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Von der Didaktik erster Ordnung zur Didaktik dritter Ordnung

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Es wurde bereits hinlänglich deutlich: Der neue Blick auf das Lernen und die Wissensaneignung folgt einer subjektorientierten Perspektive (vgl. Abb. 1). Auch das Fachliche bzw. die Anforderungen an die Expertise beim Problemlösen werden mittlerweile stärker als in der Vergangenheit aus einem Verständnis der Such- bzw. Aneigungsbewegungen des Subjektes heraus fokussiert. Die Anforderungen, auf die wir uns beziehen, sind nicht so und nicht anders unabhängig vom Subjekt – die Konstruktivisten sagen: vom Beobachter – existent. Sie werden vielmehr von jedem lernenden Individuum neu und in seiner besonderen Weise, d. h. vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen und Gewohnheiten (Annäherungsroutinen, Paradigmen usw.) in seiner Kognition geschaffen. Dabei bezeichnet dieses Schaffen ein subjektiv-emergentes Geschehen, das äußere Anregungen unterstützen und begleiten, aber nicht wirkungssicher gestalten können. Die didaktisch-methodische Frage »Wie sollen Lerner lernen?« tritt neben die curriculare Frage »Was sollen Lerner lernen?« (Arnold/Gómez Tutor 2007, S. 40). Dabei ergeben sich besondere Spezifizierungsaufgaben für eine Neubestimmung des Verhältnisses von Wissen und Lernen.

In der folgenden Übersicht werden die einschlägigen didaktischen Debatten zu der Frage nach den Kriterien einer gelungenen Bildung verdichtet. Dadurch wird ein Weg zur Gestaltung der sich wandelnden Bedeutung des Fachlichen markiert, der auf Integration und weniger auf Ablösung der bisherigen – vornehmlich inhaltsorientierten Didaktikmodelle – gerichtet ist. Die Didaktik »dritter Ordnung« umfasst die Dimensionen des Inhalts und des Prozesses in einer stärker outcome- bzw. kompetenzorientierten Ausrichtung. Repräsentativität, Strukturrelevanz oder gar Vollständigkeit des Inhaltlichen sind für sie nicht die allein maßgeblichen Kriterien einer gelungenen Bildung. Sie erweitert vielmehr den Blick auf die Fachkompetenz um die Dimensionen, welche die Identitäts- und Kompetenzentwicklung einer Person auf der Subjektebene beschreiben und in den methodischen und sozialen, aber auch in den emotionalen und spirituellen Formen ihres Umgangs mit der Wirklichkeit ihren Ausdruck finden. Insbesondere die letzte Kompetenzdimension wird in den Debatten noch gerne übersehen und unterliegt einem Esoterikverdacht – eine Zurückhaltung, der entgeht, von welch grundlegender Bedeutung die eigene Wertbasis für die autonome Gestaltung des eigenen Lebens sowie den Umgang mit den wechselnden Lebenslagen ist. Man spricht zwar gerne von der Bedeutung der Haltung, vermeidet aber die Präzisierung der inneren Kompetenzen, welche die wertbasierte Haltung zu dem machen können, was sie als zentrales Element gelungener Bildung sein sollte. Astin, Astin und Lindholm sprechen deshalb zu Recht von einem »potentially very important topic« und beklagen: »The development of self-awareness receives very little attention in our colleges and universities« (Astin/Astin/Lindholm 2011, S. 2).


Abb. 2: Von der Didaktik erster Ordnung zur Didaktik dritter Ordnung

In fast allen Bereichen unseres Bildungswesens wird den Inhalten und dem Lehren de facto vorrangig Rechnung getragen. Diese Konzepte sind inputorientiert und verfügen erst ansatzweise über Zugänge zu einer outcomeorientierten Begründung der Kompetenzentwicklung. Dieser Zustand wird sich auch und gerade angesichts der Wandlungen des Wissens in den postmodernen Gesellschaften und der Zunahme der (bildungs-)technologischen Speicher-, Abruf- und Darstellungs- sowie Umgangsmöglichkeiten (vgl. Nowotny/Scott/Gibbson 2001) grundlegend verändern (müssen), wollen wir nicht mit den inhaltsbasierten Lernkonzepten der Vergangenheit die inhaltsfluide Zukunft zu gestalten versuchen – was ebenso abwegig anmuten muss wie der Versuch, in einer Kutsche globalen Handel zu betreiben.

Unsere Bildungseinrichtungen sind von diesem Ideal einer kompetenzbildenden Kultur des selbstorganisierten Lernens noch weit entfernt. In ihrer neuesten Veröffentlichung »Stoppt die Kompetenzkatastrophe« stellen John Erpenbeck und Werner Sauter im Blick auf die universitäre Tradition des Zeigens und Belehrens pointiert fest:

»Guten Hochschullehrern, verantwortungsvollen Wissenschaftlern ist allemal klar, dass ihre Vorlesungen, vor 200, 300 Studenten gehalten, zwar neuestes für den Fachmann brisantes Wissen darbieten können, dass aber nur Bruchteile davon behalten werden und noch viel weniger handlungswirksam wird. Vorlesungen sind in der Regel sinnlos, weil sie nur Wissen an sich, aber kaum Wissen für uns liefern.« (Erpenbeck/Sauter 2016, S. 12)

Nun mag diese Einschätzung zugespitzt und im Einzelfall unzutreffend sein, aber ist sie falsch? Tun wir wirklich genug, um

•die Lernenden in ihren Lebenswelten und biografischen Lernprojekten anzusprechen,

•Inside-out-Prozesse der Selbstbildung zu ermöglichen,

•die Selbstlern- und Selbstführungskompetenzen der Lernenden gezielt zu fördern und

•ihnen in geeigneten Lernarrangements Angebote eines angeleiteten Selbstlernens zu offerieren, wie es für die Fernuniversitäten, die E-Learning-Formen oder die erfahrungsorientierten Ansätze der Erwachsenendidaktik seit Jahren gang und gäbe ist?

Zwar hat sich die Prophezeiung von Bill Gates aus dem Jahre 2010, der zufolge man in fünf Jahren »die besten Vorlesungen der Welt kostenlos im Netz finden« werde und dies »besser als jede einzelne Hochschule sei«[2] – noch? – nicht bewahrheitet. Doch kann man daraus automatisch einen Bestandsschutz des Bisherigen folgern? Stephan Weichert, Professor für Journalismus in Hamburg, tut dies in pauschalisierender Argumentation:

»Weder sind die besten Vorlesungen der Welt kostenlos im Netz zu finden, noch sind die meisten Angebote nachhaltig. Unsere ungeliebten Unis aus Waschbeton und Linoleum gibt es nach wie vor in der Welt der Dinge. Auch die Präsenzlehre ist nicht verschwunden, vielleicht weil die Sache mit dem betreuenden Professor, der an der Atlantikküste Wein trinkt, einfach zu schön ist, um wahr zu sein.« (Weichert 2016)[3]

Wenn es stimmt, dass Wissen und Kompetenzen nicht vermittelt, sondern von jeder oder jedem Lernenden bloß selbstständig angeeignet und entwickelt werden können – sämtliche namhaften Hirnforscher rufen dies mittlerweile der Pädagogik nachdrücklich, aber ohne Resonanz ins Gedächtnis (u. a. Roth/Lück 2010) –, dann können wir auch in den Schulen, Hochschulen und Universitäten nicht so weitermachen wie bisher. Dringend muss das lernende Individuum wieder in das Zentrum seiner Kompetenzentwicklung gerückt werden, wo es z. B. die Erwachsenenpädagogik seit jeher verortet hat. Seit den 1980er-Jahren folgt die Erwachsenendidaktik dieser Linie, indem sie das Lernen im Modus der Auslegung, als Suchbewegung auf dem Weg zur Identität und Kompetenz und als Transformation von Alltagswissen sowie einer Expansion bzw. Stärkung von Ich-Kräften systematisch erforscht, begleitet und theoriebildend beschreibt. Dabei folgt sie einer intransitiven Pädagogik, wie sie von den allermeisten, die sich bildungspolitisch artikulieren und z. B. Mut, Durchgreifen und Konsequenz im Klassenraum fordern, noch nicht einmal im Ansatz verstanden worden ist. Dies verwundert auch nicht, sind wir doch durch unseren transitiven Sprachgebrauch zu einem Begreifen genötigt, das nur das zu fassen vermag, was unsere Begriffe hergeben:

»Betrachten wir den Bildungsbegriff selbst nun genauer. Das dazugehörige Verb heißt bilden und ist ein transitives Verb. Es bezieht sich also auf ein Akkusativobjekt. Verbum transitivum heißt: ›Verb, das (in ein Objekt) übergeht‹ (Kluge). Bildend ist eine Person, deren Tätigkeit, das Bilden, ›übergeht‹ in ein Objekt, die also eine andere Person bildet. Das entspricht gängigem pädagogischem Denken. Wenn von Jugendbildung, Erwachsenenbildung, Lehrerbildung usw. gesprochen wird, dann sind damit normalerweise die Tätigkeiten von Personen gemeint, die als Bildner andere Personen (Jugendliche, Erwachsene, angehende Lehrer/innen) bilden. Dieser Bildungsbegriff ist in seiner konsequenten Fassung ein technischer, ein Bearbeitungsbegriff. Als solcher wird er im 18. Jahrhundert zunächst in der Aufklärungspädagogik gebraucht, die sich die Formung des Menschen zum (möglichst vollkommenen) Menschen und zum (möglichst brauchbaren) Bürger zur Aufgabe machte.« (Sesink 2006, S. 17)

Demgegenüber wird in den letzten Jahren durch die Ergebnisse der systemischen sowie der Hirn- und Lernforschung ein intransitives Verständnis der Lern- und Bildungsprozesse angebahnt, das die Autonomie des lernenden Individuums, d. h. die prinzipielle Selbstorganisation seiner Auseinandersetzung mit neuen Anforderungen und bei der Entwicklung seiner Kompetenzen stärkt. Dieses Verständnis folgt keiner Vermittlungs- oder Belehrungslogik, sondern den individuell jeweils spezifischen Mustern der Aneignung. Bei diesem Versuch, Lernen und Kompetenzentwicklung stärker orientiert an den Lernenden zu begründen und zu gestalten, ist ein präziserer Wissensbegriff erforderlich, als ihn die pauschale Rede vom Zeigen oder Eröffnen des Wissens gegenüber den Nachwachsenden nahelegt (vgl. Türcke 2016). Nicht alles, was es gibt, ist für diese von kompetenzbildender Relevanz für ihre Zukunft in den unterschiedlichen Domänen und Ausbildungsgängen! Und:

Man kann viel wissen und nichts können (vgl. Arnold/Erpenbeck 2014), und der Mensch – das lernfähige Tier – kann auch mit den Jahren lernen, nicht mehr lernen zu können. Dann erlahmt sein ursprüngliches Neugierverhalten, und seine Fähigkeiten, sich selbst und die Welt aktiv zu erforschen, kreativ Neues zu erproben und über Bisheriges hinauszuwachsen, werden verschüttet.

Entlehrt euch!

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