Читать книгу Harzkinder - Roland Lange - Страница 15

Оглавление

8. Kapitel

Katja kam gegen dreiundzwanzig Uhr nach Hause.

Als die Wohnungstür ins Schloss fiel, schreckte Blume hoch. Er hatte es sich in ihrem Wohnzimmer auf der Couch bequem gemacht und Fernsehen geschaut. Mit Chips, die irgendwo herumlagen, und einer Flasche Bier aus dem Kühlschrank hatte er sich eine Zeit lang über Wasser gehalten. Irgendwann musste er dann eingenickt sein. Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen.

Blume brachte sich ächzend zurück in eine vernünftige Sitzposition, als Katja ins Zimmer trat.

„Na, du hast es dir ja gut gehen lassen“, meinte sie ironisch schmunzelnd, als sie die Reste seiner kärglichen Mahlzeit auf dem Couchtisch entdeckte. „Ich habe uns unten aus der Saloonküche was Vernünftiges mitgebracht. Besser als dein Knabberkram.“ Sie hielt ihm einen Beutel hin, aus dem sich verlockende Düfte den Weg zu seiner Nase bahnten. „Komm, lass uns in die Küche gehen und essen. Dabei musst du mir dann einiges erklären.“

Blume nickte, stand auf und schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher aus. Schnuppernd trottete er hinter Katja her. Der Beutelinhalt hatte seine Lebensgeister geweckt.

„Schön hast du’s hier“, sagte er anerkennend und setzte sich an den Küchentisch.

„Mhm ... lässt sich aushalten.“ Katja hatte ihm den Rücken zugewandt und kramte Besteck aus einer Schublade.

„Am Klingelbrett unten an der Haustür steht Richter, nicht Ortlepp. Bist du verheiratet?“

„Ich war es. Martin, mein Mann, ist bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen.“ Sie stellte Teller auf den Tisch, hantierte mit dem Besteck. Plötzlich hielt sie inne, hob den Kopf und starrte ins Leere. „Im Harz. Schöne Kurven, immer ordentlich Speed. Immer Risiko. Das hat er geliebt. Musste ja irgendwann mal schiefgehen.“

Blume hörte die Verbitterung in ihrer Stimme. „Das tut mir leid“, sagte er.

„Braucht es nicht, danke.“

„Kinder?“

„Nein. Gott sei Dank. So hat er nur mich unglücklich gemacht, der Mistkerl.“ Sie wandte sich der Tüte zu, holte die Isolierbehälter heraus, öffnete sie. „Greif zu.“

Blume ließ sich nicht lange bitten. Steak, Pommes frites und Beilagen wanderten auf seinen Teller, dann übergoss er alles mit der würzigen Soße.

„Guten Appetit“, sagte Katja. „Noch ’n Bier?“

Er nickte kauend, ließ sich von ihr eine Flasche und ein Glas geben, füllte das Glas, trank. Dann widmete er sich wieder dem ausgezeichneten Steak.

Eine Weile aßen sie schweigend, gaben sich dem Genuss hin. Zumindest Blume konzentrierte sich ganz auf seinen Tellerinhalt, vergaß für Minuten die Welt um sich herum.

„Wieso bist du am Leben?“, fragte Katja unvermittelt. „Alle meine Kontakte haben mir damals das Gleiche berichtet: Matthias Wagenfeld ist tot. Bei einem tragischen Unfall in Manila ums Leben gekommen. Deine Leiche wurde nach Deutschland überführt und begraben.“

Blume sah auf, kaute noch einen Moment. Wortlos. „Deine Kontakte haben nicht gelogen“, bestätigte er schließlich. „Matthias Wagenfeld lebt nicht mehr. Auch wenn die Umstände seines Todes etwas anders waren, als es in den offiziellen Verlautbarungen dargestellt wurde und die Leiche ... na ja, meine sterbliche Hülle ist es jedenfalls nicht, die da auf dem Friedhof liegt.“

„Wen hat man dann begraben? Oder war der Sarg leer?“

„Nein, nein. Es lag schon jemand drin. Keine Ahnung, wer das zu Lebzeiten war. Ich habe die sterblichen Überreste zum Spottpreis bekommen und überführen lassen. Du kannst dir auf den Philippinen Leichen kaufen, wusstest du das?“

„Du redest Quatsch!“

„Keineswegs! Wenn du in dem Land die richtigen Leute kennst, ist fast alles möglich.“ Er nahm einen Schluck Bier, spülte einige Essensreste herunter. „Nach meiner Wiederauferstehung war ich dann jedenfalls Stefan. Stefan Blume, gebrauchte Elektrogeräte, An- und Verkauf. Und Reparatur, nicht zu vergessen! Mein Laden liegt in Kleefeld, einem Stadtteil von Hannover und läuft so lala. Ich kann mich einigermaßen damit über Wasser halten. Es gibt leider noch viel zu wenige Menschen, die umweltbewusst handeln und sich was Gebrauchtes kaufen oder ihre kaputten Geräte reparieren lassen. Wegschmeißen und neu kaufen ist nach wie vor die Devise.“

„Nettes Statement für die Umwelt“, entgegnete Katja spöttisch. „Aber das ist ja wohl nicht alles. Du und Gebrauchtwarenhändler? Einer, der tagtäglich an Elektroschrott rumbastelt? Das kannst du mir nicht erzählen. Deinen Namen hast du vielleicht gewechselt und auch dein Aussehen. Aber dein Wesen? Lächerlich! Was ist damit überhaupt? Mit deinem Gesicht, meine ich. Also, nicht der Bart. Deine ganze Mimik ist so ... so starr. Fast keine Regung. Hast du etwa an dir rumschnippeln lassen?“

Blume nickte. „Ja, das musste sein. Waren leider nicht gerade die qualifiziertesten Spezialisten, die mein Antlitz verschönert haben. Aber immerhin mit dem gewünschten Ergebnis. Niemand hat mich seither wiedererkannt. Nicht mal du. Wenn ich noch einen Beweis gebraucht hätte, hast du ihn mir heute geliefert.“

„Aber warum das alles?“

Blume zuckte mit den Schultern. „Wir haben ’nen Fehler gemacht. Damals, kurz nach der Grenzöffnung. Dachten, wir könnten uns mit ’nem Deal freikaufen. Ein paar Namen nennen im Gegenzug für Straffreiheit. Ist aber nicht so weit gekommen. Für zwei der Genossen, mit denen ich das zusammen geplant habe, ist die Sache schon vorher tödlich geendet. Mysteriöses Ableben. Unfälle. Kein Fremdverschulden. Ganz die alte Schule. In einer Kurve von der Straße abgekommen. Nachts. Vermutlich im richtigen Moment von einem entgegenkommenden Fahrzeug geblendet und die Kontrolle verloren. Ich hätte wissen müssen, dass unsere Absichten nicht unbemerkt bleiben konnten und man Verrat in unseren Reihen nicht duldet. Wäre ich geblieben, mir hätte das gleiche Schicksal gedroht. Also bin ich erst einmal geflüchtet. Nach Manila.“ Er stockte, blickte Katja kritisch an. „Was ich dir gerade erzähle, verlässt nicht diesen Raum, oder? Ich mache ungern einen Fehler zweimal.“

Katja knallte verärgert die Gabel auf ihren mittlerweile leeren Teller. „Habe ich dir jemals einen Grund gegeben, mir zu misstrauen?“, fauchte sie gereizt.

„Entschuldige. Tut mir leid“, lenkte Blume angesichts ihrer heftigen Reaktion sofort ein. „Wenn überhaupt, dann traue ich nur dir. Niemandem sonst. Es ist nur ... ich habe verdammt beschissene Jahre hinter mir. Habe damals gehofft, wenn ich auf den Philippinen nur einige Zeit auf Tauchstation gehe, machen sie hier vor oder unmittelbar nach der Wiedervereinigung klar Schiff und misten den SED-Stall gründlich aus. Wie sie es damals nach der NS-Diktatur auch gemacht haben. Stattdessen packen sie die Verantwortlichen mit Samthandschuhen an oder lassen sie einfach laufen. Und die alten Genossen rotten sich zusammen und bilden ihre Erinnerungsvereine, treten sogar öffentlich in Erscheinung und reden das alte Regime schön. Fühlen sich als Opfer der Siegerjustiz und sagen es auch so! Betreiben Geschichtsklitterung und stoßen auf keinen nennenswerten Widerstand. Kriegen stattdessen noch Applaus!“

„Ah, und jetzt denkst du, ich bin auch so eine. Immer noch stramm auf Linie. Du weißt nach all den Jahren nicht mehr, woran du bei mir bist! Habe ich recht?“

„Nein, bitte! Du darfst das nicht falsch verstehen.“

„Ich denke nicht, dass ich das falsch verstehe. Du hörst dich nämlich verdammt so an, als hättest du einen massiven Gesinnungswandel durch“, stellte Katja fest. „Wo ist denn der dogmatische Stasiagent von damals? Nichts mehr übrig vom einst so unumstößlichen ideologischen Unterbau?“

„Ich weiß nicht mehr, ob er tatsächlich so unumstößlich war, der Unterbau. Vielleicht war auch eine ordentliche Portion Opportunismus dabei. Mittlerweile sehe ich die Dinge völlig nüchtern. Pragmatisch. Wenn ich in den vergangenen Jahren eins gelernt habe, dann, dass dich Ideologien, egal welcher Art, irgendwann in den Abgrund reißen. Ich will das nicht mehr. Ich will nur leben, hörst du? Überleben! Nur meinen Hintern retten und in Ruhe gelassen werden. Und genau da liegt mein Pro­blem.“

„Problem? Inwiefern?“

„Diejenigen, in deren Augen ich ein Verräter bin, laufen immer noch frei herum, sind zum Teil sogar bestens in die freie demokratische Gesellschaft integriert, bis hinauf in führende Positionen in Politik und Wirtschaft. Sie sind hervorragend vernetzt. Sofern sie nicht schon das Zeitliche gesegnet haben. Diese Leute vergessen nicht. Am allerwenigsten einen Verrat. Sollten sie jemals von meiner neuen Identität erfahren, werden sie mich bis ans Ende der Welt jagen. Die hören erst auf, wenn sie mich zur Strecke gebracht haben. Verstehst du jetzt?“

Katja wiegte den Kopf. „Klingt schon ein wenig neurotisch, oder?“

„Neurotisch, ha! Du hast keine Ahnung!“

„Jaja, schon gut. Vor mir brauchst du jedenfalls keine Angst zu haben.“

Blume fingerte seine Zigarettenpackung und ein Feuerzeug hervor und hielt Katja beides hin.

Sie hob abwehrend die Hände. „Nein, danke. Habe es mir abgewöhnt. Und wenn du unbedingt rauchen musst, darfst du das gerne tun, aber draußen.“ Blume zuckte mit den Schultern, steckte die Zigaretten wieder weg. „Im Grunde will ich nichts anderes als du“, fuhr Katja nachdenklich fort. „In Frieden leben.“

Blume ließ ihre Worte unkommentiert im Raum hängen. „Was ist mit dir?“, fragte er nach einem Moment grüblerischer Stille. „Hat man dich nie zur Rechenschaft gezogen?“

Sie grinste abfällig. „Nein. Nie. Ich war wohl ein zu kleiner Fisch. Bin durchs Netz gerutscht. War in deren Augen wahrscheinlich nicht wichtig genug gewesen als Sachbearbeiterin im Jugendamt.“

„Und deine Akte? IM Ribanna?“

„Wie du unten im Saloon schon sagtest. Die Akte gab es nicht. Oder nicht mehr. Ich habe auch nachgeforscht. War verloren gegangen oder ist vernichtet worden. Keine Ahnung. Für einen Moment habe ich damals geglaubt, dass du vielleicht deine Hände im Spiel gehabt haben könntest. Aber dann dachte ich, dass du sicher genug mit dir selbst zu tun gehabt hast.“

Er schluckte. So, wie sie es sagte, klang es vorwurfsvoll. Er fühlte sich augenblicklich schuldig. Aber warum? Jeder hatte damals mit sich selbst zu tun. Jeder hatte versucht, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, zumindest alle, die aus Sicht der westlichen Justiz schuldig geworden

waren. Er gehörte zu dieser Gruppe, musste seine Haut retten. Da blieb keine Zeit für andere. Auch nicht für Katja.

„Wie bist du eigentlich an diesen Western-Schuppen gekommen?“, beeilte sich Blume auf ein unverfängliches Thema zu lenken.

„Nach der Wende habe ich verschiedene Jobs gemacht. Alles so Gelegenheitsdinger. Nichts Festes. Im Öffentlichen Dienst bin ich nicht wieder untergekommen und, ehrlich gesagt, ich wollte es auch nicht. Dieser bürokratische Moloch ... davon hatte ich genug. Eine Zeit lang habe ich in einem Restaurant gejobbt. Da ist mir Martin über den Weg gelaufen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wir haben sehr schnell geheiratet. Martin kannte diesen Saloon hier, war mit dem Inhaber befreundet. Damals nannte sich das Lokal noch Campfire Saloon. Wir waren sehr oft dort. Haben uns mit anderen Western-Fans zum Squaredance getroffen und noch andere verrückte Sachen gemacht. Wirklich gut lief der Laden aber nicht. Karl, der Inhaber, war nahe daran, alles hinzuschmeißen. Dann kam Martins Unfall. Er hatte eine hohe Lebensversicherung abgeschlossen gehabt. Ich habe Karl später überredet, mit dem Lokal weiterzumachen und mich mit dem Geld aus der Versicherung bei ihm eingekauft. Aus Campfire wurde Ponytail. Der Name des Saloons war das Erste, was wir geändert haben, darüber hinaus aber auch noch etliche andere Sachen. Live-Musik ist dazugekommen. Vor allen Dingen aber habe ich die Speisekarte rund­erneuert und einen Koch eingestellt, der sein Handwerk wirklich versteht.“ Sie deutete auf seinen Teller. „Davon konntest du dich gerade überzeugen.“

Blume nickte. „Stimmt. War sicher eine gute Maßnahme.“

„Allmählich kamen die Gäste zurück und es ging wieder bergauf. Heute stehen wir so da.“ Sie reckte den Daumen in die Höhe. „Tja, das ist meine Geschichte.“

Blume lehnte sich zurück, nahm das Glas, in dem sich noch ein Rest Bier befand, hielt es gegen das Licht der Küchenlampe und betrachtete es nachdenklich. „Mhm“, brummte er, „das heißt dann wohl, du hast es geschafft. Hast den Systemwechsel ohne größere Blessuren überstanden und dich etabliert. Gratuliere.“

„Das hört sich jetzt irgendwie nicht so an, als ob du es mir gönnst. Eher ein bisschen hämisch.“ Sie winkte ab. „Egal, nehme ich dir nicht übel. Aber jetzt noch mal zu dir – ich weiß immer noch nicht, weshalb du hier bist. Du brauchst meine Hilfe, hast du gesagt. Worum genau geht es dabei?“

Blume blickte auf seine Armbanduhr. „Ist schon ein bisschen spät. Eigentlich bin ich zu müde, um jetzt noch darüber zu reden. Und wieder nach Hause fahren möchte ich auch nicht mehr. Kann ich vielleicht bei dir ...“

Sie unterbrach ihn, indem sie abwehrend die Hand hob. „Moment! Du glaubst jetzt aber nicht, wir machen einfach da weiter, wo wir damals aufgehört haben, oder?“

„Oh, tut mir leid. Missverständnis.“ Er deutete zur Tür. „Ich dachte dabei an die Couch im Wohnzimmer. Ginge das? Und morgen, wenn wir ausgeschlafen sind ...“

Sie lächelte erleichtert. „Ich weiß was Besseres: Oben habe ich eine kleine Einliegerwohnung. Die vermiete ich an Urlaubsgäste. Die nächsten Tage ist sie nicht belegt. Ich denke, da fühlst du dich wohler als auf meiner Couch. Dreißig Euro die Nacht. Weil du es bist. Frühstück inklusive.“

„Das Haus gehört also auch dir?“, wunderte sich Blume.

„Richtig. Das habe ich mir ebenfalls gegönnt, außerdem bin ich hier an der Ferienhaussiedlung beteiligt. Ja, der Kapitalismus hat schon seine schönen Seiten. Also, was ist? Nimmst du die Wohnung?“

Blume zuckte müde mit den Schultern. „So ein Angebot kann ich wohl kaum ausschlagen.“

„Gut, dann legen wir uns jetzt schlafen. Wir treffen uns morgen früh um acht Uhr hier in der Küche. Und beim Frühstück sagst du mir, wie ich dir helfen kann.“

Harzkinder

Подняться наверх