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Im Zentrum: »The reflexible man«
ОглавлениеSeit den 1990er-Jahren begannen die europäischen Bildungsdebatten, einem neuen Lernverständnis nachzuspüren. Sie folgten dabei einem Shift zum Selbst. Man begann, den Sachverhalt deutlicher zu fokussieren, dass es das Leben ist, das die Menschen in ihren inneren Möglichkeiten formt, fördert oder eben behindert. Auch die Kritik an den vorfindbaren Formen der Bildung und Ausbildung des Nachwuchses erlebte dadurch einen neuen Aufwind. Insbesondere nahm man die Lernkulturen der institutionalisierten Bildung in Schule und Hochschule kritisch in den Blick, deren ungewollte und vielfach auch lähmende Nebenwirkungen immer öfter in einen schier unüberbrückbaren Gegensatz zu den Anforderungen an eine zukunftsfähige Kompetenzausstattung geraten waren. Gleichzeitig begann man, sich wieder den informellen und selbstgesteuerten Aneignungs- und Reifungsprozessen, in denen Menschen ihre eigentlichen Potenziale zum Ausdruck bringen, zuzuwenden.
Nur vereinzelt ging diese Wende zum Selbst mit einer Abwendung von den Formen einer institutionalisierten Bildung einher, wie dies noch für die Reformpädagogik der Jahrhundertwende oder die Antipädagogik der 1970er-Jahre typisch gewesen ist. Deren Impulse mündeten vielfach in einem Antiinstitutionalismus und verpufften deshalb weitgehend wirkungslos. Die »neue Reformpädagogik« wandte sich seit den 1990er-Jahren vielmehr gezielt der Frage zu, wie sich Bildungsorganisationen, wie Schulen und Hochschulen sowie Weiterbildungsstätten mit ihrem jeweiligen Selbstverständnis sowie ihren Aufgaben und Angebotsformen neu – als Orte eines lebendigen und nachhaltigen Kompetenzerwerbs – begründen könnten und welche Transformationsprozesse dafür erforderlich seien.
Neu war auch das Ziel dieser Bemühungen. Man beschwor kaum irgendwelche Ideale von Selbstverwirklichung und Persönlichkeit, sondern fragte nüchtern nach den Kompetenzen, welche die Gestaltung einer unsicheren Zukunft ermöglichen. Dabei gerieten nicht allein die tatsächlichen kompetenzvernichtenden Wirkungen einer hochselektiven Bildungspraxis in Verdacht, gerade dieser Aufgabe mehr zu schaden als zu nützen. Man begegnete auch den rasch sich verbreitenden Forderungen, die Herausbildung eines »flexible man« (Sennett 1998) zu fördern, mit einiger Skepsis. Unübersehbar verbargen sich nämlich hinter dieser Forderung auch alte linear-mechanistische Hoffnungen. Diese folgten der Vermutung, dass es möglich – und auch zulässig! – sei, einen Menschentypus zu »erzeugen«, der in der Lage sei, sich bereitwilligst an die wechselnden Zumutungen von Arbeitsmarkt und Gesellschaft anzupassen. Dass ein solcher Mensch auch selbst einen Zugang zu dem finden sollte, »was Menschsein eigentlich bedeutet« (oder für ihn bedeuten kann), war nicht Teil solcher Hoffnungen. Die Urheber der erwähnten linear-mechanistischen Konzepte waren vielmehr bereit, billigend in Kauf zu nehmen, dass auf geeigneten Wegen – wieder einmal – universal einsetzbare Menschen entstehen könnten, die ihre Kompetenzen nicht nach den Maßgaben der Vernunft, Humanität und Solidarität zu nutzen in der Lage sind.
Glücklicherweise verdampften solche eingeschränkt funktionalistischen Konzepte nahezu wirkungslos an dem mittlerweile erstarkten gesellschaftlichen Bewusstsein von der notwendigen Wertorientierung sowie der öffentlichen Verantwortung in Bildungsfragen. Beides verpflichtet die verantwortlichen Akteurinnen und Akteure nämlich dazu, Bildungsangebote so zu gestalten, dass den Erwartungen der oder des Einzelnen und der Gesellschaft – und nicht nur einer bestimmten Gruppe – Rechnung getragen werden kann. Die Gebote der Gerechtigkeit und Chancengleichheit sind dafür ebenso unhintergehbare Maßstäbe des Gelingens von Bildung wie die Eröffnung beruflicher und persönlicher Optionen für die Zukunftsgestaltung und Lebensformung. Diesen Maßstäben sind auch Bildungstheorie und Didaktik verpflichtet, die deshalb – anders als das naturwissenschaftliche Objektivitätsideal – normativ gebunden beobachten, deuten, verstehen und vorschlagen. Sie prüfen und bewerten deshalb auch die Bildungsmöglichkeiten nicht allein bezüglich ihrer Übereinstimmung mit den Anforderungen von Arbeitsmarkt und Gesellschaft, sondern zugleich und in erster Linie nach Maßgabe der Förderung und Begleitung der Individuierung, d. h. Selbstwerdung. Ihr Leitbild ist nicht der »flexible man«, sondern der »reflexive man« – oder besser: der »reflexible man«.
Dieser weiß um die selbsterfüllende Kraft seiner Gewohnheiten und der eigenen Traditions- sowie Routinenverhaftung. Er ist sich der Tatsache bewusst, dass diese ihn immer wieder dazu verführen, an seinen Gewissheiten festzuhalten und sich die Zukunft auf der Basis der eigenen Erfahrungen zu konstruieren, wodurch er dazu beiträgt, dass auch die Zukunft mehr oder weniger so wird, wie die Vergangenheit bereits gewesen ist. Der »reflexible man« ist deshalb nicht bloß flexibel, sondern auch um Reflexion bemüht. Er weiß, dass er seine Welt bloß verändern kann, wenn es ihm gelingt, sich selbst zu verändern. Indem er lernt, die Gegebenheiten weniger rasch zu beurteilen, öffnet er sich auch dem Fremden, Unbekannten und vielleicht bereits Verworfenen gegenüber. Er vergleicht wertschätzend, wo er früher durch Beurteilungen Eindeutigkeiten herstellte. Dadurch schafft er zumindest die Voraussetzungen dafür, dass sich ihm die Wirklichkeit in anderer Weise – als andere Wirklichkeit – zu zeigen vermag. Damit erreicht der »reflexible man« eine Flexibilität eigener Art. Diese verdankt sich seiner Eigendrehung, keiner bloßen Anpassung an vermeintlich oder tatsächlich Gegebenes. Und diese Eigendrehung ist Ausdruck der Lernfähigkeit, die er als Potenzial in sich trägt.
Auch der reflexible Mensch benötigt Wissen, um sachgemäß prüfen, beurteilen und handeln zu können. Sein Wissen ist jedoch von anderer Substanz. Es integriert die sachgemäßen Zusammenhänge mit seinen eigenen Fähigkeiten, diese aufzugreifen und bei der Entwicklung eigener Stellungnahmen oder der Ingangsetzung eigener Lösungsversuche konstruktiv zu gebrauchen. Um diese Fähigkeiten zum Umgang mit Wissen und zu dessen Nutzung entwickeln zu können, bedarf es anderer Vorgaben als bloße Lehrpläne oder Modulhandbücher (i. S. von Inhaltsauflistungen). Erforderlich ist vielmehr die Stärkung des methodischen und sozialen sowie emotionalen und reflexiven Vermögens der oder des Lernenden an und in der Auseinandersetzung mit inhaltlichen Fragen. Der reflexible Mensch lernt dabei nicht nur »etwas«, sondern erweitert seine persönlichen Fähigkeiten
•zur Erschließung von Wissensquellen,
•zum Umgang mit Neuem,
•zur Planung und Gestaltung eigener Lernprojekte
•sowie zur Veränderung vertrauter Sichtweisen und Routinen.
Dadurch wird das lernende Individuum mehr und mehr zu dem, was es immer schon gewesen ist – teils, ohne dies zu wissen: Eigentümer oder Eigentümerin seines bzw. ihres Lernens – ein für die demokratische Gesellschaft, den Arbeitsmarkt und die eigene Lebensgestaltung in den Lifelong-learning-Gesellschaften nicht zu unterschätzender Vorgang der Rückübereignung. Wissen wandelt sich dadurch gleichzeitig von einem bloßen Besitz zu einer komplexen Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln nicht länger an persönlichen, sondern an geteilten Gütekriterien zu orientieren. Was in diesem Sinn als »gut« anzusehen sei, rufen Norbert Ricken und Uwe Schimank in ihrer Einführung in die 24. Bremer Universitäts-Gespräche deutlich in Erinnerung, indem sie an die gemeinsame Überzeugung von griechischer Philosophie und europäischer Aufklärung erinnern,
»dass es gut sei, wenn Wissen an die Stelle von Nichtwissen und wenn wissenschaftlich gesichertes Wissen an die Stelle von bloßem Erfahrungswissen trete und dass der individuelle und gesellschaftliche Fortschritt in genau diese Richtung gehe« (Ricken/Schimank 2012, S. 11).
Diese Orientierung ist durch die Frage der Rückübereignung des Lernens selbst nicht infrage gestellt. Diese Rückübereignung bezweifelt nicht die Bedeutung der Bewegung vom Nicht- oder Halbwissen zum Wissen oder gar die Bedeutung der Expertise für sachgemäßes Handeln. Vielmehr zielt sie darauf ab, dass auch aufgeklärtes Wissen oder Expertise nicht übernommen, sondern lediglich von den Lernenden selbst erschlossen werden kann. Die Frage, um die sich für den reflexiblen Menschen somit alles dreht, ist die nach den Wegen der Selbsterschließung. In den Fokus rückt gleichzeitig die Frage nach der Rolle, die Lehrenden bei dieser Selbstbildung zukommt bzw. zukommen kann. Ihre Aufgabe konfrontiert sie nämlich mit dem letztlich paradoxen Grundproblem jeglicher Pädagogik, Menschen zur Freiheit zu führen – eine Bewegung, deren bevormundende Substanz im Kern gegen ihre Zielrichtung selbst zu verstoßen scheint. Trotz dieser Widersprüchlichkeit müssen letztlich die Wirkungen eintreten können, um die es den Kompetenzen zur autonomen Problemlösung zu tun ist. Dabei gilt: Autonomie kann nicht pro forma oder in einer nur abgeschwächten Form eingeübt werden – gewissermaßen als »autonomy light«. Wo immer Menschen ihren eigenen Ausdruck wirklich lernen, üben und mit den erwarteten Fähigkeiten verbinden können, bleibt ihnen letztlich ein unauslöschbares Potenzial.
Dem Autonomieerleben wohnt, so gesehen, etwas Irreversibles inne, das immer wieder zum erneuten Ausdruck drängt, selbst wenn die Umgebung am Arbeitsplatz dies zunächst nicht zuzulassen oder wenn sie es gar zu behindern scheint.
Die Fähigkeiten des reflexiblen Menschen konstituieren bei genauerer Betrachtung das, worum es den Bildungstheorien im Kern stets ging: die vorbereitende Stärkung des auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen.
Bei der Frage, wie eine solche Stärkung erreicht werden könnte, gehen die Kompetenztheorien jedoch einen anderen Weg als die Bildungstheorien. Sie erwarten weniger vom Input, sondern fragen nach den Kontexten gelingender Ich-Stärkung und den Verhaltens-Outcomes, in denen sich zeigt, ob etwas gekonnt wird oder nicht. Kompetenzmodelle sind deshalb auch weniger curricular bezogen, sie folgen vielmehr den Einsichten der psychologisch eingefärbten Konzepte zur Ich-Werdung und Ich-Behauptung. Grundlegend ist dabei der Gedanke, dass Kompetenzen zugleich Identitätselemente sind, die den bisherigen Selbstausdruck sowie die Handlungsdispositionen des Individuums bereichern und erweitern. Deshalb ist der Lerner- oder Identitätsbezug für die Kompetenztheorien augenscheinlich wesentlicher als der Bezug auf Inhalts- und Anforderungskataloge. Diese treten als solche vielmehr zurück, um das Inhaltliche in den Kompetenzen selbst stärker in den Blick treten zu lassen. Gelingende Bildung verändert dabei ihr Gesicht: Sie ist kaum noch curricular definierbar, wohl aber in präzisen und mehr oder weniger verbindlichen Fähigkeitsbeschreibungen konkretisierbar.
Die didaktische Analyse der möglichen Bildungswirkung des Lehr- bzw. Fachinhalts muss deshalb perspektivisch ersetzt oder gar abgelöst werden durch eine »didaktische Analyse des Lernsubjektes«. Denn die vom Individuum erwarteten Lernbewegungen müssen von diesem selbst her begründet und als subjektiv anschlussfähige Lernbewegung arrangiert werden. Die erwarteten Kompetenzen stellen sich nämlich nicht dauerhaft ein, bloß weil eine didaktische Inhaltsanalyse ihre Gegenwarts-, Zukunfts- und sonstige Relevanz überzeugend dargelegt und in einem Curriculum verankert hat. Auch Fachinhalte können ihre kompetenzbildenden Wirkungen nur entwickeln, wenn sie in den Horizont der Suchbewegungen des lernenden Subjektes gerückt werden. Diese ermöglichungsdidaktische Wende von der didaktischen Analyse des Lehrinhalts zur didaktischen Analyse des Lernsubjektes geht davon aus, dass
»Aneignungsbewegungen keiner fachlichen, sondern einer subjektiven Logik (folgen) – dies ist eine deutliche Relativierung eines nur oder auch vornehmlich fachdidaktischen Zugangs! Nicht das Fachliche und dessen Strukturen stiften den Stoff, aus dem Lernerfolge sind, sondern der jeweilige Horizont der lernbiographischen und lebensweltlichen Vorbedingungen im Lernenden selbst. […]
Gefragt ist deshalb in der modernen Didaktik eine Prozesskompetenz, der es gelingt, das Gegenüber zur Sprache kommen zu lassen, es wirksam mit den fachlichen Themen und Kompetenzanforderungen ›in Verbindung zu bringen‹ und es dabei in seinen eigenen – fachlichen und außerfachlichen – Suchbewegungen zu begleiten und wirksam zu unterstützen. Damit eine solche ›Lernbegleitung‹ gelingen kann, ist eine dreifache Erweiterung des heute vielfach fachdidaktisch verengten Blickes notwendig. Diese geht davon aus, dass die bildende ›Kraft des Inhalts‹ eingeschränkt ist und sich nicht per se zu entfalten vermag: Entscheidend für eine nachhaltige Kompetenzreifung ist vielmehr die Beteiligung und Selbstwirksamkeit des Lernenden selbst, da auch fachliche Kompetenzen sich im Lösungserleben verfestigen und von einem bloßen Verstehen zu Können entwickeln.« (Arnold 2013a, S. 221)
Diese »Erweiterung der Fachdidaktik« (ebd., S. 222) geht mit einer grundlegenden Akzentverlagerung der didaktischen Begründung und der thematischen Strukturierung von Lehr-Lern-Angeboten einher und rückt auch stärker die tatsächliche Nutzung sowie die Inszenierung der Möglichkeiten zur Aneignung und Kompetenzreifung in den Fokus, wie folgende Gegenüberstellung zeigt:
Didaktische Analyse des Lehrinhaltes | > | Didaktische Analyse des Lernsubjektes | |
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Begründungsproblematik | |||
Gegenwartsbedeutung | Welche Gegenwartsbedeutung hat der ins Auge gefasste Ziel- und Themenzusammenhang für die Alltagswelt der Lernenden? | Lernprojektbezug | In welchen (Er-)Klärungsversuchen ist das Subjekt selbst bereits befangen? |
Zukunftsbedeutung | Welche Bedeutung wird das Thema in Zukunft für die Lernenden haben? | Selbstlernbezug | Wie lernt das Subjekt, und in welchen Formen bereitet es sich selbst auf seine – unbekannte – Zukunft vor? |
Exemplarische Bedeutung | Welche allgemeinen Zusammenhänge, Beziehungen, Gesetzmäßigkeiten u. Ä. können mithilfe des Themas erarbeitet werden? | Individualisierung | Wie kann die Suchbewegung der Lernenden wertgeschätzt, begleitet und – zu ihren Bedingungen – unterstützt werden? |
Thematische Strukturierung | Situierung | ||
Struktur des Inhalts | Welche thematische Struktur hat das Thema? Unter welcher Perspektive soll es erarbeitet werden? Welche methodische Struktur liegt in der Thematik? In welchem größeren Zusammenhang steht das Thema? Welche Voraussetzungen müssen die Lernenden mitbringen oder erwerben? | Situationsorientierung | Wie kann man der Gegebenheit Rechnung tragen, dass Menschen bevorzugt an Situationen und in Situationen bleibende Kompetenzen entwickeln? |
Erweisbarkeit und Überprüfbarkeit | An welchen Fähigkeiten, Erkenntnissen und Handlungsformen soll sich zeigen, dass die Lernprozesse erfolgreich waren? | Kompetenzreifung | Wie lassen sich der Fortschritt und Stand der jeweiligen Befähigung vom Lernsubjekt selbst bzw. in Kooperation mit ihm beurteilen? |
Zugänglichkeit | Nutzung | ||
Zugangs- und Darstellungsmöglichkeiten | Wie kann das Thema dargestellt und zugänglich gemacht werden? | Zugangswege | Wie können vielfältige Lernwege gleichzeitig eröffnet werden, ohne diese »im Gleichschritt« durchwandern zu wollen? |
Methodische Struktur | Inszenierung | ||
Methodenwahl | Welche methodische Struktur ist für das Thema angemessen? Wie können aktives Lernen und aktive Auseinandersetzungsprozesse mit dem Ziel, Mitbestimmungs- und Solidarisierungsfähigkeit zu fördern, durch die Methodenwahl unterstützt werden? | Arrangement | Wie lassen sich Lernräume gestalten, welche die Lernenden selbstgesteuert und mit ihren Aneignungsmethoden in Besitz nehmen können? |
Abb. 1: Von einer Inhalts- zu einer Subjektdidaktik (nach: Klafki 1993; leicht geändert aus: Arnold 2016, S. 181 f.)