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Bildung durch Evidenz

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Der an solchen Evidenzen gebildete Mensch ist ein Wissensträger der besonderen Art: Seine Fähigkeiten erschöpfen sich nicht in der Kenntnis von Sachverhalten bzw. in deklarativem Wissen (knowing that); vielmehr verfügt er auch über Fähigkeiten zur Handhabung und eigenen Konstruktion von Wissen (knowing how) bzw. über prozedurales Wissen, wie dies bereits Anderson (1976) definierte. Christiane Hof verleiht diesem Ansatz neue Aktualität:

»Mit Bezug auf pädagogische Fragen bezieht sich das deklarative Wissen auf das Lernen domänenbezogenen Sachverhaltswissens und das prozedurale Wissen auf die Aneignung der Fähigkeit, bestimmte Dinge zu tun. Es geht hier also um ein Können bzw. um bestimmte Fertigkeiten und Strategien (Skills), die einen bei der Durchführung von Tätigkeiten unterstützen. Während das deklarative Wissen als bewusst und explizit zu benennen ist, zeichnet sich das prozedurale Handlungswissen dadurch aus, dass es nur teilweise übersetzbar ist und auch implizite Anteile hat.« (Hof 2016, S. 207)

Diese Unterscheidung lässt die Frage entstehen, welches Wissen eigentlich gemeint ist, wenn wir von der Wissensgesellschaft oder der Wissensveralterung sprechen. Veraltern beide Arten von Wissen gleichermaßen? Oder haben wir es letztlich bloß mit einer Wissensverschiebung zu tun, die durch eine wachsende Bedeutung des prozeduralen gegenüber dem deklarativen Wissen gekennzeichnet ist? Eine vertiefte Untersuchung der beobachtbaren Wissensverschiebungen würde schließlich die Frage »Auf welches evidente Wissen kann ich mein Denken und Handeln gründen?« durch die Frage ablösen »Wie kann ich mich selbst in dem, was ich denke und tue, an Evidenzen orientieren?« Die ständige Bemühung um Evidenz würde sich so als prozedurales Wissen darstellen. Es könnte den Eindruck des Deklarativen, dem ja immer auch der Geruch von etwas Endgültigem anhaftet, spürbar hinter sich lassen und die Akteurinnen und Akteure innerlich gegenüber dem Neuen öffnen. Wäre dies nicht die eigentliche Aufgabe einer Bildung in der Wissensgesellschaft?

Auch Evidenzen gibt es bloß vorübergehend. Und nicht jede als evidenzbasiert ausgegebene Einschätzung hält der Überprüfung auch Jahre später noch stand, wie die Beispiele von Samuel Arbesman (2012) zeigen. Aber anderes als die Mechanismen einer sozialen Konstruktion der Evidenz haben die Menschen nicht. Evidenzbasiertes Denken und Handeln geht somit von bewährten, nicht von wahren Erkenntnissen aus – eine Differenzierung, die bisweilen vergessen wird. Die Begründung von Evidenzen folgt sozialen Regeln, wie etwa denen, dass

•Interessen in Beurteilungs- und Entscheidungskontexten über das, was gilt bzw. gelten soll, ausgeklammert bleiben müssen,

•die Prüfung der Gültigkeit einer Einschätzung stets vorläufig, d. h. ohne Ansehen der Person dessen, von dem diese Einschätzung stammt, zu geschehen habe und

•dass anerkannte Expertinnen und Experten darüber wachen, welche neuen Einsichten den fachlichen und methodischen Standards eines Faches entsprächen und welche nicht – eine durchaus ambivalente »Sicherung«, da sie das Neue am Leisten des Alten misst und vielleicht genau dadurch Innovationen ausschließt.

Insbesondere in den Naturwissenschaften haben sich dabei Formen einer sozialen Kontrolle entwickelt, mit denen die Scientific Community einer Disziplin darüber wacht, wer welche Ergebnisse ihrer Forschung in den anerkannten Fachzeitschriften veröffentlichen darf und wer nicht. Zugleich weisen diese Zeitschriften unterschiedliche »Impact-Faktoren« auf – mit der Folge, dass nur deren Chancen auf Berufung und Forschungsmittel steigen, die in Zeitschriften mit einem hohen Impact-Faktor veröffentlichen. Dass diese Praxis auch der Willkür, Manipulation und Macht Tür und Tor öffnet und die Verfasserinnen und Verfasser z. B. bisweilen zu »erzwungenen Zitationen« (aus der jeweiligen Zeitschrift selbst, um deren Impact-Faktor zu erhöhen) gedrängt werden, haben zahlreiche Studien der letzten Jahre aufgedeckt (vgl. Kaube 2008). Eine soziologische Kritik gelangt deshalb zu der eher vernichtenden Bewertung, dass

»der Peer-Review kein wissenschaftliches Messverfahren für die Güte von Publikationen [ist], sondern eine soziale Einrichtung zur Kalibrierung der Lesezeiten einer Disziplin« (Hirschauer 2004, S. 62).

Mittlerweile lässt sich die Kritik an der eigentlichen Qualität der Peer-Review-Praxis nicht mehr übersehen. Bereits 1982 wurden in zwölf psychologischen Fachzeitschriften Aufsätze, die schon eineinhalb Jahre zuvor erfolgreich publiziert worden waren, nochmals (bei denselben Zeitschriften) eingereicht, was bloß drei von 38 Referees überhaupt auffiel. Von diesen Aufsätzen wurden acht von neun wegen »schwerwiegender methodologischer Mängel« abgelehnt – wohlgemeint: Aufsätze, die einige Monate davor das Reviewverfahren erfolgreich passiert hatten (Peters/Ceci 1982). Solche Ergebnisse stärken die Zweifel an der qualitätssichernden Wirkung dieser Art von Publikationskontrolle. Diese ist nicht bloß durch die erwähnten beschämenden Widersprüchlichkeiten – um nicht zu sagen: Willkürlichkeiten – bei erneuter Begutachtung diskreditiert, sondern auch durch ihre Unfähigkeit, Übertreibungen oder Irrtümer in berichteten Forschungsergebnissen sicher auszuschließen, wie John P. A. Ioannidis im Jahre 2005 bei mindestens einem Drittel der in Peer-reviewed Journals veröffentlichten medizinischen Arbeiten herausfand (Ioannidis 2005). Ist es vor dem Hintergrund solcher Widersprüchlichkeiten abwegig, der evidenzsichernden Wirkung von Peer-Review-Verfahren und sogenannten Impact-Faktoren gründlich zu misstrauen? Und auch die Frage nicht außer Acht zu lassen, wie es um die Kreativität und Innovativität von wissenschaftlichen Disziplinen bestellt sein kann, deren Nachwuchs sich bei der Publikation seiner Ergebnisse gültigkeitssichernden Verfahren unterziehen muss, deren Gültigkeit selbst in Zweifel steht, und die darüber hinaus dazu neigen, das Neue an den Maßstäben des etablierten Mainstreams zu messen?

Man kann es deshalb nicht deutlich genug hervorheben: Auch die durch Peer-Reviews, Impact-Faktoren und Rankings geregelten Evidenzbelege sind das Ergebnis einer sozialen Konstruktion der Wirklichkeit. Auch in ihr teilt sich uns Wirklichkeit lediglich zu unseren Bedingungen und Verfahren bzw. denen der jeweiligen Zunft mit, d. h. in der Form, wie sie auf uns zu wirken vermag. Was nicht zur Veröffentlichung gelangt, ist nicht per se ungeeignet, es wird aber kaum wahrgenommen und entfaltet deshalb auch weniger Wirkung. Wo Studien hingegen zugänglich sind, eine breite Zustimmung auslösen, Überprüfungen standhalten und sinnvolleres Handeln begründen, kann – zumindest vorläufig – davon ausgegangen werden, dass das gezeichnete Bild mehr oder weniger zutrifft – nicht im Sinne des Abbilds einer externen Wirklichkeit, wohl aber als vorübergehende gemeinsame Basis eines funktionierenden bzw. sozial akzeptierten Handelns. Als wie fragil diese Basis sich erweisen kann, zeigen u. a. die Debatten um den 2006 vom ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore produzierten Film »Eine unbequeme Wahrheit«. Letztlich kann auch Al Gore nur scientometrisch bzw. bibliometrisch argumentieren, indem er z. B. nüchtern darauf verweist, dass die menschengemachte Erderwärmung über die Jahre von zunehmend weniger Studien in Zweifel gezogen wird (vgl. Beck 2010). Die unmittelbare Evidenz seiner eigenen Belege reicht nicht aus, er muss diese noch durch mittelbare Evidenzbelege unterfüttern. Die Klimaerwärmung mag zwar evident sein, ihre Evidenz wird aber erst zu einer Tatsache, wenn sie auch sozial geteilt wird – ein Unterschied, der oft gerne übersehen und gegen die konstruktivistischen Erkenntnistheorien in Stellung gebracht wird. So übersehen z. B. die nicht enden wollenden Polemiken gegen das systemisch-konstruktivistische Weltbild in der Pädagogik: Evidenz ist Wahrheitsähnlichkeit, d. h. die – augenblicklich – am besten begründete Form der Schlussfolgerung, aber eben nicht die Wahrheit selbst, wie ein Blick in die Geschichte der wissenschaftlichen Irrtümer zeigt (vgl. Zankl 2004). Zur – vorübergehenden – Wahrheit wird sie erst, wenn soziale Akzeptanz hinzutritt.

Entlehrt euch!

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