Читать книгу Verbrechen zieht weite Kreise: Kommissarin Bramberger ermittelt - Roland Heller - Страница 8
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Оглавление„Arbeitet die Mordkommission neuerdings nach dem Einmannprinzip?“, fragte eine brummige männliche Stimme hinter der Kommissarin. „Leidet die Polizei unter akutem Personalmangel oder macht Ihr Verein gerade Betriebsurlaub?“
Bramberger warf einen Blick über ihre Schulter. Der Sprecher war ein etwa fünfundzwanzigjähriger Wichtigtuer mit einem runden Gesicht und kleinen spöttischen Augen. Aber er trug Uniform.
„Ich gehöre nicht der Mordkommission an“, informierte sie ihn ruhig. „Ich bin Kriminalistin im Dezernat für Dezernat übergreifende Fälle. Ich habe den Funkspruch zufällig unterwegs aufgefangen, nur zwei Häuserblocks von hier entfernt. Deshalb bin ich hergekommen.“
„Ein Lob Ihrem Diensteifer!“, sagte er. „Aber wann dürfen wir mit dem Eintreffen Ihrer Kollegen von der Mordkommission rechnen?“
Bramberger gab dem Schwätzer keine Antwort. „Wer hat das Morddezernat verständigt?“, fragte sie. Das platinblonde Mädchen schaute sie an. Ihre großen bernsteingelben Augen schwammen in Tränen.
„Das war ich“, sagte sie. „Vor fünf oder zehn Minuten...“
„Wie heißen Sie?“
„Ich bin Emma Guhl.“
„Sie waren dabei, als das Verbrechen geschah?“
Das Mädchen zitterte.
„Ja“, stieß sie hervor und hob fröstelnd die glatten runden Schultern. „Es war schrecklich!“ Alban steckte den Schlüssel ins Schloss und machte auf.
Er ging voran, um in der Diele das Licht anzuknipsen. Im nächsten Moment passierte es! Es knallte dreimal hintereinander! Ich schrie und taumelte zurück. Aus der Wohnung kam ein Mann gehetzt. Er jagte an mir vorüber auf den Lift zu. Die Pistole hatte er noch in der Hand.“
„Haben Sie ihn erkannt?“
„Nein, alles ging so wahnsinnig schnell. Ich war vor Schreck wie gelähmt. Ich sah den Mann nur von hinten...“
„Haben Sie sich bereits in der Wohnung umgesehen?“, fragte Bramberger.
„Nein“, erwiderte sie.
Die Kommissarin wandte sich an die Gruppe der Neugierigen. Einige der Leute standen in Pyjamas, Bademänteln und Morgenröcken herum. „Sind Sie Hausbewohner?“, fragte sie.
„Ja“, antwortete ein älterer schnauzbärtiger Mann. „Meine Frau und ich hörten den Schrei und die Schüsse, als wir uns gerade hingelegt hatten. Wir warfen uns rasch etwas über und eilten aus der Wohnung, um zu sehen, was los war.“
„Ich saß vor dem Fernseher“, meinte ein stämmiger Mittvierziger. „Der Krimi, der über den Bildschirm flimmerte, war gar nicht übel. Aber der Schrei und die Schüsse, die ich plötzlich hörte, passten nicht in den Streifen. Ich flitzte ’raus und stolperte förmlich über die junge Dame, die am ganzen Körper zitterte und nach einem Telefon fragte. Wir haben dann gleich die Polizei angerufen!“
Kommissar Philipps traf fünf Minuten nach Bramberger ein. Bramberger begrüßte ihn und Dr. Raggers, den Polizeiarzt, und erklärte ihre Anwesenheit am Tatort. Die Fotografen und der Arzt machten sich sofort an die Arbeit.
Philipps zog ein saures Gesicht. Er wusste, was auf ihn zukam. Ermittlungen in Schauspielerkreisen sind meistens sehr langwierig und diffizil. Der brancheübliche Hang zur Publicity ist der Wahrheitsfindung nicht immer dienlich.
In der Wohnung Flehmigs herrschte mustergültige Ordnung. Das Türschloss war unversehrt. Soweit es sich auf den ersten Blick erkennen ließ, war der Mörder mit einem passenden Schlüssel eingedrungen. Offenbar war er nicht gekommen, um etwas zu suchen oder zu stehlen. Er hatte lediglich auf Flehmig gewartet, um ihn beim Eintreten niederzuschießen.
Emma Guhl war die einzige Tatzeugin. Kommissar Philipps verhörte sie in Flehmigs Arbeitszimmer, einem mahagonigetäfelten Raum, dessen Längswände bis unter die Decke mit dicht gefüllten Buchregalen bedeckt waren. Ein Stenograf und Bramberger verfolgten die Unterhaltung.
„Frau Guhl, Sie waren mit Herr Flehmig befreundet?“, fragte Kommissar Philipps. Er hatte sich an Flehmigs Arbeitsplatz niedergelassen. Die junge Dame saß ihm am Schreibtisch gegenüber. Sie hatte sich inzwischen gefasst und weinte nicht mehr.
Emma trug ein schulterfreies Cocktailkleid aus schokoladenbraunem Chiffon. Als einzigen Schmuck hatte sie eine einreihige Perlenkette umgelegt. Der matte Glanz der Perlen vertiefte den Eindruck samtiger Zartheit und Wärme, der von Frau Guhls makellosen Schultern ausging.
Alles an dieser etwa zweiundzwanzigjährigen Frau wirkte vollkommen: das Gesichtsoval mit den Jochbeinen, die ungewöhnlich langen dichten Wimpern, die goldfarbenen Augen, der Schwung der weichen Lippen und die edle Linie des schmalen Halses. Emma Guhl hatte eine angenehme Stimme. Es war zu merken, dass es eine geschulte Stimme war, das modulationsfähige Instrument einer gelernten Schauspielerin.
„Ja, Kommissar, er war mein Freund“, erwiderte das Mädchen. „Alban hat viel für mich getan. Ohne seine Fürsprache hätte ich wohl kaum die Chance bekommen, in dem neuen Film von Arne Richter eine tragende Rolle zu übernehmen. Es wird mein erster Film sein. Bisher habe ich hauptsächlich in Theater-Aufführungen mitgewirkt. Und auch dort meistens kleinere Rollen.“
Bramberger erinnerte sich jetzt schwach, den Namen Emma Guhl schon auf Theaterfotos und in Theaterkritiken gesehen zu haben. Zur ersten Garnitur gehörte sie mit Sicherheit noch nicht. Vom Aussehen her hatte sie freilich das Zeug, im Film eine rasche Karriere zu machen. Es schien, als besäße Emma Guhl hinter der betörend schönen Fassade eines Glamour-Girls auch genügend Energie, Begabung und Stehvermögen, um ihre Ziele zu erreichen.
„Ist Emma Guhl Ihr Künstlername?“, erkundigte sich der Kommissar.
„Nein, so heiße ich wirklich. Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und lebe allein in München. Momentan drehen wir ja hier in Berchtesgaden, da bewohne ich ein Einzimmerapartment in einem Apartmenthaus, in dem die gesamte Filmcrew haust. Ich bin nicht nur Schauspielerin, ich arbeite auch als Fotomodell. In diesem Job hat mich Albin Flehmig kennengelernt. Hier hat er ja ebenfalls einen Wohnsitz“, sie deutete mit der Hand auf den Raum, in dem sie sich befanden.
„Ja, Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor“, sagte Philipps freundlich. Er gehörte zu den Beamten, deren sachlich verbindlicher Ton rasch eine angenehme Verhandlungsatmosphäre schafften. Philipps war achtunddreißig Jahre alt. Er hatte unwahrscheinlich blaue Augen und blondes Stoppelhaar.
Sein Lächeln gab ihm einen jungenhaften Anstrich. Es gab jedoch viele Leute, die dieses Lächeln nie zu sehen bekamen. Das waren die Leute, die er jagte. In seinem Beruf kannte Philipps keinen Pardon.
„Betrüblicherweise werde ich manchmal mit Scarlett Johansson verwechselt. Dabei bin ich doch viel jünger. Es wäre mir lieber, die Leute würden endlich nach Emma Guhl fragen. Ich habe mein eigenes Gesicht und meine eigene Persönlichkeit. Ich möchte nicht als Abklatsch einer anderen gelten, Kommissar.“
Philipps warf Bramberger einen raschen Blick zu, den sie genau verstand. Der Kommissar registrierte, dass das Mädchen nach dem ersten Schmerzausbruch nur noch an sich dachte. Vermutlich war sie enorm ehrgeizig und ichbezogen. Der Schock nach der Tat hatte diese Eigenschaft nur vorübergehend in den Hintergrund treten lassen.
„Frau Guhl, seit wann kennen Sie Herr Flehmig?“, fragte der Kommissar.
„Seit zwei Monaten.“
„Wo haben Sie sich kennengelernt?“
„Er rief mich eines Tages an. Er hatte mich in einem Stück von Kazan gesehen und war begeistert. Er lud mich ein, mit ihm essen zu gehen. Natürlich nahm ich an! Ich war ganz aufgeregt. Schließlich war Herr Flehmig eine stadtbekannte Persönlichkeit. Ich bestreite nicht, dass ich mir von seiner Bekanntschaft ein klein wenig Protektion und etwas Förderung erhoffte. Darauf kann man beim Theater einfach nicht verzichten. Nun, meine Erwartungen erfüllten sich sehr bald. Mr. Flehmig hat viel für mich getan. Ich werde in Erich Renolds Film...“
„Wie oft sahen Sie Mr. Flehmig?“, unterbrach Kommissar Philipps das Mädchen.
„Im letzten Monat etwa zweimal in der Woche.“
„Betrachten Sie sich als seine Freundin?“
„Ich glaube, er war mir sehr zugetan, aber das hatte nicht viel zu sagen. Alban kannte schrecklich viele Mädchen, und die meisten waren ganz versessen darauf, seine Freundschaft zu gewinnen. Im Grunde liebte er wohl nur seine geschiedene Frau.“
„Warum wurde die Ehe geschieden?“
„Ich vermute, dass sich Albans Frau ganz einfach vernachlässigt fühlte. Alban ist kein Kostverächter. Er bezahlt gerne mit Engagements, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Philipps nickte lediglich. Das, was die junge Schauspielerin hier fast wie ein Geheimnis präsentierte, verbreiteten die Spatzen schon längst von den Dächern. „Wo haben Sie den heutigen Abend mit Mr. Flehmig verbracht?“, fragte Philipps.
„Wir haben uns eine Gast-Aufführung im Stadt-Theater angesehen. Sie wissen ja, dass Flehmig sich als eine Art Talentsucher betätigte. Er besuchte häufig Laienbühnen und...“
„Ja, schon gut“, unterbrach der Kommissar. „Wann verließen Sie mit ihm das Theater?“
„Das war kurz nach dreiundzwanzig Uhr. Wir aßen in einem Lokal gleich nebenan ein Steak. Alban schlug vor, noch einen Drink in seiner Wohnung zu nehmen. Ich willigte ein. Die Aufführung hatte uns aufgewühlt, und wir brannten darauf, sie zu besprechen. Ich glaube, es dürfte so gegen dreiundzwanzig Uhr vierzig gewesen sein, als wir das Haus betraten und mit dem Lift nach oben fuhren. Alban öffnete die Tür und trat ein. Unmittelbar darauf fielen die schrecklichen Schüsse. Kommissar, darf ich rauchen?“
„Bitte“, sagte Philipps. Er holte galant ein Päckchen aus seiner Tasche und hielt sie dem Mädchen hin. Emma zupfte sich eine Zigarette aus der Packung. Der Kommissar gab ihr Feuer. Das Mädchen inhalierte tief und mit zurückgelegtem Kopf. „Ich habe den Mörder gesehen“, sagte sie dann leise. „Er war gut angezogen. Er sah nicht aus wie ein Gangster. Er trug einen Smoking, genau wie Alban.“
„Kann es sein, dass der Mann mit Ihnen ihm Theater war?“, erkundigte sich Philipps.
„Ich weiß es nicht. Ich bezweifle es. Bei Gastauftritten geht es nicht sehr zeremoniell zu. Da sieht man selten einen Smoking. Alban machte da eine Ausnahme. Ihn kennt man nicht anders. Für ihn war das eine Berufskleidung. In dem kleinen Theater wäre mir ein zweiter Smoking sicherlich aufgefallen.“
„Smoking trägt der normale theaterinteressierte Sterbliche doch nur bei Premieren, zumindest in der Provinz, nicht wahr?“, fragte Philipps. „Hat es heute irgendwo eine solche Premiere gegeben?“
„Wenn ja, dann kann es keine sehr wichtige gewesen sein“, meinte Emma. „Sonst wäre Alban mit mir dahingegangen. Möglicherweise war der Täter vorher auf einer Party! Vielleicht hat er sie nur für kurze Zeit verlassen, um die Tat zu begehen. Das wäre gar nicht so dumm, nicht wahr, Kommissar? Dann hätte er nämlich ein Alibi.“
„Wie alt war der Mann?“, fragte Philipps.
„Ich habe ihn ja leider nur von hinten etwas genauer gesehen. Ich würde sagen, dass er noch jung war, nicht über dreißig. Er bewegte sich schnell und elastisch, und er hatte dichtes dunkles Haar, kurz geschnitten, mit einem tiefen Nackenansatz.“
Das Girl machte eine kurze Pause, um sich weitere Details einfallen zu lassen. Philipps warf einige Notizen auf ein Blatt Papier. „Der Mörder hatte ungefähr meine Größe“, fuhr das Mädchen fort, „aber er war nicht so schlank. Um die Taille herum war er ganz schön massiv. Das konnte nicht einmal der Smoking kaschieren.“
„Haben Sie ihn nicht im Profil gesehen, als er den Lift betrat?“
„Einen winzigen Moment, aber das reichte nicht aus, um das Gesicht zu erkennen. Er hatte eine kleine gerade Nase, mehr habe ich nicht mitbekommen.“
„Versuchen Sie sich an die Stirn zu erinnern“, ermunterte sie der Kommissar.
„Jetzt, wo Sie davon sprechen, fällt mir ein, dass sie ziemlich hoch und etwas vorspringend war.“
„Und das Kinn?“
„Ich weiß es nicht. Es ging alles viel zu schnell. Mehr kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen.“
„Besitzen Sie einen Schlüssel für die Wohnung?“
Die junge Dame errötete. „Nein.“
„Wissen Sie, wer außer Flehmig einen Wohnungsschlüssel hat?“, fragte Philipps.
„Die Putzfrau, glaube ich. Kommissar, Sie sehen mich so seltsam an. Ich bin eben rot geworden, nicht wahr? Nun, Alban wollte mir einen Schlüssel geben. Ich habe es abgelehnt.“
„Kennen Sie einige seiner Freunde und Freundinnen, Frau Guhl?“
„So oft ich mit ihm aus war, hat er mir ein paar Dutzend Leute vorgestellt. Hin und wieder machte er sich später über diese Leute lustig. Alban hatte eine scharfe Zunge. Trotzdem wüsste ich nicht zu sagen, wen er liebte oder hasste. Ich glaube, dass es in seinem Leben nur drei Dinge gab, die er aufrichtig liebte... sich selbst, das Theater, und seine geschiedene Frau Marion.“
„In dieser Reihenfolge?“, fragte Philipps.
„Ja, das nehme ich an.“
„Beschäftigte Herr Flehmig eine Sekretärin?“
„Soviel ich weiß, tippte er seine Artikel selbst. Sehen Sie, Kommissar, dort steht ja seine Maschine!“
„Nicht gerade das letzte Modell“, stellte Philipps nach einem kurzen Seitenblick auf die alte Olympia fest. „War er in Geldschwierigkeiten?“
„Alban? Das glaube ich nicht! Er gab zwar viel Geld aus, nahm aber auch viel ein. Er war an einigen Theaterproduktionen beteiligt, die gute Kasse machen, und für seine Kolumnen, in mehr als zwei Dutzend namhaften Blättern, erhielt er wöchentlich fast zweitausend Euro ausbezahlt.“
Bramberger erhob sich. Ganz allgemein interessierte sie dieser Fall, aber er betraf nicht ihren Zuständigkeitsbereich. sie konnte es sich nicht leisten, sich mit Philipps Problemen zu belasten. Ihre Dienststelle litt keineswegs an Arbeitsmangel und sie wünschte, am nächsten Morgen frisch und ausgeruht im Office zu erscheinen.
„Das hier ist Ihr Baby, Kommissar“, sagte sie und winkte Philipps grüßend zu. „Ich wünsche Ihnen...“ Sie unterbrach sich, weil in diesem Moment einer von Philipps Kollegen den Raum betrat. Er flüsterte dem Kommissar etwas zu.
Philipps hob das Kinn und schaute Bramberger an. „Und es ist vielleicht doch Ihr Baby, Bramberger“, sagte er. „Harald Diemer wird es Ihnen im Wohnzimmer zeigen!“