperliche Schmerzen. Sie zog den Stuhl vom Tisch ab, setzte sich, vergrub ihr Gesicht in den Händen. Dann kamen die Tränen. Sie ließ ihnen freien Lauf, wehrte sich nicht dagegen. Unter heftigen Zuckungen ihres gekrümmten Oberkörpers flossen ihr ganzes Leid, die Enttäuschungen, die erlittenen Beleidigungen und Demütigungen aus ihr heraus.

Zehn, fünfzehn Minuten mochten vergangen sein, als ihr Tränenstrom versiegte, sie sich aufrichtete, sich schnäuzte, dann aufstand und sich daran machte, ihre Einkäufe hinter Schranktüren und in Schubläden zu verstauen. Ohne nachzudenken, erledigte sie die gewohnten Handgriffe, ließ damit ein klein wenig Normalität zurückkehren. Sie spürte, wie sich ihr Inneres allmählich beruhigte. Die Wut auf Rudolf legte sich. Es waren die Schmerzen. Nur deshalb war er so ekelhaft zu ihr gewesen, rechtfertigte sie sein Verhalten vor sich selbst. Rudolf war kein Tyrann. Im Grunde seines Herzens war er ein gutmütiger, verständiger Mensch. Wäre es anders gewesen, sie hätte ihn nie geheiratet. Aber als irgendwann die Krankheit anfing, veränderte sich sein Wesen. Ganz allmählich. Dieses elende Rheuma!

Die Bilder aus dem Supermarkt verschafften sich wieder Raum und drängten die Auseinandersetzung mit ihrem Mann in den Hintergrund. Sie musste etwas unternehmen, konnte nicht tatenlos bleiben. Die Begegnung dort am Weinregal einfach vergessen? Unmöglich! Dieses Mal war es etwas anderes. Sie hatte Sascha gesehen! Leibhaftig hatte er vor ihr gestanden, war nicht mehr nur das Phantom gewesen, dem sie nachjagte.

Was immer sie bisher unternommen hatte, ihren Sohn wiederzufinden – und es gab kaum etwas, das sie unversucht gelassen hatte – es war ohne Erfolg geblieben. Nicht den geringsten konkreten Anhaltspunkt hatte es gegeben, dass er noch lebte. Die Zahl derer, die mit ihr geglaubt, geträumt und gebangt hatten, war stetig geschrumpft, bis ihr irgendwann niemand mehr hatte Beistand leisten und Mut machen wollen. Wie oft war sie nahe daran gewesen, aufzugeben, den Stimmen Glauben zu schenken, die ihr einflüstern wollten, dass es keinen Sinn habe, sich an ein Hirngespinst zu klammern. Doch sie war standhaft geblieben, aller Schwarzmalerei und Widerstände zum Trotz. Dafür war sie jetzt belohnt worden. Für ihr unbeirrtes Festhalten an einem Strohhalm.

Er war es gewesen! Sascha, ihr Sohn! Sie spürte eine Gewissheit in sich, die sich durch nichts würde ins Wanken bringen lassen. Himmel und Hölle würde sie in Bewegung setzen, den Mann aufzuspüren, den sie im Supermarkt noch hatte entwischen lassen. Weil die Überraschung zu groß gewesen war und sie gelähmt hatte.

Sie verließ die Küche, ging energischen Schrittes durch den Flur, verließ das Haus. Das Auto musste noch in die Garage gefahren, die leeren Kisten aus dem Laderaum in den Schuppen getragen werden.

Während sie mechanisch die gewohnten Arbeiten erledigte, dachte sie über ihre Möglichkeiten nach. Diejenigen, denen sie schon in der Vergangenheit die Türen eingerannt hatte, brauchte sie nicht mehr um Hilfe bitten. Zu vielen war sie auf die Nerven gegangen, ohne dass etwas Zählbares dabei herausgekommen wäre.

Welche Mittel und Wege blieben ihr also? Wieder zur Polizei gehen, die missbilligenden Blicke der Beamten ignorieren, ihre ablehnende Haltung aufbrechen und sie dafür gewinnen, nach dem Mann aus dem Supermarkt zu suchen? Sinnlos! Niemand von denen würde noch einen Finger für sie krumm machen.

Die letzten Kisten waren verstaut, als sie sich plötzlich wieder an ein Gespräch erinnerte, das schon ein paar Jahre zurücklag. Kerstin, ihre Tochter, hatte damals ebenfalls noch daran geglaubt, ihren Bruder Sascha eines Tages lebend wiederzusehen. Sie hatte irgendeinen Privatdetektiv erwähnt, den man möglicherweise mit der Suche nach dem Vermissten beauftragen könne. Ein Vorschlag, den sie, Hanka, jedoch abgelehnt hatte. So ein Privatdetektiv kostete viel Geld – Geld, das sie damals nicht hatte ausgeben wollen.

Heute war es ihr egal. Und wenn sie den letzten Cent in die Suche nach Sascha investieren musste, sie würde es tun.

Es behagte ihr nicht, sich an Kerstin zu wenden. Ganz und gar nicht! Ihre Tochter hatte sich längst denen angeschlossen, die vom Tod ihres Bruders überzeugt waren. Darüber war es seinerzeit zwischen ihnen beiden zum Bruch gekommen und sie hatten nie wieder ein Wort über Sascha verloren. In letzter Zeit hatte sich ihr Verhältnis zum Glück ein wenig zu normalisieren begonnen. Da war es vielleicht nicht sonderlich klug, Kerstin wieder mit den alten Geschichten zu konfrontieren. Und doch sah sie keine andere Möglichkeit. Sie musste es wagen!

Harzkinder

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