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Es ist schon verwunderlich: Der Mensch, dieses schwache Tier, das unfertig auf die Welt kommt und eine lange Hege und Pflege braucht, um zu sich selbst und zu Kräften zu gelangen – dieser evolutionäre Schwächling hat den Wettkampf der Gattungen um die Spitzenposition der Nahrungskette ganz offensichtlich für sich entschieden. Fragt man nach der Erklärung für diesen Erfolg, so stößt man insbesondere bei Anthropologen und Expertinnen der menschlichen Universalgeschichte auf den Hinweis, dass es hierfür bloß eine Ursache gebe: die Lernfähigkeit des Menschen.

Diese schier grenzenlose Fähigkeit des Menschen, aus Erfahrungen zu lernen, neue – passendere – Lösungen zu erproben, dadurch immer erfolgreicher im Umgang mit seiner Umgebung zu werden, kann man bereits beim Kleinkind beobachten: Erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit es die Sprache – und wenn es sein muss: auch mehrere Sprachen gleichzeitig! – erwirbt, wie es selbstständig laufen lernt und sich zunehmend sicher in seiner sozialen Umgebung zu orientieren vermag. Sicherlich imitiert es dabei Modelle und folgt Vorbildern. Es übernimmt jedoch nicht bloß das, was überliefert ist, sondern variiert, experimentiert und innoviert seine eigenen Ausdrucksformen. So eignet es sich die Welt in nicht enden wollenden Lernprozessen an, wobei eine kognitiv-emotionale Anverwandlung stattfindet, zu deren Verstehen uns noch die Begriffe fehlen.

Der Begriff der Aneignung trifft es, wenn auch nicht genau. Er trifft es, da Lernen nach allem, was wir heute wissen, eine aktive Handlung des Subjekts ist, die man anregen und begleiten, nicht aber wirklich erzwingen kann. Menschen lernen, wie sie atmen – in regelmäßigen Zügen, nicht endend, manchmal flach, manchmal tief einatmend, bisweilen stockt ihnen der Atem. So, wie man auch nicht nicht atmen kann, so kann man auch nicht nicht lernen: Der Mensch muss die aktive Aneignung seiner Umwelt ebenso wenig lernen, wie er auch das Atmen nicht erst lernen muss, indem er z. B. eine Atemschulung besucht. Zwar muss der Mensch in extremen Situationen bisweilen beatmet werden, doch ist dies immer bloß eine vorübergehende Maßnahme, wenn die Atemfunktionen seiner Lunge aussetzen. Anders beim Lernen: Hier werden wir auch belehrt, obwohl wir (nur) selber lernen können. Die Folgen sind gravierend: Die ursprünglichen Lernfunktionen unseres Gehirns schalten auf Stand-by, und wir werden mehr und mehr zu hilflosen Lernerinnen und Lernern.

Der Begriff der Aneignung hilft uns, diese intransitiven Wirkungszusammenhänge unseres Lernens besser zu verstehen. Das Adjektiv »intransitiv« ist dabei bewusst gewählt, obgleich es der Grammatiktheorie entlehnt ist. Es hat sich gewissermaßen von der Grammatiktheorie in die Lerntheorie verirrt. Als »intransitiv« bezeichnet man ursprünglich Verben, die ohne (direktes) Objekt auskommen. Auch »lernen« muss – wenngleich es im grammatischen Kontext zu den transitiven Verben zu zählen ist – ohne Objekt auskommen, denn kein Kind kann etwas lernen, was seine Kognition nicht selbst erarbeitet und aus sich heraus entwickelt. Dies wusste bereits Jean Piaget (1896–1980), der darauf verwies, dass das lernende Kind den Inhalt »vom Grunde seiner Seele« selbst erzeugen muss. Diese intransitive Logik trägt jedoch nicht allein das Lernen des Kindes; es trägt auch das lebenslange Lernen von Jugendlichen und Erwachsenen.

Entlehrt euch!

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