Читать книгу Der Medizinmann - Roland Reitmair - Страница 3
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ОглавлениеEs schneite… oder eigentlich schneite es nicht. Der Wind wirbelte Graupeln umher, verfrorene Körner, die am Gehsteig zu einer rutschig schmierigen Schicht schmolzen. Ein kleines Mädchen versuchte daraus Schneebälle zu formen, während sich dazugehörige Erwachsene angeregt unterhielten.
Neben dem hellen Stern beim Stadttor morste das Blaulicht eines Einsatzfahrzeugs seine Botschaft in die Dämmerung. Die Ampelanlagen funktionierten nicht und eine endlose Kolonne suchte im Schritttempo nach wenigen, begehrten Parklücken nahe den Glühweinständen am Hauptplatz. Ein Polizist an der Abzweigung vorne schien überfordert. Stoßstange an Stoßstange fuhren Autos den Ring entlang und machten ein Überqueren unmöglich.
Gabi stand geduldig am Gehsteig und wartete. Hektisch dahineilende Passanten wichen unwirsch aus. Auch das Mädchen war ihnen im Weg. Es schaute aber nur kurz auf und lächelte.
Im kleinen Park vor der Stadtmauer war ein buntes Zelt aufgebaut, in dem Kinder auf Ponys reiten durften. Dahinter gab es eine Krippe mit echten Tieren, einen Verkaufsstand und ein Kinderkarussell. Leise hörte man blecherne Weihnachtslieder aus den Lautsprechern.
Endlich stoppte ein Fahrzeug. Der Fahrer winkte freundlich. Eine junge, telefonierende Frau auf der zweiten Fahrbahn tat es ihm gleich. Gabi nickte dankbar und überquerte vorsichtig die Straße.
Schneller als gewollt stand sie vor dem „Picanta“.
„Cafe saxo“ hieß es jetzt, weil dann und wann ein Saxophonspieler mit live-Musik unterhielt. Picanta hatte eindeutig besser geklungen.
Wie lange war das her, dass sie noch täglich hier einkehrte? All die Jahre hatte sie einen großen Bogen um das ganze Straßeneck gemacht. War jedes Mal lieber über den Markt gegangen, auch wenn das länger dauert.
Sie wurde nervös. Ob der Glanzer schon da war? Unauffällig versuchte sie durch das Fenster des Picanta zu schauen. Ja. Ganz hinten saß einer an seinem Laptop, das konnte er sein.
Gabi ging weiter zum nächsten Geschäft und betrachtete unschlüssig ihr Spiegelbild in der Auslagenscheibe. Es widerstrebte ihr, diesen fremden Menschen im Picanta zu treffen und ihm ihre ganze Lebensgeschichte zu erzählen. Aber schließlich hatte sie selbst es so gewollt und auch den Termin an diesem Ort vereinbart. Bloß jetzt, wo alles so konkret wurde...
Sie zupfte die Jacke zurecht, strich sich ihre Haare hinter das Ohr und gab sich einen Ruck.
Nachdem sie das Lokal betreten hatte, bewegte sie sich seltsam vertraut und routiniert an den Stehtischen vorbei quer durch das Lokal. Der Mann hinter dem Laptop war korrekt gekleidet, mit Hemd und Krawatte, dunkler Hose.
„Entschuldigen Sie – sind Sie Herr Glanzer?“
Der Angesprochene lächelte, sprang übertrieben höflich auf und deutete eine Verbeugung an. „Ja das bin ich – dann müssen Sie Frau Eder sein?!“ Ohne die Antwort abzuwarten, wies er auf den freien Sessel, „setzen wir uns doch“. Er selbst nahm wieder auf der Bank im letzten Eck des Lokals Platz und kramte in seiner Tasche herum.
Eine peinliche Pause entstand. Gabi hielt solche Situationen nur schwer aus.
„Sie sehen in natura ganz anders aus, als auf den Werbefotos ihrer Website…“, sagte sie und massierte dabei die Knöchel ihrer Finger.
„Finden Sie?“, Glanzer blickte nicht einmal auf dabei, „apropos – wie sind Sie überhaupt auf mich gekommen?“
„Naja, ich hab eben gegoogelt…“. Gabi wirkte verunsichert und distanziert.
Endlich hatte er gefunden, was er suchte – Glanzer übergab ihr eine Visitenkarte und nickte erfreut, „Dann hat der ganze Zauber mit diesem Internetauftritt also doch was gebracht… ich hab’s meinem Neffen nie geglaubt. Dachte der will nur seinen Hunderter verdienen…“
Wieder entstand eine kurze, unangenehme Pause, bevor der Mann fortfuhr: „Das heißt: Sie kennen mich schon ein wenig, zumindest meine Daten aus dem Netz… wollen Sie noch irgendwas wissen, oder erklären Sie mir erst einmal, was genau Sie wünschen…?“
„Ich… ich brauch jemanden, der meine Lebensgeschichte aufschreibt. Ich meine, hm, ich bin nicht prominent oder so…“ sagte Gabi stockend, räusperte sich und fixierte ihr Gegenüber, als wolle sie noch einmal abschätzen, ob man dem Kerl vertrauen darf, „Aber … aber ich hab einige Dinge erlebt, die ich nie wirklich aufgearbeitet habe.“
Glanzer merkte, dass es seiner Person gegenüber Vorbehalte gab. „Sie können mir ruhig vertrauen“, erklärte er, „ich betrachte meinen Beruf diesbezüglich wie den eines Arztes. Ich hab mein Berufsgeheimnis. Was ich schreibe, zumal wenn es um Biografien geht, geschieht nur mit dem Einverständnis aller Beteiligten. Ansonsten hab ich meine – selbst verordnete – Schweigepflicht!“
Gabi nickte ansatzweise, schien jedoch nicht restlos überzeugt. Ihre Hände zitterten, während sie sich eine Zigarette ansteckte. Nach einem tiefen Lungenzug vernebelte sie die silbernen Kalotten, die wie fliegende Untertassen als Lampenschirme an der Decke des Raumes schwebten.
„Gut… Also… – vor einigen Jahren meinte mein Psychotherapeut, dass bei mir da oben immer noch ein „gordischer Knoten“ stecken würde… Alles aufschreiben, sagte er damals, würde helfen.
Ich fand nie die Ruhe dazu, nie die Zeit… oder den Mut. Aber es ist so weit: Ich bin jetzt siebenundfünfzig und sollte diesen alten Knoten endlich lösen… Man sagt die Zeit heilt viele Wunden, aber vierzig Jahre sind genug. Was bis jetzt nicht heilte, wird nie heilen. Ich muss mich damit auseinandersetzen, sonst zerfrisst mich die Erinnerung…
Allerdings bin ich schon froh, wenn ich alles annähernd chronologisch erzählen kann… Sie würde ich also gern engagieren, meine Erzählungen zu einem „Ganzen“ zu bringen – geht so etwas, machen Sie das…?“
„Hm“, brummt Glanzer, „ich dachte eigentlich, sie haben bereits ihre niedergeschriebene Geschichte und ich mach nur Verbesserungen, Korrekturen – so kostet das natürlich mehr…“
„Von wie viel reden wir?“
„Bei Korrekturarbeiten verrechne ich vier Euro pro Seite, wenn ich das alles schreiben soll, dann etwa acht bis zwölf Euro pro Seite…“
„Ok“, meinte Gabi, „was ist realistisch? Zweihundert Seiten?“
Glanzer wiegte den Kopf und zog die linke Braue nach oben, „Keine Ahnung, das hängt von Ihrer Geschichte ab… ich kann das so nicht sagen. Wenn Sie viel erlebt haben können es auch fünfhundert Seiten sein!“
Gabi lächelte unsicher, „Ok, ich denke, das ist es mir trotzdem wert…“
„Was ist dieser gordische Knoten in Ihrem Kopf? Was sind die Themen Ihrer Biografie? Muss ich mich irgendwo einlesen?“ Er lockert seine Krawatte, „Treiben Sie speziellen Sport oder gibt es sonst irgendwelche Spezialdisziplinen, bei denen sich ein „Normalsterblicher“ wie ich nicht auskennt?“
Gabi schaute ihn kurz an und antwortete nicht gleich. Sie nahm die Getränkekarte und legte sie bedächtig vor sich hin. Wieder traf Glanzer dieser forschend skeptische Blick aus tiefbraunen Augen.
„Es geht um Drogen“, begann sie langsam, „Um ganz tief unten, um hoch oben, um Liebe und Tod…“
Nun schien Glanzer irgendwie sprachlos. „Hm. Aha. Ja.“, murmelte er, „mit Drogen kenne ich mich nicht aus…“
„Gar nicht?“, fragte Gabi ungläubig, „Noch nicht einmal einen Joint geraucht?“
„Gar nicht. Und auch keinen Joint.“
„Wirklich…?“, verwundert schüttelte sie den Kopf, „Aber, ich meine… was sie bezüglich meiner Geschichte wissen müssen, kann ich Ihnen sagen und erklären… speziell einlesen brauchen sie sich dazu nicht.“
Wieder so eine endlose Pause. Glanzer schien mit sich selbst zu kämpfen. Er schürzte die Lippen. „Wir versuchen es einfach“, sagte er schließlich tonlos, stellte den Laptop zu sich auf die Sitzbank, fischte einen Notizblock aus der Tasche und legte ihn vor sich hin.
Umständlich notierte er das Datum und „Gabriele Eder“ am rechten oberen Rand der ersten Seite. Eine endlos lange Minute verging.
Endlich kam die Kellnerin. Glanzer wollte Tee, Gabi bestellte Rotwein.
Glanzers Aussehen und auch sein korrekt steifes Benehmen erinnerte Gabi an ihren Anwalt bei der Verhandlung damals. Auch so ein schweigsamer Anzugträger, so ein humorloser Stockfisch.
Ihr unruhiger Blick wanderte alten Fotos entlang, die hinter der Bar aufgehängt waren. Partyfotos. Faschingsfotos. Sauffotos. Die Besitzer der Bar mit dem Personal. Ein Vampir inmitten eines Bienenschwarmes. Eine rauchende Bikinidame auf der Bar, die mit ihrem Schmollmund den Zapfhahn küsst.
„Noch das „Technische“, bevor wir endgültig anfangen… Grundsätzlich verrechne ich pro Termin zusätzlich fünfzig Euro. Brauchen werden wir wahrscheinlich drei Termine würde ich sagen. Heute geben Sie mir alle Eckdaten bekannt, dann schreibe ich eine Rohversion, die ich Ihnen übermittle. Beim zweiten Termin besprechen wir den Entwurf, ich überarbeite alles und schicke Ihnen das neuerlich. Wenn wir uns einig werden, wovon ich ausgehe, dann kann meine Lektorin die notwendigen Korrekturen veranlassen und wir vereinbaren dann nur noch einen Termin zur Nachbesprechung – beziehungsweise Erörterung eventuell weiterer Möglichkeiten, wie Veröffentlichung, wenn es ein Thema für die breite Öffentlichkeit wäre…“
Die Kellnerin servierte Tee und Wein.
Je mehr Glanzer von seiner Arbeitsweise erzählte, desto reservierter gab sich Gabi. „Jaja, wird schon alles so passen…“, doch sie vermittelte in dem Augenblick eher den Eindruck davonlaufen zu wollen.
„Fangen wir ganz vorne an…“, versuchte Glanzer Ruhe auszustrahlen, „Sie umreißen kurz das Thema und beginnen dann mit den Einzelheiten…“
Gabi war jetzt noch mehr aufgeregt, als draußen auf der Straße. Wie gegen inneren Widerstand begann sie ruckartig zu sprechen. Einzelne Worte, ohne Satzmelodie. „Ich … ich hätte diese Dinge gern niedergeschrieben. Es ist so viel passiert. So viel, das nicht leicht zu verstehen ist, auch für mich nicht…“
Mit einem Kopfschütteln unterbrach sie sich: „Ich bin so nervös. Was werden sie von mir denken…!?“
Aber Glanzer schwenkte nur kurz den Kopf zur Seite. „Das ist normal am Anfang, Sie müssen erst ihren Faden finden… dann erzählt es sich wie von allein. Sie werden sehen.“
Gabi atmete tief durch, konzentrierte sich. „Es ist deswegen, weil ich das nicht nur für mich tue, nicht nur für mich meinen Knoten im Hirn lösen möchte…
Marie, meine Tochter, fragt immer wieder einmal nach, will wissen, was „damals“ war. Wie und wer ihr Vater war. Ich hab ihr noch nicht sehr viel erzählt. Vielleicht gab es auch einfach nie Gelegenheit ihr mehr zu erzählen…
Und meine Bedenken, sie könnte werden wie er…“
Gabi starrte abwesend in Richtung Toilette. Erst als dort die Tür aufging, wendete sie ihren Blick ab und redete weiter. „Ja, Marie hat seine Gene, seine Anlagen. Genau wie er ist sie übersensibel und zerbrechlich – nur um im nächsten Moment zur rücksichtslos sturen Egozentrikerin zu werden.
Aber sie soll nicht nur mehr über ihren Vater erfahren, sie soll, wenn schon, dann die ganze Geschichte erfahren – auch, wenn ich dabei … so etwas wie Hemmungen hab.“
Gabi rückte ihren Sessel zurecht und fixierte nun irgendwie betreten oder traurig die blank polierte Tischplatte.
Das Café füllt sich langsam mit durchfrorenen Besuchern des nahen Adventmarktes. Rote Rotznasen suchten sich ihren Platz und schnäuzten sich umständlich, während sie bestellten.
Abgesehen von der Beleuchtung aus den siebziger Jahren, war die Atmosphäre im Café gemütlich.
Glanzer schaute neugierig, erwartungsvoll, fast lauernd, „wenn ich sie recht verstehe, dann ist der Vater ihrer Tochter nicht mehr am Leben?“
„Ja… Michael ist tot.“ Gabis Gesicht verlor Farbe, erstarrte, „Tot wie so viele andere. Nur Claudia und ich sind übrig. Alle anderen aus der Zeit sind nicht mehr am Leben…“
„Claudia? Wer ist Claudia?“
„Claudia ist meine beste Freundin. Mit ihr ging ich durch dick und dünn, oder dick und doof, wie man will…“
„Frau Eder, ich brauche zuerst einmal einen kurzen Überblick – ich soll offenbar eine Geschichte über Drogenmissbrauch schreiben, Abhängigkeit, Verlust von Freunden und ihren eigenen Kampf gegen die Droge? Nehmen sie noch Drogen?“
„Nein. Sonst würde ich nicht hier sitzen, sondern wäre, wie die anderen, schon in der Kiste und unter der Erde…“
„Wichtig wäre mir, dass wir einen Anfang finden. Wann und wie hat alles angefangen? Gab es markante Daten oder Punkte, wo sich ihr Leben vom Leben der anderen zu unterscheiden begann?“
„Ja… Ja, die gab es. Damals in Tirol. Auf Saison… Aber mit Michael hat es erst 1978 angefangen… zu Weihnachten… am dreiundzwanzigsten Dezember…“
„Da haben sie ihren Mann kennengelernt?“
„Ja – nein. An dem Tag kamen wir zusammen. Michael hab ich schon in der Sandkiste kennengelernt.
Damals war er noch so ein richtig böser Rabauke… Wahrscheinlich müsste ich mit dieser Zeit anfangen. Mit der Volksschule. Manchmal denke ich, das Unglück hat mich schon früh verfolgt.“
Glanzer sah auf und musterte Gabi. Sie lachte unsicher. Wischte mit der Hand durch die Luft und korrigierte die Aussage, „Nein, das stimmt jetzt so nicht. Eigentlich hab ich immer viel Glück gehabt und immer Menschen getroffen oder um mich gehabt, die mir dann aufgeholfen haben, wenn ich es selbst nicht mehr schaffte.“
Ihr Gegenüber räusperte sich, „Entschuldigen sie, wenn ich unterbreche, aber das würde mir gefallen, wenn eine Episode aus ihrer Kindheit quasi zum Anker für die ganze Geschichte würde, ich finde das hat was… wenn sie vielleicht wirklich dort anzufangen versuchen?!“
„Okay…“, Gabi nickte langsam und überlegte.
„Ich bin ja erst mit Beginn des zweiten Jahres Volksschule nach Linz gekommen. Meine ersten Lebensjahre hab ich in Wien verbracht, den Kindergarten und das erste Schuljahr. Allerdings kann ich mich daran kaum noch erinnern.
Weiß nur noch, dass ich am Weg zum Kindergarten an einer großen Fabrik vorbei musste. Entlang einer endlosen, großen, grauen Betonmauer, auf der unzählige stumpf dahingurrende Tauben saßen. Der ganze Weg war mit ihrem Dreck vollgeschissen. Wie weiße Tintenkleckse. Und immer wieder einmal hat mich eines der blöden Viecher auch erwischt und ich lief weinend wieder heim.
Der stinkende Vogeldreck auf der Jacke oder dem Kleid machte mich wahnsinnig. Aber geweint hab ich, weil ich deswegen wieder einmal zu spät in den Kindergarten kam und die Tanten nur wenig Verständnis für meine angeblichen Ausreden hatten. Die anderen Kinder haben mich jedes Mal verspottetet. „Taubendreck-Gabi“ sagten sie.
Den Kindergarten besuchte noch eine Gabi – die „schöne“ Gabi, wie sie von den anderen Kindern genannt wurde, um sie namentlich von mir zu unterscheiden. Natürlich hat die eifrig mit gespottet. Ich konnte sie nicht ausstehen – und sie mich auch nicht. Das gehörte zusammen: der Taubendreck, die Hänseleien und die „schöne“ Gabi. Für mich hieß das automatisch, dass ich ein hässliches Entlein bin.
Irgendwann durfte sie wieder einmal bei einem Spiel mitmachen und ich nicht. Da wurde ich sehr zornig, das weiß ich noch gut. Ich ging zu ihr hin und schnäuzte mich einfach in ihren Faltenrock.“
Gabi hielt inne, überlegte, lächelte. „Ich war wohl kein Engel damals...
Meine Eltern wurden vorgeladen und hochoffiziell informiert, was für ein Biest ich nicht sei. Es gab ein fürchterliches Donnerwetter mit der Leiterin. Erst daheim legte mein Vater seine ernste Miene wieder ab, grinste und nannte mich von da ab nur mehr „Zornpinkerl“.
Kurz darauf war Tag der Milch. Österreich hatte angeblich „Milchseen“ und „Butterberge“ – wo die waren, wusste ich nicht, traute mich aber auch nicht zu fragen. An dem Tag ging jedes Kind mit einem Luftballon und einer weißen Milch-Schildkappe nach Hause… nur ich ging zur Strafe leer aus.
Nach diesen Querelen war ich froh, endlich in die Schule zu kommen, obwohl diese nur unweit des Kindergartens lag und ich so weitere vier Jahre an den verhassten Tauben vorbei sollte – und obwohl viele der mich hänselnden Kinder auch in die Schule wechselten.
Aber die bösen Tanten war ich los. Außerdem war die „schöne“ Gabi Gott sei Dank in der Parallelklasse…
Das Schulgebäude war ein alter Gründerzeit-Bau. Garderoben befanden sich ebenerdig hinter einer modernen, gläsernen Flügeltür. Zu den Klassen im Stockwerk darüber gelangte man über eine breite Treppe. Die Räume dort waren hoch, die Türen groß und aus schwerem Holz. Ich war damals eine ziemlich kleine Maus, dünn und einen Kopf kleiner als die Mitschüler. Die Türschnallen erreichte ich nur auf Zehenspitzen, aber dann konnte ich die schweren Türen nicht öffnen. Anfangs musste mich daher die Lehrerin immer aufs Klo begleiten.
Alles in allem gefiel es mir aber gar nicht schlecht. Ein Nachbarsjunge, der vorher einen anderen Kindergarten besucht hatte, saß nun mit mir in derselben Klasse. Zu zweit ist man gleich mutiger und da hat dann auch diese unselige Fabrikmauer ihre Schrecken verloren. Wir hielten uns die Hand und johlten laut, wenn wir unbekleckst vorbei waren. Am Heimweg küssten wir uns manchmal hinter der Fabrik. Patrick hieß er. Der erste Junge, der mein Interesse weckte. Unsere Eltern bemerkten es und hatten ihren Spaß daran.
Wenn man so will, war er meine erste große Liebe.“ Gabi lachte. „Im Winter allerdings biss er sich beim Schifahren durch die Unterlippe. Die Wunde entzündete sich und eiterte. Da war es dann vorbei damit. Ich ekelte mich und hielt mich von ihm fern…
Vater war in dem Jahr kurz arbeitslos. Eine neue Anstellung fand er in Linz. Wir sollten alle mit nach Linz, übersiedeln.
In der Familie gab es Vorbehalte. Meine Geschwister wollten nicht weg. Mir war es egal. Nein. Mir kam diese Übersiedlung gerade recht – weg von Wien, von Patrick und seiner Eiterwunde, weg vom Taubendreck. Und niemand würde mir mehr „Taubendreck-Gabi“ hinterher rufen.
Außerdem lebte die Oma in der Nähe von Linz. Und meine Oma mochte ich sehr.
Allerdings war Oma nicht mehr gut beisammen, wie Vater uns erklärte. Sie ging in ein Heim, und wir bezogen ihr Haus. Jenes Haus, in dem wir schon oft den Urlaub verbracht hatten. Ich freute mich – auf die Wiesen und Felder, auf meine Cousins und Cousinen.
Das Haus stand am Eck einer Reihenhauszeile und hatte einen großen Garten. Das war auch für meine Geschwister der Pluspunkt zu Wien, zur engen Wohnung.
Neben der kleinen Siedlung waren nur Au und Wiesen, rund um einen riesigen, frei dastehenden Vierkanthof… Da wuchsen Krokusse, Leberblumen und Schlüsselblumen, später im Sommer leuchtend gelber Löwenzahn. Bis zum Sportplatz am Stadtrand stand kein einziges Haus.
Jetzt schaut alles ganz anders aus. Ich war vor kurzem dort… alles zugepflastert. Der kleine Schiberg ist weg und auch der Wald. Der Vierkanter steht noch, aber inmitten eines total verbauten Gebietes.
Omas Haus war so ein altes Hitler-Siedlungshaus. Für Familien mit mehr als sechs Kindern gab es das damals im Krieg angeblich geschenkt. Es hatte vielleicht 60 Quadratmeter, nicht mehr, und anfangs auch nur ein Plumpsklo über den Hof – da fürchtete ich jedes Mal hineinzufallen…
Im Winter war es saukalt in den Räumen. Man konnte das Haus kaum heizen. Die Fenster zierten wunderschöne Eisblumen...“
Gabi verstummte nachdenklich. Drehte ihren Weinkelch spielerisch zwischen Daumen und Zeigefinger.
Erst jetzt in Gabis Denkpause fielen Glanzer zwei ältere Damen am Nachbartisch auf, die tuschelten und immer wieder herüber sahen. Entweder sie kannten ihn von irgendwoher, oder waren gar nicht schwerhörig und verstanden, was Gabi erzählte. Doch er hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Gabi nahm ihre Erzählung wieder auf.
„In der Nähe von Omas Haus war ein Spielplatz mit einer großen Sandkiste. Am liebsten spielte ich Sandkuchen backen. Füllte alle möglichen Formen mit Sand und stürzte diese dann umgedreht auf ein imaginäres Backblech… Sicher, ich war damals schon sieben und damit eigentlich bereits zu alt für Sandkuchen… aber es machte mir einfach Spaß.
Michael, mein späterer Mann, kam daher. Damals – wie gesagt – noch ein lästiger Rabauke. Er wohnte auch in der Siedlung, besuchte mit meiner großen Schwester die gleiche Klasse. Michael war drei Jahre älter, eigentlich nett, aber so ein Angeber. Damals hänselte er mich ständig – ich war ein leichtes Opfer…
‚Na – immer noch Jungfrau?’, fragte er zum Beispiel öfters. Ich wusste damals natürlich noch nicht, was das ist. Ich kannte nur die Jungfrau Maria – und so was war ich nicht, also verneinte ich vehement.“ Gabi schüttelte unwillkürlich den Kopf. „Er war so ein Depp …
Einmal brachte er mir dieses fürchterlich dumme Lied bei – „Peter, Peter steht er dir? Steht er nicht, dann wackelt er...“
Ob er über diese Dinge damals schon Bescheid wusste…? Hmm. Weiß nicht.
Darüber hat er nie geredet. Auch später nicht. Ich hab ihn sogar einmal danach gefragt. Da hat er sich ausgeschwiegen. Seine Eltern und sonstigen Verwandten kannten – glaube ich – nicht viele Tabus. Dort wird Michael eben so manches gesehen oder aufgeschnappt haben und mich hat er dann damit geärgert…
Einmal kam er mit einer selbst für ihn seltsamen Laune daher. Im Nachhinein hab ich das natürlich alles verstanden, aber damals? Er musste total verstört gewesen sein. Er war aus der Wohnung geschickt worden, weil er, wie er sagte, „beim Ficken gestört“ hätte… Ich hatte keine Ahnung wovon er sprach und wollte sicher auch nichts davon wissen. Mich interessierten meine Sandkuchen und nicht seine Geschichten, sein Blödsinn – mit dem er mich immer verunsicherte und ärgerte.
Sogar den großen Eimer, den ich mit extra feuchtem Sand gefüllt hatte, konnte ich erfolgreich stürzen. Voller Stolz beanspruchte ich wohl die ganze Sandkiste und war ihm im Weg, oder vielleicht fühlte er sich dadurch doppelt ignoriert und brauchte einfach einen Blitzableiter. Jedenfalls zerstörte Michael meine Backwerke in wenigen Sekunden. Da weinte ich.
„Du blöde Heulsuse“, sagte er, „mit sieben noch Sandkuchen backen und wegen dem Scheißdreck auch noch weinen!“ Er lachte laut und rief immer wieder: „Dummes, kleines Sandmädchen, dummes kleines Sandmädchen…“
Eine schmerzliche Erfahrung für eine Siebenjährige, der Zerstörungswut eines Zehnjährigen machtlos ausgeliefert zu sein. Klar, Sandkuchen sind nicht für die Ewigkeit gedacht, aber ich fühlte mich sehr an Wien erinnert, an die „Taubendreck-Gabi“ und war zu tiefst verletzt.“