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Kapitel 4 - Anindo lernt Englisch

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Wache, Pause, spüren, erklären, schlecht, toll

Anindos Vater ist jetzt schon seit einigen Wochen an seinem neuen Arbeitsplatz in Indien. Er hatte Anindo vor seiner Abreise angewiesen, sich um die Familie zu kümmern. Eine große Aufgabe für einen acht­jährigen Jungen. Anindo ist aber stolz, dass sein Vater ihm diese Ver­antwortung übertragen hat. Er ist ja jetzt auch der einzige „Mann“ in der Familie. Er muss jetzt auch nicht mehr Betteln gehen und kann deshalb mehr Zeit für seine Freunde und fürs Spielen verwenden.

In der Nähe des Armenviertels stehen am Strand einige Touristenho­tels. Es ist den Armen verboten, zu den Touristen Kontakt aufzuneh­men und ihnen z. B. Handarbeiten zu verkaufen. Deshalb stehen sie in der Nähe in Sichtweite und halten ihre Batikbilder ausgebreitet hin, damit die Touristen sie sehen. Sie müssen ständig aufpassen, denn vor jedem Hotel gibt es Wachen, die darauf achten, dass die Touris­ten nicht belästigt werden. Es ist für die armen Menschen aber die einzige Chance, an etwas Geld zu kommen. Den Touristen ist es egal, ob die Menschen zu ihnen kommen. Manche gehen auch zu den Armen und kaufen ihnen etwas ab. Die Hotelbesitzer achten aber streng darauf, dass das nicht passiert. Sobald sie jemanden in der Nähe des Hotels sehen, verjagen sie ihn auf der Stelle. Anindo hatte schon einige Male versucht, auf das Hotel-Gelände zu kommen. Er war zu neugierig auf die Menschen, die aus fernen Ländern in seine arme Heimat kommen. Die Wachen erklären den Urlaubern immer, es wäre gefährlich, die Hotelanlage zu verlassen, die Dorfbewohner würden sie bestehlen. „Das stimmt aber nicht. Wir sind keine Diebe, nur arm“, sagte Anindo zu sich. Wer sich an anderen Menschen be­reichert oder sich sonst irgendwie schlecht verhält, wird als Tier wie­dergeboren.

Die Touristen, die die Hotels verlassen, kaufen den Frauen Batikbilder ab, schenken den Kindern Bonbons und sprechen mit ihnen, obwohl sie sie nicht verstehen. Manche zeigen auf Bildern oder mit ihren Händen, was sie meinen. Einige wenige begrüßen die Dorfbewohner in ihrer Landessprache. „Ayubowan“ sagen sie und legen die Hände dabei senkrecht nebeneinander, so wie sie es hier gelernt haben. Ayubowan bedeutet „Langes Leben“.

Anindo will mit seinen Freunden zu den Hotels gehen und sich von außen ansehen, wie es dort aussieht. Die Hotelanlagen sind ver­schlossen und von hohen Mauern umgeben. Es ist nicht viel zu se­hen, aber man hört Kinder und Erwachsene vor Vergnügen krei­schen. Und immer wieder klatscht es laut, wenn sie in den Pool sprin­gen. So ein Pool ist bestimmt ganz toll. Gesehen hat ihn noch keiner von den Kindern.

Vielleicht kommt ja jemand aus dem Hotel heraus und es gibt ein paar Bonbons. Als sie am Hotel Paradise Beach (das bedeutet soviel wie Paradiesstrand) ankommen, verlässt gerade ein freundlich schauendes junges sonnengebräuntes Paar die Anlage. „Ayubowan“ rufen Anindo und seine Freunde aus sicherer Entfernung, um nicht die Wut der Wachen auf sich zu ziehen. „Ayubowan“ rufen die Zwei lachend zurück und reden weiter auf Englisch, einer Sprache, die die Kinder nicht verstehen. Sie kommen auf die Kinder zu. „What´s your name?“, sagt der Mann zu der Kindergruppe. Er ist groß, schlank und muskulös, trägt ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln und eine rote Hose, die bis zum Knie geht. Dazu hat er rote Leinenschuhe an, in denen die Füße barfuß stecken. Anindo fällt sofort auf, dass der nette Urlauber eine große goldene Uhr am linken Handgelenk trägt, so wie man es von den Reichen erzählt. „What´s your name?“ fragt der Fremde jetzt Anindo direkt, aber keiner weiß, was er meint. Die Frau, ebenfalls groß, blond, mit einer prächtigen Sonnenbrille auf den Haa­ren, hat ein weites gelbes Kleid mit kleinen weißen Blümchen an, das nur ihren halben Oberschenkel bedeckt Das Kleid fällt leicht in große Falten und bewegt sich sanft im schwachen Windhauch. Sie geht in offenen Schuhen mit dünnen Riemchen und einem kleinen Absatz. Von ihr geht ein wunderschöner Duft aus, für die Kinder ein Duft aus einer unbekannten Welt.

Die Frau beugt sich zu Anindo herab, zeigt auf sich und sagt: „My name is Sofia.“ Dann zeigt sie auf den Mann und ergänzt: „His name is Santiago.“ Sie zeigt abwechselnd noch mal auf sich und den Mann und sagt wieder „Sofia, Santiago.“ Jetzt zeigt sie auf Anindo. „And you?“ Anindo ist sich nicht sicher, aber er glaubt, sie möchte seinen Namen wissen. „Anindo“ sagt er und blickt verlegen nach unten. Sie fasst ihm unters Kinn, hebt seinen Kopf schräg hoch und lächelt ihn freundlich an. Anindo weicht erschreckt zurück. Für Buddhisten gilt der Kopf als heiliges Körperteil, das keiner anfassen darf. Nicht ein­mal die Eltern tun das. Sofia wusste das nicht und ist sehr überrascht, dass sich Anindo so benimmt. Nach einer kurzen Pause, in der sie ihm sanft über die Schultern streicht, zeigt sie auf ihn und sagt mit lie­bevoller Stimme: „Anindo.“ Dann zeigt sie nacheinander auf seine Freunde, die jetzt auch alle ihre Namen sagen.

Santiago zeigt auf seine teuere Armbanduhr und malt mit einem Zweig eine Uhr in den Staub auf der Straße. Dann kratzt er zwei Zei­ger hinein, die auf 5 Uhr stehen, die Zeit wie jetzt, dabei zeigt er auf die Sonne. Der Unbekannte spricht langsam in seiner Sprache zu den Kindern, die nicht wissen, was er meint. Es bedeutet vielleicht, morgen um diese Zeit ist er wieder hier. Vielleicht. Anindo beschließt, morgen wiederzukommen.

Am nächsten Tag verlässt Anindo sein Zuhause früher, als sonst. Er geht zum Paradise Beach Hotel und hofft, die netten Urlauber wieder zu treffen. Er ist die einzige Person auf der Straße vor dem Hotel. An­indo geht die Straße auf und ab und singt ein Kinderlied vor sich hin. Er hat es oft mit seiner Mutter gesungen, deshalb muss er jetzt an sie denken. Was sie wohl gerade macht? Vielleicht bereitet sie schon das Essen vor. Jetzt, wo Vater regelmäßig Geld schickt, können sie auf dem Markt leckere Sachen einkaufen. Durch das Geld ist ihr Leben wesentlicher einfacher geworden. Die Familie muss sich jetzt nicht mehr sorgen, woher sie Essen für den nächsten Tag bekommt. Für die Kinder kauft Mutter ab und zu ein paar Süßigkeiten. Die sind aber sehr teuer, deshalb gibt es sie nicht oft. Vielleicht spielt sie auch gera­de mit den zwei Mädchen oder unterhält sich wie so oft mit den Nach­barn.

Während Anindo ganz in Gedanken versunken die Straße entlang geht, bemerkt er gar nicht, dass sich das Tor des Hotels hinter ihm geöffnet hat und das Paar von gestern heraustritt. Sie bleiben vor dem Hotel stehen und beobachten ihn. Als er umdreht, um wieder in die andere Richtung zu gehen, sieht er das nette Paar. Sie winken ihm zu und Anindo geht schneller. „Ayubowan“, begrüßen beide ihn mit gefalteten Händen und streicheln seine schmalen Schultern. Anin­do kennt die Leute nicht, aber er fühlt sich in ihrer Gegenwart sehr wohl. Sie zeigen ihm, dass sie mit ihm irgendwo hingehen möchten. Sie gehen Richtung Dorfmitte zu dem großen Platz mit dem einzigen Restaurant. Hier hatte Anindos Vater seine Arbeit bekommen. Vor dem Restaurant stehen mehrere Tische, an denen zwei Singhalesen ein angeregtes Gespräch führen. Sie gestikulieren wild mit den Armen, es scheint aber kein Streit zu sein. Die anderen Tische sind leer. Vor dem Restaurant, wie auf dem ganzen Platz, stehen Palmen. Unter denen sitzen etliche Männer im Schatten der Palmdächer. Die Sonne brennt heiß. Santiago und seine Frau führen Anindo zu einem Platz unter einer Palme, von wo aus sie gut den Platz überblicken können. Anindos Begleiter möchten mehr über das Land und seine Bewohner erfahren, deshalb besuchen sie die Orte in der Umgebung. Hier auf diesem Platz sind sie schon mehrmals gewesen. Die Einheimischen starren sie unverhohlen an, als kämen sie von einem anderen Planeten. Die Menschen, die hier leben, sind größtenteils aus ihrem Dorf noch nie herausgekommen. Touristen kommen selten hierher und wenn, spricht sich das schnell herum, und der Platz füllt sich mit Neugierigen, die die hochgewachsenen Ausländer sehen wollen. Die Singhalesen sind alle sehr klein, deshalb erscheinen ihnen die Ausländer wie kleine Riesen. Hinter den Touristen folgt immer eine Kinderschar, die laut „Bonbon, Bonbon“ ruft. Sie haben schon gelernt, dass die Besucher Süßes bei sich tragen. Und die Besucher haben von anderen Besuchern gelernt, dass man den Kindern Bonbons mitbringen sollte.

Santiago und Sofia bestellen sich eine Cola und geben Anindo zu verstehen, dass er sich auch etwas zu trinken aussuchen soll. Anindo nimmt auch eine Cola. Er kennt Coca Cola, aber getrunken hat er sie noch nie. Sie ist für die Bewohner hier viel zu teuer. Neugierig pro­biert Anindo die braune süßliche Flüssigkeit. Ein unbekanntes Pri­ckeln reizt seine Zunge und er empfindet das Prickeln als angenehm. Anindo hat bisher nur Wasser und Tee getrunken. Der Geschmack, der sich im Mund verbreitet, nachdem das Prickeln nachgelassen hat, ist ungewohnt aber verführerisch. Anindo lässt die Cola im Mund krei­sen und es sieht aus, als würde er darauf kauen. „Schmeckt es dir?“, fragt Sofia auf Englisch. Sie deutet dabei erst auf die Cola, dann auf Anindos Mund und danach reibt sie sich den Magen. Dabei macht sie „Mhhh.“ Anindo wiegt seinen Kopf hin und her. Santiago und Sofia wissen aber schon, das heißt nicht „Nein“, wie bei uns, sondern „Ja“. Anindo bekräftigt das Wiegen noch mal durch ein Schütteln des Kopf­es, womit er ausdrücken möchte, dass es ihm sehr gut schmeckt. An Anindos Gaumen entsteht ein Feuerwerk unbekannter Genüsse und er wartet mit dem Herunterschlucken solange, bis das Prickeln fast verschwunden ist. Er trinkt ganz langsam, um dieses Geschmacksge­fühl lange auskosten zu können. Während Anindo so dasitzt, die Cola trinkt und den Platz beobachtet, versuchen Santiago und Sofia abwechselnd immer wieder, Anindo englische Wörter zu lehren. Englisch ist auf Sri Lanka die offizielle Amtssprache und die Sprache der Gebildeten. Wenn man hier eine Sprache lernt, dann muss es Englisch sein. Santiago zeigt auf ein Auto und sagt „car“, auf ein Haus und spricht „house“, der Tisch heißt „table“ und der Stuhl „chair“. So lernt Anindo an diesem Tag 20 neue Wörter in einer frem­den Sprache. Zwischendurch wiederholt er die Namen der Gegen­stände, auf die die Zwei zeigen. Wenn das alles Ramesh wüsste. Es gibt viel zu erzählen. Nach ungefähr zwei Stunden verlassen sie den Platz wieder. Anindo läuft beschwingt nach Hause und seine Lehr­meister schlendern zurück zum Hotel. Sie zeigen auf die Uhr und he­ben fünf Finger hoch. Dann zeigen sie auf die Stelle, an der sie ste­hen. Anindo hat verstanden. Morgen um 5 Uhr hier. Er wird kommen, das weiß er sicher.

Seitdem sind 10 Tage vergangen, an denen sie sich getroffen haben und Anindo hat viel gelernt. Er findet Santiago und Sofia sehr nett und sie lassen ihn spüren, dass sie ihn auch mögen. Sie versuchen, ihm zu erklären, dass sie zurück nach Hause fliegen und deuten mit der Hand ein startendes Flugzeug an. Das Paar verabschiedet sich, um­armt Anindo liebevoll zum Abschied und macht noch ein Foto, auf dem sie alle drei zu sehen sind. Anindo ist traurig und sagt bedrückt eines seiner neuen Wörter: „Good bye.“ Bevor die zwei neuen Freun­de von Anindo endgültig gehen, drücken sie Anindo noch ein kleines Stoffbärchen in die Hand. Santiago hat noch ein weiteres Geschenk für Anindo, das er vorher extra in einer Großstadt besorgt hat. Für Santiago ist es ein symbolisches Geschenk, das ihn an seine Kind­heit erinnert. Ein Fußball.

Ayubowan, ein langes Leben“, murmelt Anindo.

Anindo kommt betrübt zuhause an. Er braucht Ablenkung und er weiß, wo er sie bekommt. Anindo kuschelt sich an seinen Opa und bittet ihn um eine Geschichte.

Opa erzählt gerne von Früher. „Habe ich dir schon mal erzählt, dass ich auf einem Öltanker gefahren bin?“ „Nein, das wusste ich nicht“, antwortet Anindo. „Es war noch, bevor ich deine Großmutter kannte. Ich glaube, ich war 18 Jahre alt. Genau kann ich mich nicht mehr er­innern. Unser Schiff war so lang, wie ein Fußballfeld und so hoch, wie ein Buddha-Tempel. Wir waren nicht viele an Bord. Ich habe eine wichtige Aufgabe in dem Teil des Schiffes gehabt, der unter der Was­serlinie liegt. Unten im Schiffskörper befindet sich der Maschinen­raum, der wichtigste Teil des Schiffes. Da sind mehrere Motoren ein­gebaut. Im Maschinenraum ist es heiß und stickig.

Wegen der großen Hitze haben wir fast nackt da gearbeitet und trotz­dem lief der Schweiß an uns herab. Es roch nach verbranntem Öl und das Atmen war eine Strapaze. Das ständige Donnern der Moto­ren hat einen schrecklichen Lärm verursacht und uns im Laufe der Zeit halb taub werden lassen. Ohne mich und meine Arbeitskollegen hätte das Schiff aber nicht lange fahren können. Die Motoren sind das Herz des Schiffes. Hört es auf zu stampfen, besteht große Ge­fahr für die Männer an Bord. Viele Teile am Motor sind ständig in Be­wegung. Damit sie nicht dabei beschädigt werden, mussten sie regel­mäßig geschmiert werden. Dafür war dein Opa verantwortlich, eine wichtige Aufgabe. Und gefährlich“, fügt er vielsagend hinzu. „Die Ma­schinisten waren an ihren vielen Brandnarben zu erkennen.“ Großva­ter entblößt Arme und Brust, die voller hässlicher dunkelroter flacher Hautwülste waren. Anindo hatte das noch nie so deutlich gesehen. „Der Maschinenraum war Tag und Nacht mit uns Maschinisten be­setzt, und wir mussten jeden Tag 12 Stunden schuften.“ Anindo lauscht mit offenem Mund erstaunt den Erzählungen seines Großva­ters. „Warum hast du mit der Arbeit aufgehört?“, will Anindo wissen. „Weißt du, Anindo, das hält man nicht lange aus. Ich musste aber aufhören. Es gab eine wirtschaftliche Krise und unser Schiff wurde verkauft. Alle haben ihre Arbeit verloren. Ich kam dann zurück nach Chenkaladi und habe als Palmenkletterer gearbeitet.“

Dein Opa ist jetzt müde. Lass uns schlafen.“ Anindo ist noch ganz ergriffen von den Abenteuern seines Opas. „Was für ein anstrengen­des Leben“, denkt er. Kurze Zeit darauf erfasst ihn der Schlaf. Immer wieder huscht ein flüchtiges Lächeln über Anindos Gesicht und er zuckt mit Armen und Beinen. Im Traum erlebt er die Geschichte sei­nes Opas noch einmal.

Anindos 134. Leben

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