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Begonnen hatte alles drei Monate zuvor, Mitte Februar 1998. Eines Tages schoß ein Kugelblitz mit ungeheurer Gewalt durch meinen Kopf und durchtrennte mit einem Schlag alle Kommunikationswege im Gehirn. Zerstückelt, zerrissen, verbrannt, lahmgelegt – die dramatische Folge einer fatalen Fehlgeburt. Ich hatte einsehen müssen, daß die auf den Sommer des gleichen Jahres geplante Produktion meines neuen Spielfilms, einer Komödie mit dem Titel »Swiss Paradise«, nicht zustande kommen würde. Es gab verschiedene Gründe: Zum einen war es dem Produzenten nicht gelungen, die Finanzierung sicherzustellen, zum andern entdeckte ich bei der letzten Drehbuchüberarbeitung derart gravierende Mängel, die mir früher nie aufgefallen waren, so daß an eine Realisierung des Films zum vorgesehenen Termin nicht mehr zu denken war.

Über drei Jahre hatte ich mich in dieses Projekt geradezu verbissen, wollte mit dem Kopf durch die Wand, auch aus Gewohnheit, weil man in diesem Land, will man einen Film realisieren, gezwungen wird, diesen Weg zu gehen: straight through the wall. Nur diesmal war es anders. Alle Mühen, alle Hoffnungen waren vergeblich gewesen: Das Buch, an dem ich mit Christa M., Autorin und Filmemacherin aus Berlin, und Georg J., Cutter und Regieassistent dreier meiner früheren Spielfilme, geschrieben hatte, war in dieser Form unbrauchbar. Ich ahnte, nein, ich hatte tief in mir die Gewißheit, daß der Film das Licht der Leinwand wohl nie erblicken würde. Trotzdem machte ich mit Christoph S., dem vorgesehenen Produktionsleiter, in der ersten Märzwoche eine Rekognoszierungsreise nach New Glarus, America’s Little Switzerland, wie sich der Ort im US-Bundesstaat Wisconsin nennt. In diesem idyllischen amerikanischen ›Schweizerdorf‹ sollte der Film spielen. Dadurch, daß ich nicht alleine reiste, wurde ich zwar etwas abgelenkt, blieb aber innerlich hin- und hergerissen zwischen der Gewißheit, daß der Film nicht zustande kommen würde, und einer illusorischen Hoffnung, daß es vielleicht doch noch klappen könnte, obwohl aus meiner Sicht nichts mehr dafür sprach. Absolut gar nichts.

Eine Woche wollten wir in New Glarus bleiben. Anschließend sollte Christoph nach Hause zurückfliegen, während ich noch einige Tage bei meinem Sohn Elia, der in New York lebt und arbeitet, verbringen wollte. Als ich am Tag nach unserer Ankunft mit Christoph durch den Ort spazierte, um ihm mögliche Drehortezu zeigen, sank meine Stimmung auf einen absoluten Tiefpunkt. Plötzlich schien alles so sinnlos. Ich glaubte an nichts mehr und fühlte nichts mehr. Ich hatte nur den einen Wunsch, so rasch als möglich wieder abzureisen. Gleichzeitig war mir bewußt, daß ich das Christoph nicht antun konnte und dem Besitzer des Hotels, das eine wichtige Rolle im Film haben sollte, schon gar nicht, denn dieser bemühte sich, uns den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Ich hatte nicht den Mut, ihnen zu gestehen, daß ich nicht mehr an das Projekt glaubte. Ihr Engagement und ihr Optimismus konnten meine unaufhaltsame verzweifelte Fahrt ins Nirgendwohin nicht aufhalten.

Ich kam mir vor wie auf einer Folterbank, gefesselt, hilflos Schuldgefühlen, Gewissensbissen und abgrundtiefen Ängsten ausgeliefert. Ich haderte mit mir, weil ich unfähig gewesen war, das Steuer dieses langjährigen, mühseligen, verfahrenen Filmprojekts rechtzeitig herumzureißen. Christoph konnte nicht wissen, wie es in mir aussah. Ohne in Einzelheiten zu gehen, versuchte ich ihm verständlich zu machen, daß ich nicht in der Lage sein würde, im Hinblick auf die Realisierung Entscheide zu fällen. Er nahm es relativ gelassen, sagte, daß er genug zu erledigen hätte, ohne daß ich mich daran beteiligen müßte. Das war zwar gut gemeint, änderte jedoch an meiner seelischen Verfassung nichts. Christoph erklärte sich außerdem bereit, mit mir das Drehbuch im Hinblick auf Verbesserungen nochmals durchzugehen, und ich willigte ein. Vielleicht, mit seiner Hilfe, die Schwachstellen eliminieren und dann doch…?

Das Hotel, in dem wir wohnten, bestand aus zwei sehr großen Chalets. In der Filmgeschichte waren die beiden Häuser sozusagen das Objekt der Begierde und die Handlung war folgende: Max Bodmer, der Kantonspolizist aus meinem Film Die Schweizermacher, erbt zur Hälfte von seiner im Alter von neunzig Jahren verstorbenen Tante das Hotel Landhaus in New Glarus. Als Dank für die gute Arbeit hat die Besitzerin die andere Hälfte ihrem Hotelmanager Norbert Hagmann vererbt. Hagmann war zehn Jahre zuvor aus der Schweiz nach New Glarus eingewandert. Nun lernt er eines Tages seinen Erbpartner Bodmer kennen, der mit einer Reisegruppe aus der Schweiz im Hotel abgestiegen ist, um sich zuerst einmal inkognito ein Bild zu machen. Verärgert stellt Bodmer fest, daß sich in diesem ›Schweizer‹ Hotel mehr indianische als schweizerische Einrichtungsgegenstände befinden. Zudem ist Hagmann, ein großer Indianerfan, mit einer Indianerin verlobt, deren Bruder in der Nähe von New Glarus ein Spielkasino führt. Hagmann sieht sich bald mit unerhörten Forderungen Bodmers konfrontiert. Und damit beginnt der ›Leidensweg‹ der beiden ungleichen Erben. Hier der bodenständige frustrierte Ex-Polizist und dort der aufgeschlossene, modern denkende Manager. Daß das auf die Dauer nicht gutgehen kann, versteht sich von selbst. Und als sich dann im Laufe der Handlung eine reiche amerikanische Witwe, mit einer offensichtlichen Schwäche für gestandene Schweizermänner, in Bodmer verliebt, läuft erst recht nicht mehr alles so, wie es einmal ursprünglich geplant war. Das war der Ausgangspunkt zu einer Komödie, bei der es mittlerweile nichts mehr zu lachen gab. Wir setzten uns zusammen, überlegten, diskutierten, schrieben auf und verwarfen wieder, noch einmal von vorne … Es half nichts. Das Handlungsgefüge der Geschichte und damit deren Glaubwürdigkeit waren nach meinem Empfinden auseinandergebrochen. Der Karren mit der Szenenfolge, den Figuren und ihren Dialogen war zu tief im Schlamm eingesunken, als daß er sich noch hätte herausziehen lassen. Ich sehnte das Ende der Woche herbei.

Am Samstag war es soweit. Christoph verabschiedete sich am Morgen und fuhr mit dem Mietwagen nach Chicago, von wo er gleichentags zurück in die Schweiz flog. Rechtzeitig, denn im Laufe des Nachmittags wurde das Land von einer riesigen Ladung Vorfrühlingsschnee zugedeckt.

Tags darauf kam Elia, der in der gleichen Woche in Milwaukee einen Werbespot für Miller’s Beer gedreht hatte. Am Abend saßen wir in der Pizzeria des Hotels und ich berichtete ihm ausführlich über die vergangenen Tage. Ich mußte davon reden, das war ich ihm schuldig, denn schließlich hatten wir geplant, daß er bei meinem Film hinter der Kamera stehen würde. Ich erzählte ihm von meiner Verzweiflung, vom sinnlosen Umherirren in New Glarus, von den vergeblichen Bemühungen, mit Christoph Verbesserungen am Buch anzubringen. Er sprach mir Mut zu und war überzeugt, daß es trotz aller momentanen Schwierigkeiten sicher noch Möglichkeiten gäbe, den Film zu retten. Ich wollte ihn nicht enttäuschen und widersprach ihm nicht. Ich hatte auch nicht die Kraft dazu. Ich fühlte mich leer. Im Kopf und im ganzen Körper.

Am andern Tag – der Winter hatte die Gegend weiterhin eisig im Griff – fuhr uns der Hotelbesitzer frühmorgens zum Flughafen von Madison. Es sollte eine Reise voller Tücken werden. Da der Flughafen von Chicago geschlossen war, waren wir gezwungen, mit einer andern Fluggesellschaft als der ursprünglichen über Detroit nach New York zu fliegen. Elia mußte seine ganze Überzeugungskraft bei der Dame am Check-in einsetzen, um zwei Plätze für die nächste Maschine zu bekommen. In Detroit verpassten wir den Anschlußflug, weil wir beide vergessen hatten, daß wir über eine Zeitzone geflogen waren – eine Folge der intensiven Gespräche darüber, was in den letzten Monaten geschehen war: die Trennung von Dominique, meiner Frau, im Herbst 97, die für Außenstehende, auch wenn sie uns noch so gut kannten, völlig überraschend kam und nur schwer nachvollziehbar war. Ich sprach von meiner über Jahre dauernden Unlust und Gleichgültigkeit, die sich in unserer Ehe fast unbemerkt eingeschlichen hatte, von der Unfähigkeit, darüber zu reden, aus falscher Angst, dem Partner zu nahe zu treten, ihn womöglich unbeabsichtigt zu verletzen. Das fatale Festhalten an der trügerischen Hoffnung, es würde sich alles von selber regeln. Unsere Ehe war nicht gescheitert, weil wir den Respekt zueinander verloren hatten, sondern weil wir uns, so paradox es klingen mag, mit zuviel Respekt begegneten. Zuviel Respekt als Deckmantel vor dem eigenen Unvermögen, Konflikte offen und ehrlich auszutragen. Trotz meines lamentablen Zustandes drängte es mich, Elia über den Sachverhalt so gut ich konnte aufzuklären. Ich wollte nicht, daß Dominique in seinen Augen als Alleinschuldige dastand. Das wäre mir zu simpel gewesen. Es war ja nicht nur die unbefriedigende Situation in unserer Ehe, die mich zunehmend belastet und schließlich in diese geistig-seelische Totalblockade, genannt Depression, getrieben hatte. Unbefriedigend und zermürbend im höchsten Maß war auch das über Jahre dauernde Hin und Her um »Swiss Paradise«. Einerseits hatte die zweimalige Rückweisung des Projektes durch den Begutachtungsausschuß der Eidgenössischen Filmkommission die Suche nach zusätzlichen Finanzierungsquellen immer wieder hinausgezögert, anderseits war das Drehbuch aber auch von zwei deutschen Fernsehstationen zurückgewiesen worden, mit der Begründung, für diese bilinguale (Dialekt und Englisch) Schweizer Komödie würde sich kein deutsches Publikum finden. Dieses fragwürdige Argument kannte ich seit Jahrzehnten. Jedes meiner Drehbücher, von Konfrontation über Die Schweizermacher und Teddy Bär bis zu Leo Sonnyboy, war jeweils von deutschen Fernsehanstalten genau aus diesem Grund abgelehnt worden. Waren dann allerdings die Filme produziert, konnten sie nicht schnell genug angekauft werden. Durch die deutschen Absagen war die Finanzierung des »Swiss Paradise«- Projekts in Frage gestellt.

Doch die Geldsuche war nur das eine Problem, das andere war der Produzent selbst. Seine rosarot gefärbten Versprechungen, trotz belastender Hypotheken aus seinen früheren Produktionen die Restfinanzierung in absehbarer Frist auf die Beine zu stellen, blieben, was sie von Anfang an waren: Seifenblasen. Ich mußte mich aber auch selbst an der Nase nehmen, hatte ich doch meine Bedenken über seine Fähigkeiten als Produzent fahrlässig zur Seite gewischt und ihm nie klar gesagt, daß er ohne Zweifel in der Lage sei, die Arbeit eines Produktionsleiters zu bewältigen, als Produzent jedoch zuwenig Know-how besitze, um sich auf dem Kampffeld der nationalen und internationalen Filmszene erfolgreich zu behaupten. Ich hätte mich längst von ihm trennen müssen, denn seine Selbstüberschätzung war mir schon nach ein paar Monaten Zusammenarbeit bewußt geworden. Aber, so wie in der Beziehung zu meiner Frau, überließ ich auch in der Beziehung zu meinem Produzenten das Boot, in dem wir beide saßen, dem Zufall des Wellenspiels und wartete auf irgendeine Entscheidung, die wer immer auch treffen würde, nur nicht ich. Was war es denn, das mich hinderte, das Steuer selbst in die Hand zu nehmen? Vorsicht? Rücksicht? Unentschlossenheit? Unsicherheit? Ich denke, es war nichts anderes als Angst. Angst um die Beziehung, Angst um den Film, Angst um die Zukunft, Angst um mich selber. Falsche Angst. Gefährliche Angst.

Auch wenn es alles andere als erfreuliche Gedanken waren, mit denen ich Elia konfrontierte, so zeigte er viel Verständnis und versuchte mir, trotz aller Schwierigkeiten, ein Gefühl von Hoffnung zu geben. Er konnte nicht wissen, daß meine Verzweiflung jede Form von Hoffnung im Keim erstickte.

Als wir schließlich abends um sechs wohlbehalten auf dem regnerischen New Yorker La Guardia Airport landeten, sandte ich ein Dankgebet zum Himmel, daß ich diese Reise nicht alleine hatte machen müssen. Meine innere Auflösung war so weit fortgeschritten, daß ich mich wie ein verängstigter, zittriger Greis fühlte. Die Angst war mittlerweile meine ständige Begleiterin. Die vier Tage in New York ertrug ich trotz meines angeschlagenen Zustandes wider Erwarten gut. Elia hatte eine interessante Kameraarbeit hinter sich und wir diskutierten stundenlang über gestalterische Fragen. Ich freute mich mit ihm und mein Vaterstolz verdrängte für kurze Zeit meine Verzweiflung.

Er hatte in die Tat umgesetzt, wovon ich vor fast vierzig Jahren kurz geträumt hatte, nämlich mit einer farbigen Frau in Amerika zusammenzuleben und Filme zu realisieren. Ich hätte es in der Hand gehabt. Die Frau stammte zwar nicht aus Trinidad, wie Elias Freundin, sondern aus Jamaica und sie hatte tatsächlich auf mich gewartet, aber … doch davon später.

Elia versuchte zu retten, was zu retten war, und machte unbeirrt Verbesserungsvorschläge zum Drehbuch. Ich versprach, darüber nachzudenken, mehr war nicht möglich. Und im Grunde nicht einmal das. Wir besuchten zwei Besetzungsbüros, um Informationen über amerikanische Schauspieler zu bekommen und sprachen mit einer befreundeten Produktionsleiterin, die das Drehbuch gelesen hatte. Die Geschichte gefiel ihr gut. Kritisch äußerte sie sich zu jenem Teil der Handlung, in dem die Indianer ins Spiel kamen, die im Bundesstaat Wisconsin als einzige berechtigt sind, ein Spielkasino zu betreiben. Man kann diese außergewöhnliche Vereinbarung als eine Art Wiedergutmachungsversuch gegenüber Amerikas Ureinwohnern betrachten, eine Folge des schlechten Gewissens der Regierung, aufgrund der mehr als hundertjährigen Verfolgung und Diskriminierung der indianischen Bevölkerung. Die Produktionsleiterin machte einige konstruktive Vorschläge, wie die bestehenden Mängel behoben werden könnten. Und plötzlich hatte ich das Gefühl, ich würde es doch noch schaffen, den Film im Sommer zu drehen. Der Abschied fiel mir darum nicht so schwer, denn ich dachte, wir würden uns bald wiedersehen. Spätestens dann, wenn ich für die Vorarbeiten zum Dreh wiederkommen würde. Daß die vier Tage in New York lediglich ein letztes Aufflackern meiner Willenskraft bewirkt und die Höllenfahrt in den endlosen, schwarzen Tunnel nur um kurze Zeit hinausgezögert hatten, ahnte ich nicht.

*

Meine Rückkehr fiel in zweierlei Hinsicht auf ein bedeutungsvolles Datum. Es war der 13. März 1998, ein Freitag, notabene. Und es war der Tag der Premiere von Fredi M.s neuem Spielfilm Vollmond. Über zwölf Jahre waren vergangen, seit er mit seinem Höhenfeuer große Erfolge feiern konnte. Uns verband eine jahrzehntelange Freundschaft und ich wollte die Uraufführung seines neuen Werks unter keinen Umständen verpassen. Am Vormittag war ich in Zürich gelandet und Dominique hatte mich abgeholt. Ich fühlte mich nicht gut. Während des Flugs hatte ich nur kurze Zeit geschlafen und ich hoffte, während der Filmvorführung nicht einzunicken. Tagsüber erledigte ich das Nötigste und war sehr gespannt auf den Abend. Dominique begleitete mich, doch schon beim Eintreffen im Kino fühlte ich mich inmitten der vielen Gäste auf eigenartige Weise wie entrückt. Ich nahm zwar alle und alles wahr, gleichzeitig hatte ich den Eindruck, als ob ich gar nicht dazugehörte, als ob unsichtbare Wände zwischen mir und den Menschen bestehen würden. Dieses Gefühl verstärkte sich während der Vorführung zunehmend und beunruhigte mich so stark, daß ich kaum in der Lage war, der Handlung zu folgen. Die Geschichte, die Schauspieler, die stimmungsvollen Bilder lösten null Emotionen in mir aus. Ich blickte zwar mit offenen Augen auf die Leinwand, hörte Stimmen, Geräusche und Musik, aber das alles zusammen bewirkte absolut nichts in mir. Und gleichzeitig war ich von einer bohrenden Wachheit, so als ob ich irgendein hochgradiges Aufputschmittel geschluckt hätte. Das änderte sich auch nicht an der anschließenden Premierenfeier in einem nahen Zunfthaus. Ich beobachtete die Leute, sah zufriedene, aber auch enttäuschte Gesichter und solche, die nichts von dem verrieten, was sie dachten. Ich wußte, daß innerhalb der Filmszene die Erwartungen an Fredis Film überaus hoch waren. Was gibt es Schwierigeres, als an einen vorangegangenen Erfolg anzuknüpfen? Ich erinnerte mich an die Premiere meines Films Kassettenliebe im Herbst 1981.

*

Auch damals, drei Jahre nach dem überwältigenden Erfolg von Die Schweizermacher, waren die Erwartungen in bezug auf meinen nächsten Film mindestens so gigantisch. Um so mehr als Emil ein weiteres Mal in einer Hauptrolle zu sehen war. Ich weiß bis heute nicht, mit welchem Film ich diesen Erwartungen gerecht geworden wäre. Ich sehe die Gesichter von damals noch vor mir, freundliches, aber auch mitleidvolles Lächeln, tröstende Worte von Freunden, die ihre Enttäuschung trotz allem Bemühen nicht ganz verbergen konnten. Und dann die andern, denen die Häme, die Schadenfreude, die arrogante Genugtuung aus allen Poren schoß. Und das zählte doppelt, denn gleichentags, nach der morgendlichen Pressevorführung, hatte ich den Filmjournalisten Rede und Antwort gestanden und dabei sozusagen meine eigene ›Hinrichtung‹ erlebt. Kassettenliebe, eine Komödie zum Thema Partnerwahl mittels Video, wurde von der Kritikerzunft gnadenlos verrissen, war in den Kinos aber trotzdem ein großer Publikumserfolg. Ich hätte eigentlich zufrieden sein können. War es aber nicht. Meine Kränkung über die Art und Weise, wie die Kritiker mit meinem Film umgesprungen waren, hatte einen tieferen Grund. Es war mein eigenes gebrochenes Verhältnis zu Kassettenliebe. Innerhalb von zwei Jahren hatte ich sieben Drehbuchfassungen geschrieben, bis schließlich Produzent und Hauptdarsteller ihr Einverständnis zur Realisierung gaben. Ich war mir nicht sicher, ob die letzte Fassung wirklich die bestmögliche von allen war, aber als den Dreharbeiten dank der gesicherten Finanzierung nichts mehr im Wege stand, schob ich meine Bedenken zur Seite und war froh, den Film machen zu können. Später wurde mir bewußt, daß die dritte Drehbuchversion die richtige gewesen wäre. Aber im Nachhinein ist man bekanntlich immer klüger. Vielleicht hätte ich ja vieles, was von der Kritik moniert wurde, akzeptieren können, aber die – wie ich damals empfand – respektlose Abqualifizierung meiner und unserer Arbeit bewirkte in mir Trotz, gleichzeitig machten sich aber massive Zweifel, Lustlosigkeit und Resignation in mir breit. Waren das etwa die ersten Warnsignale einer Störung in meinem Seelenleben, die sich siebzehn Jahre später zum Vollbrand entwickeln sollte? Jedenfalls war ich nach dem unbeschreiblichen Höhenflug, den Die Schweizermacher uns allen, die wir daran beteiligt gewesen waren, beschert hatte, hart und schmerzvoll wieder auf dem Boden helvetischer Filmrealität gelandet. Damals wie heute bringe ich es nicht fertig, Kritiken über meine Filme einfach zu ignorieren, wenn sie unberechtigt sind. Ich war und bin zu neugierig, um nicht wissen zu wollen, wie meine Arbeit rezipiert wird. Aber im geheimen bewundere ich Filmkollegen und andere Künstler, die sich einen Teufel um die Kritiker scheren. George Steiner hat es in seinem Buch Von realer Gegenwart provozierend, aber durchaus vernunftvoll vorgeschlagen: »Ich stelle mir eine gegen-platonische Republik vor, aus der die Rezensenten und Kritiker verbannt wurden; eine Republik für Schriftsteller und Leser.« Oder eben für Filmer und Zuschauer. Und an anderer Stelle schreibt Steiner, daß die kompetentesten Kritiker die Künstler selber sind. Wie recht er hat. Leider haben viele Künstler Mühe damit, scheuen Kritik der Kollegen – nicht das Lob – und überlassen die kritische Auseinandersetzung mit ihrem Werk lieber den Rezensenten als vermeintlich objektiven Begutachtern.

*

Ich war nicht in der Lage, mir ein Urteil über Fredis Film zu bilden. Mein Verstand hatte sich bereits von meinen Gefühlen und meiner Seele abgespalten. Irgendwie spürte ich aber doch, daß er sich in einer ähnlichen Situation wie ich im November 1981 befand, und hoffte für ihn, daß er es besser verkraften würde als ich. Reden konnte ich nicht darüber. Zu sehr war ich absorbiert vom eigenen Seelenstreß. Beim Abschied umarmte ich ihn und drückte ihm meine Anerkennung für seine Arbeit aus. Dominique brachte mich gegen zwei Uhr morgens nach Hause. Ich empfand nicht die geringste Spur von Müdigkeit und war doch – bis auf die zwei Stunden, die ich im Flugzeug geschlafen hatte – seit fast vierzig Stunden wach. Eine ungeheure Angst, nicht mehr schlafen zu können, kroch in mir hoch. In der ersten Nacht schrieb ich das noch dem Jetlag zu, als ich jedoch auch die folgenden zwei Nächte wach im Bett lag, mit zunehmendem Herzklopfen, während sich in meinem Kopf die Gedanken immer schneller zu drehen begannen, beschlich mich ein unheimliches Angstgefühl, das sich zunehmend in Panik verwandelte. Irgendwas mußte doch in meinem Hirn passiert sein. Kopfschmerzen hatte ich keine, aber ich hatte das Gefühl, als ob meine Hirnchemie völlig außer Rand und Band geraten sei. Wenn Panik die Steigerung von Angst war, was würde wohl die Steigerung von Panik sein?

Ich merkte im Laufe der nächsten Tage, wie ich mir zunehmend abhanden kam, entfremdet, immer stärker abgeschnitten vom Leben um mich herum. Es war, als ob ich ständig über die eigene Schulter schauen und jede Sekunde von neuem über mich selbst erschrecken würde. Ich konnte einfach nicht aufhören zu grübeln. Eine ärztliche Konsultation war unumgänglich. Jürg A., ein enger Freund, beruflich mit Depressionen unterschiedlichster Art bestens vertraut, vermittelte mir einen Psychiater, der bereit war, mich notfallmäßig zu behandeln, denn zu einem Notfall hatte sich mein Zustand mittlerweile zweifellos entwickelt. Bei der ersten Konsultation heulte ich wie ein kleines Kind und brachte kaum ein Wort über die Lippen. Es sollte für viele Monate das letzte Mal gewesen sein, daß ich in der Lage war, einem Gefühl Ausdruck zu geben, auch wenn es sich um ein schmerzliches und doch irgendwie wohltuendes Weinen handelte. Die Diagnose von Dr. K. lautete auf schwere Depression. Das Wort kannte ich, im landläufigen Sinn. Man sagt es rasch einmal, wenn jemand niedergeschlagen und verstimmt ist. Ich war doch nur enttäuscht, verzweifelt, traurig, weil ein Film, der mir viel bedeutet hätte, nicht zustande gekommen war, aber nicht depressiv! Und schon gar nicht suizidgefährdet! Wenn das nun eine Depression sein sollte, okay, in Gottes Namen, dann würde sie so schnell, wie sie aufgetaucht war, wieder verschwinden. Wenn nicht in ein paar Tagen, dann sicher in ein, zwei Wochen.

Wie sehr ich mich täuschte, merkte ich in aller Deutlichkeit, als ich drei Wochen später zu meinem Freund Xavier K. nach Los Angeles flog. Er hatte mir vorgeschlagen, gemeinsam das Drehbuch nochmals zu überarbeiten. Selber Autor und Regisseur, waren ihm meine Probleme bewußt. Dankbar nahm ich sein Hilfsangebot an. Ein letzter Rest Hoffnung war ja noch entgegen aller Einsicht in mir vorhanden. Aber mein Zustand hatte sich in keiner Weise gebessert, im Gegenteil, es kam mir vor, als ob ich unaufhaltsam immer tiefer in eine raumlose Dunkelheit stürzen würde. Ins Nichts. Dominique brachte mich zum Flughafen und plötzlich überfiel mich ein Gefühl, als ob sich mein Inneres in zwei Teile spalten würde. Ich hatte mich entschieden zu fliegen und jetzt, kurz vor dem Abflug, sträubten sich meine Nervenfasern, von Kopf bis Fuß, mit aller Gewalt gegen die Reise. Es war, wie wenn eine unter Strom stehende Eisenklammer meinen Magen umschließen würde. Ich wollte nicht gehen, weil ich spürte, daß die Reise zu Xavier im Grunde genommen sinnlos war, aber ich getraute mich nicht, es ihr zu sagen. Ich wußte, daß Dominique mich verstanden hätte, aber ich brachte die Worte nicht über die Lippen. Es ging nicht. In meinem Hirn brodelte ein hochexplosives Gemisch aus Panik, Angst und Verzweiflung, und meine Stimmbänder waren lahmgelegt. Ich hatte nur noch einen Gedanken, der sich in mein Bewußtsein schob und wie eine Drehorgel vor sich hin leierte: Ich will hierbleiben, ich will nicht abreisen, ich will hierbleiben, ich will nicht abreisen… aber ich konnte es nicht aussprechen. Während des Check-in nicht, auf dem Weg zur Paßabfertigung nicht und als ich mich von Dominique verabschiedete auch nicht. Mein Körper bewegte sich vorwärts zum Abfluggate. Mein Geist und meine Seele bewegten sich rückwärts, dorthin, wo ich am liebsten geblieben wäre.

Im Flugzeug nach Los Angeles war ich unfähig, mir den Film anzusehen, geschweige zu lesen, von Schreiben war nicht zu reden und schlafen konnte ich auch nicht. So saß ich zwölf Stunden bewegungslos auf meinem Platz und hatte nur den einen Wunsch, das Flugzeug möge abstürzen. Es stürzte nicht ab, sondern landete sicher auf dem Boden des Flughafens von Los Angeles. Ich dagegen war schon längstens abgestürzt – von Boden unter den Füßen keine Spur.

Es hätten zehn wunderbare Tage bei Xavier, seiner Frau Sabina und ihrem zweijährigen Töchterchen werden können. Sie umsorgten mich und halfen mir, wo sie nur konnten. Wir unterhielten uns über meinen Zustand und versuchten zu arbeiten. Es war aussichtslos. Ich brachte keinen klaren Gedanken zu Papier, und die Ideen, die Xavier in phantasievoller Fülle vortrug und aufschrieb, konnte ich nirgends einordnen. Einige Male stand ich auf der Dachterrasse der wunderschönen Wohnung, blickte zu den unweit entfernten Palmen, die den Weg zum Ozean säumten, beugte mich über die Brüstung und überlegte, ob ich nicht hinunterspringen sollte. Ich suchte nach einer Lücke in der Reihe der geparkten Autos, sah den harten Betonboden und sprang nicht. Es blieb ein immer wiederkehrender Wunsch, aber ich erfüllte ihn mir nicht.

Und dann, eines Morgens, auf dem Weg zum Santa Monica Boulevard, wo ich einige Einkäufe machen wollte, begann in mir zunehmender Widerstand gegen das Antidepressivum hochzusteigen, das mir mein Arzt verschrieben hatte. Seit über einem Monat schluckte ich die Pillen und in meinem Kopf herrschte nach wie vor das totale Chaos. Ich hatte schon immer eine sehr kritische Meinung über den Einsatz von chemischen Mitteln, wann und warum immer sie zur Anwendung gelangten. Natürlich war mir bewußt, daß es in der Medizin Situationen gab, in denen die Chemie die letzte Möglichkeit war, ein Leben zu retten. Aber als erstes, davon war ich überzeugt und bin es immer noch, galt es doch, auf die Selbstheilungskräfte des Körpers zu vertrauen. Und so fragte ich mich: War vielleicht die Chemie daran schuld, daß es zu keiner Besserung kam? Das wäre doch auch denkbar. Bis jetzt hatten die Medikamente jedenfalls keine Wirkung gezeigt. Und wie war das mit der Psyche? Würde da die Selbstheilung auch funktionieren? Ich wollte es wissen und setzte das Antidepressivum noch am gleichen Tag ab. Ich hoffte sehr, die Wärme und die Sonne Kaliforniens allein würden heilend wirken. Irrtum. Beim Abschied von Sabina und Xavier dachte ich, ich würde sie nie wiedersehen. Der Gedanke verursachte mir Übelkeit.

Ich machte einen Zwischenhalt von drei Tagen in New York, denn ich brachte es nicht übers Herz, den Kontinent zu verlassen, ohne Elia zu sehen. Als wir uns unter der Wohnungstüre umarmten, merkte ich, daß auch er nicht in bester Verfassung war. Ich kannte den Grund, er hatte am Telefon davon gesprochen. Die Ende Juli auslaufende Frist seiner Aufenthaltsbewilligung hing wie ein Damoklesschwert über ihm. Würde sein Antrag für das neue Visum, eine Vorstufe zur Greencard, von der Einwanderungsbehörde nicht bewilligt, so müßte er das Land definitiv verlassen. Seit seiner Studienzeit an der NYU hatte er jedes Jahr an der US-Greencard-Lotterie teilgenommen und gefiebert, aber das Glück war ihm nicht hold gewesen. So war er gezwungen, den beschwerlichen und teuren Weg zu einer definitiven Aufenthaltsbewilligung mit einem Anwalt zu gehen. Der Gedanke, alles aufgeben und unfreiwillig wieder in die Schweiz zurückkehren zu müssen, war für ihn unerträglich. In New York hatte er studiert, seinen Arbeits- und Freundeskreis aufgebaut und sich als freier Kameramann im Laufe der Jahre einen guten Namen geschaffen. Daß alles mit einem Federstrich zunichte gemacht werden könnte und er keine Möglichkeit hätte, einen negativen Entscheid der Behörde anzufechten, brachte ihn fast an den Rand der Verzweiflung. Und ich litt mit ihm.

Es wurden die längsten drei Tage meines Lebens und sicher auch im Leben von Elia. Wir hatten kaum etwas zu reden miteinander. Nicht, weil wir uns nichts zu sagen gehabt hätten, nein, jeder von uns war seinen eigenen Ängsten, Verzweiflungen und sich im Kreis drehenden Gedanken derart ausgeliefert, daß wir verstummten. Die Gegenwart war so unerträglich, daß ich mich mit meinen Gedanken in die Vergangenheit flüchtete.

Ich hatte in dieser Stadt auch Erfreuliches erlebt: im März 1976 die erfolgreiche Premiere meines Films Konfrontation in einem Kino in Manhattan und die darauffolgende beachtlich gute Kritik in der New York Times und, vierzehn Jahre später, im März 1990, die ebenso erfolgreiche Vorführung von Leo Sonnyboy am New York Film Festival. Jetzt aber war es nicht mehr die pulsierende, kurzweilige, aufregende Stadt, die mich immer wieder von neuem fasziniert hatte. Das New York, wie ich es aus den Filmen von Sidney Lumet, Martin Scorsese und ganz besonders Woody Allen kannte und liebte. Diesmal war Big Apple nur noch bedrohlich, abweisend und kalt. Als ob wir dagegen ankämpfen wollten, marschierten wir am ersten Tag wortlos Seite an Seite, Stunden um Stunden durch Straßen und Pärke, ungeachtet des launischen Aprilwetters, das uns zeitweise einen bissigen Wind ins Gesicht blies. Wenn schon unsere Gehirne zermartert wurden, die Beine ließen uns nicht im Stich. Wer Downtown Manhattan kennt, der kann sich die Distanz vom Astor Place hinunter zum Battery Park sicher vorstellen. Es kam mir vor, als ob wir um unser Leben laufen würden. Die Menschen in den Straßen interessierten uns nicht, eigentlich interessierte uns überhaupt nichts mehr. Wir wußten, daß wir einander nicht helfen konnten, daß niemand uns helfen konnte. Wir waren uns ganz nah und gleichzeitig weit voneinander entfernt. Wäre ich dazu in der Lage gewesen, ich hätte nur noch geweint.

Am zweiten Tag regnete es. An einen längeren Marsch war nicht zu denken. Wir studierten die Kinoinserate. Welcher Film würde sich wohl für unsere Stimmung am ehesten eignen? Eigentlich keiner. Meiner Depression und seiner Ungewissheit war auch die Neugier zum Opfer gefallen. An der Second Avenue, wenige Minuten von Elias Wohnung entfernt, lief Titanic. Ein Film, der uns in keiner Weise interessierte. Aber jetzt, in dieser Situation, war es für uns die einzige Alternative. Für knapp drei Stunden im dunklen Saal sitzen und sich irgendwelchen filmtechnischen Kapriolen, sentimentalen Gefühlsduseleien und dramaturgischen Unwahrscheinlichkeiten aussetzen – das war im Vergleich zur Nässe und Kälte draußen immer noch die bessere Lösung.

Nach der Vorführung gingen wir noch was essen. Zu reden gab es nicht viel. Über die Schwächen des Films waren wir uns einig. Was die technischen Aspekte betraf, so war er zweifellos hervorragend gemacht, der Schiffsuntergang spielte sich über weite Strecken glaubwürdig ab. Weniger glaubwürdig waren jedoch die Figuren, die zu sehr an der Oberfläche blieben, trotz ihrer Gefühlsausbrüche wenig Mitgefühl erweckten und auf die Dauer langweilig wurden.

Das konnte man in einem gewissen Sinn auch von mir sagen. Ich war langweilig und uninteressant für andere geworden. Mit einem Unterschied: Ich befand mich nicht als Passagier auf besagtem Schiff, das einen Eisberg gerammt hatte. Ich selber war das Schiff und im Begriff zu sinken. Hilflos dem einstürzenden Wasser ausgeliefert, unfähig, das einzige Rettungsboot auszusetzen, um wenigstens Elia zu helfen, der sich verzweifelt an die Reling klammerte und keine Chance sah, die ihn bedrohende Ausweisung aktiv abzuwenden. Ich bewunderte, wie er sich trotz seiner Angst gelassen seinem Schicksal stellte. Den darauffolgenden Tag verbrachten wir mit einem letzten Fußmarsch durch Manhattans Straßenschluchten und am späten Nachmittag fuhr uns ein Taxi zur Grand Central Station, von wo ich den Bus zum JFK-Flughafen nahm. Beim Abschied sprachen wir uns gegenseitig Mut zu. Es folgte eine kurze Umarmung, dann stieg ich ein. Der Chauffeur startete den Motor und fuhr ab. Traurig und mit schmerzender Seele blickte ich Elia durchs Fenster nach, wie er winkend und mit einem wehmütigen Lächeln in der Menge verschwand.

Der Flug über den Atlantik unterschied sich von den vorangegangenen Flügen in keiner Weise. Der Wunsch, die Maschine möge ins Meer stürzen, erfüllte sich auch diesmal nicht. Ich saß wie paralysiert in meinem Sitz, unfähig, mich abzulenken. Dank einer Schlaftablette war ich wenigstens in der Lage, etwas zu dösen. Die Ungewißheit, wie es mit mir weitergehen würde, zermarterte mein Hirn, und die Gewißheit, daß die Reise in bezug auf das Drehbuch nicht das von mir erhoffte Resultat gebracht hatte, ließ die Marter zur Folter werden.

*

Dr. K. zeigte sich besorgt, als ich mich zurückmeldete. Ich sagte ihm, daß ich das Medikament in Los Angeles abgesetzt hätte und mich seither nicht schlechter fühlte. Er war der Meinung, daß es auf Grund meines Zustands unverantwortlich wäre, die Therapie ohne Medikation fortzusetzen und verschrieb mir ein neues Antidepressivum. Ich schöpfte ein wenig Zuversicht, hoffte, das neue Medikament würde besser wirken. Das Gegenteil war der Fall. Die letzten Reste meiner Urteils- und Entscheidungsfähigkeit wurden aus Kopf und Seele gespült. Am deutlichsten bekam ich es zu spüren, als ich mit Christa C., die als Scriptdoctor beste Referenzen mitbrachte, einen weiteren Anlauf nahm, das Drehbuch zu überarbeiten.

Wir hatten den Termin in der ersten Maiwoche schon vor meiner Abreise bestimmt, und in irgendeinem hinteren Winkel meines Kopfes war da die leise Hoffnung, daß nach allen anderen gescheiterten Versuchen mit ihrer Hilfe aus dem Buch doch noch eine brauchbare Drehvorlage werden könnte. Wir saßen einander in meiner Wohnung gegenüber und Christa analysierte die Schwachstellen der Geschichte, gründlich und genau, ich konnte das Gesagte weitgehend nachvollziehen. Aus ihrer Kritik ergaben sich logische Fragen, die nur ich beantworten konnte. Es war meine Geschichte, es sollte mein Film werden und folglich lag bei mir die Verantwortung, hatte ich zu entscheiden. Spätestens in diesem Moment zeigte sich in aller Deutlichkeit, daß ich auf keine Art und Weise fähig war, auch nur einen einzigen brauchbaren gedanklichen Beitrag zu leisten. Ich fand keinen Zugang mehr zu dem, was ich einst selber geschrieben hatte. Ich war so verunsichert, daß ich kaum einen Satz fertig denken konnte. Es war einfach nichts mehr da. Die Figuren der Geschichte, mit denen ich einige Jahre gewissermaßen gelebt hatte, waren nur noch formlose, seelenlose Wesen. Sie interessierten mich nicht mehr. Wie sollte ich da Neues erfinden können. Christa zeigte sich verständnisvoll und geduldig, aber nach vier Stunden mühseliger Suche nach einer Lösung mußten wir uns beide eingestehen, daß es wohl am besten sei, die Übung ohne Resultat abzubrechen. Doch nein: Es gab ein Resultat, nämlich die Feststellung, daß ich definitiv arbeitsunfähig geworden war. Das heißt, ich war es schon seit langem, aber ich hatte es mir nicht eingestehen wollen. An diesem Montagmorgen im Mai jedoch wurde ich von der unerbittlichen Wahrheit eingeholt. Ich war nicht mehr zu gebrauchen und das bedeutete, es ging unaufhörlich abwärts. Ein Sturz ohne Ende. Wenn doch wenigstens irgendwann der Aufschlag käme, das ist doch so, muß doch so sein, schon rein physikalisch, was fällt, kommt irgendwann irgendwo an, wieso fiel ich dann immer noch weiter? Ohne diesen lichten, um nicht zu sagen euphorischen Moment Ende Mai, am Freitag vor Pfingsten, als ich beschloß, den Koffer für die Klinik zu packen – ich weiß nicht, vielleicht wäre dann schon geschehen, was ich mir immer öfter herbeiwünschte: einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen.

Jetzt lag ich in meinem Zimmer auf dem Bett und starrte zur Decke. Am liebsten hätte ich meinen Koffer wieder gepackt und wäre nach Hause zurückgekehrt, aber ich hatte mich schriftlich verpflichtet, mindestens für zehn Tage hierzubleiben. Ein Austritt war erst nach Absprache mit dem Arzt und der Klinikleitung möglich. So sind die Vorschriften. Ich überlegte, ob ich nicht einen günstigen Zeitpunkt benutzen sollte, um zu verschwinden, zum Beispiel in dem Moment, wenn das Pflegepersonal sich ins Stationszimmer zum Rapport zurückgezogen hatte. Aber dann dachte ich an Kurt G., einen meiner früheren Freunde und auch ein Filmemacher.

In den siebziger und achtziger Jahren hatte er einige erfolgreiche Kinofilme und in den letzten Jahren ebenso erfolgreiche Fernsehdokumentationen realisiert. Einige Male äußerte er sich in Zeitungsartikeln kritisch und auch mit gerechtfertigten Argumenten über die hiesige Filmförderung. Aus welchen Gründen auch immer, er hatte seit mehreren Jahren verzweifelt gegen Resignation und die Angst vor Arbeitsunfähigkeit gekämpft. Ich traf ihn selten, da er sehr zurückgezogen lebte. Es kam mir so vor, als ob er die Einsamkeit suchte und vielleicht war in dieser Isolation ein tödliches Gift enthalten. Ein Gift, das ihn zerfraß. Wenn ich ihn sah, meistens eine kurze Begegnung auf der Straße, dann fiel mir zunehmend auf, wie er in sich selbst versunken war. Ich dachte, das nächste Mal, wenn er mir begegnet, werde ich ihn gar nicht mehr wahrnehmen. Kurt hatte sich knapp ein Jahr zuvor, während einem schweren Depressionsschub, ebenfalls freiwillig in die Klinik begeben, auf die gleiche Abteilung, wo ich mich jetzt befand. Und dann genau das gemacht, was ich am liebsten auch getan hätte. Wieder abhauen. Er verließ die Klinik am Morgen nach seinem Eintritt und kehrte nach Hause zurück. Tags darauf sprang er vor einen Zug in den Tod. Diese grauenhafte Geschichte ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte nicht den Mut, die Klinik zu verlassen, ich war voller Angst – Todesangst, daß es mir, wenn ich jetzt verschwinden würde, ebenso erginge.

Kurt war nicht der erste Filmemacher, der sich auf diese Weise von der Welt verabschiedet hatte. Es gab einen weiteren Filmkollegen, der sich neun Monate vorher ebenfalls umgebracht hatte. Mit aufgeschnittenen Pulsadern fand man ihn in seiner Wohnung. Eine äußerst begabte Autorin und Regisseurin, die vor einigen Jahren einen von Kritik und Publikum hochgelobten Film realisiert hatte, war in einem unbewachten Moment aus dem Fenster einer psychiatrischen Klinik gesprungen, in der sie wegen einer schweren Depression behandelt wurde. Mir fiel plötzlich auf, daß Filmemacher besonders suizidgefährdet zu sein scheinen. Ich erinnerte mich an Drehbuchautoren, Regisseure und Kameramänner aus den fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahren. Mehrere hatte ich persönlich gekannt. Es waren Leute, die die helvetische Filmszene entscheidend mitgeprägt hatten. Einer schoß sich eine Kugel in den Kopf, zwei soffen sich buchstäblich zu Tode, einer vergammelte auf elende Weise in seinem Haus im Tessin, ein anderer erhängte sich in seinem Kleiderschrank. Mir schien, als ob es sich bei diesen Verzweiflungstaten nicht um Ausnahmen, sondern schon eher um die Regel handelte. Und es sah ganz danach aus, wie wenn ich der nächste sein würde. Es gab tatsächlich nichts mehr, woran ich mich halten konnte.

»Swiss Paradise« war gestorben. Vielleicht, weil ich mich zu eigensinnig in das Projekt verbissen hatte. Ich wollte, über alle Widerstände hinweg, diesen Film realisieren, koste es, was es wolle, und hatte dabei einige Warnsignale sträflich mißachtet. Zum Beispiel die Kritik am Drehbuch, die ich nicht gelten lassen wollte, weil sie auch von Personen geäußert worden war, zu denen ich kein Vertrauen hatte. Entweder weil sie selber als Autor oder Regisseur nie einen Film realisiert hatten, oder weil sie gemessen an den Filmen, deren Drehbücher sie als gut befunden hatten, bewiesen, daß ihre Urteilsfähigkeit, salopp gesagt, nicht über alle Zweifel erhaben war. Seit Beginn meiner Laufbahn als Autor und Regisseur hatten sich aus der Lektüre meiner Drehbücher immer wieder Konflikte ergeben. Meistens mit Mitgliedern eines Gremiums, welches Produktionsgelder sprechen sollte. Die Bilder, die ich im Kopf hatte und die meinen Film prägen würden, waren oft andere als die Bilder, die sich diejenigen machten, die das Drehbuch beurteilten. Damit war der Konflikt, der einem manchmal ganz schön unter die Haut gehen konnte, vorprogrammiert, denn als Außenstehender ein Drehbuch zu bewerten, ist etwas vom Schwierigsten überhaupt. Doch vom Drehbuch hängt weitgehend die Qualität des geplanten Films ab. Aus einem schlechten Drehbuch hat noch niemand einen guten Film realisiert. Aber eben, wer entscheidet und wie entscheidet man, ob ein Drehbuch gut oder schlecht ist? In den großen Filmländern ist es meistens der Produzent. Ob der dann auch recht hat, ist eine andere Frage. Jedenfalls trägt er die Verantwortung und muß für seine Entscheide geradestehen. Aber er kann dies im Gespräch mit dem Autor tun, der damit die Gelegenheit hat, seine mögliche Schwäche – das Niederschreiben einer Geschichte – wettzumachen mit seiner Stärke – der Visualisierung einer Geschichte. Bei uns in der Schweiz hingegen entscheiden Kommissionsmitglieder, die keinen Kontakt zum Autor haben dürfen und sich hinter einem anonymen Gruppenurteil verstecken können. Logischerweise trägt bei diesem System keiner auch nur den Hauch einer Verantwortung. Und somit interessiert es diese sogenannten Experten auch gar nicht, ob sie richtig oder falsch entschieden haben.

Ich stellte fest, daß die jahrelangen nervenaufreibenden, zeitraubenden, zermürbenden und verletzenden Auseinandersetzungen mit dem schweizerischen Filmszenenfilz, das heißt mit Kommissionen, Fernsehredaktoren, mit all den Leuten, darunter fatalerweise auch Kolleginnen und Kollegen, die das hinterfragungswürdige Filmförderungssystem in Gang hielten, Spuren bei mir hinterlassen hatten. Ich war, und das wurde mir in dieser Deutlichkeit erst jetzt bewußt, schon seit ein paar Jahren immer wieder kraft-, mut- und lustlos gewesen. Abgestellt, im wahrsten Sinn des Wortes. Ganz nahe bei dieser giftigen Würgeschlange genannt Resignation, die zum tödlichen Biß erst dann ansetzt, wenn sie sich, von den Füßen bis hinauf zum Hals, um den ganzen Körper gewunden hat. Ich spürte immer deutlicher, wie sie sich bereits um meine Brust gerollt hatte. Aber ich wollte es nicht wahrhaben, aus Angst nicht, obwohl mein Gang zunehmend schwerer und schleppender geworden war. Wohin nur hatten sich meine großen Hoffnungen aus den siebziger und frühen achtziger Jahren verflüchtigt?

Die Lust von damals, Filme für ein interessiertes und möglichst großes Publikum zu realisieren, ließ sich mit Nachdenken und Einreden nicht wieder herbeizaubern. Hatte ich die (unaufhaltsame?) Entleerung meiner Batterien zuwenig beachtet? Im Frühjahr 1967 standen sie doch noch unter Hochspannung, vollgeladen mit Träumen, Ideen und Visionen. Der, wie es damals hieß, junge Schweizerfilm hatte sich seine Sporen mit aufsehenerregenden Dokumentarfilmen von Henry Brandt (Quand nous étions petits enfants), Alexander J. Seiler (Siamo italiani), Walter Marti und Reni Mertens (Ursula oder das unwerte Leben), und Alain Tanner (Les apprentis) überzeugend abverdient. Obwohl um eine halbe Generation jünger, fühlte ich mich diesen Filmautoren nahe. Immerhin hatte ich meine Gesellenprüfung bei Marti/Mertens glanzvoll bestanden. Sie hatten mir bei Ursula oder das unwerte Leben die Kameraarbeit anvertraut und mit ihnen zusammen montierte ich die beeindruckende Geschichte der taubblinden Ursula und ihrer Lehrerin Mimi Scheiblauer, der revolutionären Wegbereiterin rhythmischer Pädagogik. Der Film wurde zu einem unerwarteten durchschlagenden Erfolg in den schweizerischen Kinos. Die zeitweise ganz schön unter die Haut gehende Arbeit über fast zwei Jahre hatte sich mehr als gelohnt. Für mich war es ein Lehrstück zur Frage: Gibt es überhaupt unwertes Leben? Ich lernte anhand der Kinder, die ich mit der Kamera beobachtete, die vielen Formen sogenannt körperlicher und geistiger Behinderung kennen und ich verstand bald mal, daß diese seelenvollen Geschöpfe uns ›Nichtbehinderten‹ unaufdringlich, dafür um so eindrücklicher bewußt machen, wo unsere eigenen Unzulänglichkeiten, Widersprüche, eben Behinderungen verborgen liegen.

In den sechziger Jahren war die Zeit reif gewesen für einen Generationenwechsel im schweizerischen Filmschaffen. Der erfolgreiche alte Schweizerfilm der vierziger und fünfziger Jahre hatte das ›Zeitliche gesegnet‹. In Frankreich war der Ablösungsprozeß schon Ende der fünfziger Jahre durch die jungen Pariser Filmrebellen der Nouvelle Vague in Gang gesetzt worden. Ihre revolutionäre neue Filmsprache zeigte Auswirkungen rund um den Globus. Auch bei uns, obwohl es noch vereinzelte, zum Teil bemühende Versuche gab, an die Tradition früherer Erfolge anzuknüpfen. Das Publikum fand an den aufrührerischen und provozierenden Filmen amerikanischer, englischer, aber auch tschechischer, jugoslawischer und natürlich französischer Provenienz mehr Gefallen. Es war auch die Zeit der Episodenfilme, speziell aus Italien und Frankreich, die uns begeisterten. Wenn wir auch teilweise unterschiedliche Auffassungen über filmische Ausdrucksformen hatten, so waren Walter Marti und Reni Mertens mit mir einig, daß der nächste Film, den wir zusammen realisieren wollten, unbedingt ein Spielfilm sein mußte. Es war naheliegend, den Trend zu nutzen und es auch mit einem Episodenfilm zu versuchen. Die Vorteile lagen auf der Hand. Das Wagnis, fiktive Geschichten mittels Kurzfilmen umzusetzen, würde das Risiko eines Erstlingsfilms erheblich mindern, nicht zu reden von den Produktionskosten, die man bei diesem Genre besser unter Kontrolle hätte. Marti mobilisierte die Kollegen aus der französisch- und der deutschsprachigen Schweiz, die ähnliche Absichten wie wir hatten, und so kam es zu einem ersten Treffen mit Goretta, Tanner und Seiler in Zürich. Alle waren sich einig, daß man die Chance für einen gemeinsamen Schritt hin zum Spielfilm unbedingt nutzen sollte. Auch der Vorschlag, es mit einem Episodenfilm zu versuchen, erregte keinen Widerspruch. Es zeigte sich dann aber schnell, daß schon im Ansatz die Vorstellungen, wie ein Kinofilm in dieser Form aussehen sollte, diametral auseinanderliefen. Ich plädierte gleich zu Beginn für ein gemeinsames Thema, das jeder auf seine eigene Art behandeln würde, und war der Meinung, daß ein gemeinsamer thematischer Nenner unabdingbar war. Außer bei Walter Marti und Reni Mertens fand ich jedoch keine Zustimmung. Ich hatte den Verdacht, daß man mir als jüngerem Protegé von Marti, der sich zwar als Kameramann und Cutter, nicht aber als Autor und Regisseur bewiesen hatte, wenig bis kein Vertrauen entgegenbrachte. Vielleicht betrachteten sie es auch als erschwerend und nicht unbedingt wünschenswert, daß – sollte auch ich mitmachen – mit fünf Filmen gerechnet werden mußte. Das hätte bei einer Gesamtlänge von hundert Minuten pro Episode zwanzig Minuten ergeben. Bei vier Episoden hingegen würde jedem mehr Spielzeit zur Verfügung stehen. Diese Gedanken drehten sich in meinem Kopf, aber weil ich nicht kampflos aufgeben wollte, ging ich in die Offensive und machte den Vorschlag, als gemeinsames Thema »Hochzeit in der Schweiz« festzulegen. Auf den Gesichtern zeigte sich wenig Begeisterung. Eigentlich gar keine. Da jedoch niemand in der Runde eine bessere Idee hatte, wurde beschlossen, zuerst einmal darüber nachzudenken und sich in Kürze zu einer nächsten Runde zu treffen. Dann sollte jeder eine konkrete Ideenskizze zum vorgeschlagenen Thema mitbringen. Daß Goretta und Tanner die lange Reise von der Rhonestadt nach Zürich nochmals machen würden, gab zu Hoffnungen Anlaß. Einige Wochen später fand das zweite Treffen tatsächlich statt. Allerdings ohne Claude Goretta, aber das war zu verschmerzen, immerhin waren wir noch zu viert. Marti und Mertens galten als eine Person, denn Reni würde keinen eigenen Film realisieren, sondern für die Produktion verantwortlich sein. Und so präsentierte jeder seine Idee. Vom gemeinsamen Nenner konnte allerdings keine Rede mehr sein: Tanner trug eine Geschichte vor, die absolut nichts mit dem Thema zu tun hatte; Seilers Entwurf handelte von einer jungen Babysitterin und war meilenweit entfernt von der Vorgabe und Marti hatte gar keine Geschichte. Ich hatte ein Exposé geschrieben, in dem die Geschichte von Eugen erzählt wird, einem jungen Mann, der sich mit Hilfe einer Heiratsvermittlungsagentur eine passende Frau sucht. Eugen will auf Nummer Sicher gehen und hofft, durch die Agentur, die hocheffizient mit Computern arbeitet, die perfekte Frau fürs Leben zu finden. Es sollte eine Komödie werden. Vielleicht gerade deswegen hielt sich die Zustimmung der Kollegen in Grenzen. Ich hatte bereits während der ersten Gesprächsrunde gemerkt, daß besonders Tanner ein vehementer Gegner jeglicher Verbindung von Autorenkino und Kommerz war. Nur schon das Liebäugeln mit dem Publikum interpretierte er als Verrat an der Filmkunst. Meinen Intentionen lief das zuwider. Was das Thema Kunst und Kommerz betraf, so hatte ich schon damals keine Berührungsängste.

Für mich war und ist Filmemachen untrennbar mit Geld und demzufolge auch mit kommerziellen Überlegungen und Zwängen verbunden. Das eine Element funktioniert nicht ohne das andere. Film ist das aufwendigste und teuerste künstlerische Medium. Die gestalterische Arbeit und die materielle Verantwortung bedingen einander. Was kann man sich denn, auch als Autor, für einen Film Besseres wünschen als möglichst viele Zuschauer. Natürlich, und da war ich mit Tanner einig, durften Kompromisse, die sich nur noch nach irgendeinem nebulösen Publikumsgeschmack orientieren, nicht auf Kosten der künstlerischen, sprich inhaltlichen Substanz eines Films gemacht werden. Daß er sich allerdings grundsätzlich um die Zuschauer foutierte, wie er mir einmal während der gemeinsamen Arbeit an seinem ersten abendfüllenden Dokumentarfilm Les apprentis gestand, habe ich bis heute nicht begriffen.

Beim dritten Treffen fehlte Tanner. Seiler war die Lust an einer Geschichte zum Thema Heirat offensichtlich auch vergangen. Das Episodenfilmprojekt hatte sich bereits im vorgeburtlichen Stadium von selbst erledigt. Was blieb, war Martis und meine Überzeugung, daß die Geschichte von Eugen das Potential für einen Kinofilm enthielt. Wir beschlossen, den Weg alleine zu gehen. Aus meiner Episode wollte ich eine abendfüllende Geschichte schreiben. Marti erklärte sich bereit, den Film zu produzieren und mit dem Geld, das Reni und er durch den Kinoerfolg von Ursula oder das unwerte Leben verdient hatten, auch vollauf zu finanzieren. Einen andern Weg gab es nicht. Wer aus der Privatwirtschaft würde das Risiko eingehen und einem unbekannten Filmemacher für seinen Erstlingsfilm 150’000 Franken hinblättern? Auf diesen Betrag hatten wir die Produktionskosten veranschlagt. Die Bundesfilmförderung zu jener Zeit sprach nur Dokumentarfilmprojekten Beiträge zu. Man scheute sich damals noch, Gelder der öffentlichen Hand für Spielfilmproduktionen auszugeben. Fiktion war in jeder Hinsicht suspekt und wenn es sich um eine Komödie handelte erst recht. Bei näherer Betrachtung ist das hierzulande bis heute in vielen Köpfen so geblieben.

Mit einer Mini-Equipe, wenigen Schauspielern und einer Anzahl Laien wagten wir im Frühling des schicksalhaften Jahres 1968 das Experiment. Und ein Experiment war es auf der ganzen Linie. Der Schweizer Spielfilm der vorangegangenen Generation sollte allerdings noch ein letztes Mal bemerkenswert aufblühen, als Kurt Früh 1971 die berührende Komödie Dällebach Kari realisierte und ein Jahr später mit Der Fall seinen letzten Kinofilm auf die Leinwand brachte. Bis auf diese zwei Filme von Kurt Früh hatte mich der alte Schweizerfilm nie sonderlich interessiert. Insbesondere bereitete mir die Sprache große Mühe. Einerseits war Dialekt meine Sprache, unsere Sprache, die Sprache dieses Landes, anderseits empfand ich die Dialoge in den Dialektfilmen als zu papieren, zu gestelzt, zu sehr dem Kabarett verbunden. Das lag zum einen zweifellos an den Drehbüchern, aber auch an den Darstellern, die größtenteils aus der Kabarettszene kamen, dort außerordentlich erfolgreich waren, aber ihren Sprechduktus für die Leinwand nicht änderten. Es war die Zeit, als bei uns in den damals noch spärlichen Studiokinos besonders die Filme aus der Tschechoslowakei Aufmerksamkeit erregten. Die bescheidenen und doch anspruchsvollen Schwarzweißkomödien Die Liebe einer Blondine und Schwarzer Peter von Milós Forman, Kleine Margueriten von Vera Chytilova oder Scharf beobachtete Züge von Jiri Menzel und andere mehr nährten meine Überzeugung, daß es doch möglich sein müßte, solche Geschichten auch bei uns auf die Leinwand zu bringen. Und so wurde mein erster Spielfilm Eugen heißt wohlgeboren eine vom tschechischen Film inspirierte Komödie deutschschweizerischer Provenienz. Das Drehbuch bestand aus einer lockeren Szenenfolge ohne Dialoge. Um die Darsteller eine möglichst natürliche Alltagssprache sprechen zu lassen, erklärte ich ihnen genauestens den Szenenablauf und gab ihnen, ausgehend vom Charakter der Figuren, Anhaltspunkte, wie ich mir den Dialog vorstellte. Dann bat ich sie zu improvisieren. Die Resultate waren nicht durchwegs befriedigend. Einerseits kamen die meisten Improvisationen meinen Vorstellungen vollauf entgegen, anderseits bestand aber immer wieder die Gefahr, daß sich die Dialoge, welche die Schauspieler spontan erfanden, sozusagen verselbständigten und nicht unbedingt den Humorcharakter hatten, wie er mir vorschwebte. Gesamthaft gesehen war jedoch eindeutig herauszuhören, daß sich die Tonalität der gesprochenen Dialoge wohltuend von den früheren Dialektfilmen unterschied. Im August 1968 war der Film fertiggestellt. Die Studentenunruhen[ und Globuskrawalle [Demonstration für ein Jugendhaus an der Bahnhofbrücke in Zürich] in den Monaten Mai und Juni waren unbeachtet an mir vorbeigegangen. Die Bild- und Tonmontage an meinem Spielfilm hielt mich vollumfänglich in Beschlag.

Die mit Spannung erwartete Premiere im Kino Bellevue in Zürich ist mir unvergeßlich in Erinnerung geblieben. Es geschah, was niemals hätte geschehen dürfen: Während der Vorführung gab es unfreiwillige Unterbrüche, als die Kopie dreimal riß. Einmal wäre schon schlimm gewesen, dreimal, das war zuviel und vernichtend. Die Unzulänglichkeiten der Technik hatten mir einen fürchterlichen Streich gespielt, und das Mitleid, das ich nach der Vorführung auf den Gesichtern der Premierengäste las, war schlimmer als der schlimmste Verriß. Und der ließ nicht lange auf sich warten. Zwei Tage später bolzte der Kritiker einer großen Tageszeitung Eugen gnadenlos in den Boden. So gnadenlos, daß sich Leute fragten, ob der Schreiber etwas gegen mich persönlich hätte. Wären neben weiteren Verrissen nicht auch ein paar positive Kritiken erschienen, mein Selbstvertrauen wäre wohl nie mehr aus der Schieflage herausgeraten. Ich hätte mir doch etwas mehr Sachlichkeit und weniger Häme und Schadenfreude gewünscht. Ich wußte ja selbst, daß nicht alles gelungen war, daß sogar sehr vieles nicht gelungen war. Und das beschäftigte mich mehr als die vernichtenden Urteile in der Presse. Brechts Witwe, Helene Weigel, mit Marti und Mertens eng befreundet, hatte drei Jahre zuvor den Kommentar zu unserem Film Ursula oder das unwerte Leben gesprochen. Für mich war es damals ein beeindruckendes Erlebnis gewesen, die große alte Dame des deutschen Theaters kennenzulernen und mit ihr zusammenzuarbeiten. Meine ambivalenten Gefühle gegenüber Eugen brachte sie nach einer gemeinsamen Vorführung freundschaftlich und einfühlsam auf den kritischen Punkt. Man hat den Eindruck, sagte sie, als wir nach dem Kino den See entlangspazierten, als ob der Film von zwei verschiedenen Autoren gestaltet worden sei. Wie recht sie hatte. Ohne zu wissen, unter welchen Voraussetzungen wir gearbeitet hatten, äußerte sie zweifellos das Richtige und Entscheidende. Marti, der seine früheren Regieambitionen in bezug auf Spielfilme bedauerlicherweise nie verwirklichen konnte, hatte als Produzent meines Spielfilms auch gestalterisch ein gewichtiges Wort mitgeredet. Das wäre kein Problem gewesen, wenn wir in Sachen Humor und Komik dieselbe Wellenlänge gehabt hätten. Wir hatten sie im Bereich der, sagen wir mal, angewandten Ironie auf höherer Ebene, aber auch dort nur eingeschränkt. So kam es zwischen Marti und mir zu Auseinandersetzungen, die mir immer größere Probleme bereiteten, besonders dann, wenn es um die Frage, was wann komisch ist, ging. Reni versuchte in solchen Momenten zu schlichten, was ihr in der vorgegebenen personellen mKonstellation nicht immer gelang. Ich war der Jüngere, stand am Anfang meiner beruflichen Laufbahn, konnte meine Unsicherheit nicht immer unter Kontrolle halten, hatte bei weitem nicht die Bildung und das Wissen meiner beiden Mentoren, wogegen Marti sein eigenes Geld einsetzte und ohne Zweifel ein großes Risiko einging. Er wollte mir helfen, auf seine Art, ich aber empfand es zunehmend als Bevormundung, mehr: als Angriff auf meine persönliche künstlerische Unabhängigkeit. In Tat und Wahrheit war es im übertragenen Sinn eine Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn. Marti war eine Vaterfigur für mich, als linker Intellektueller hatte er mir gesellschaftspolitische Prozesse ins Bewußtsein gebracht und mich mit der entsprechenden Literatur versorgt. Er lehrte mich zu hinterfragen und zu analysieren. In den viereinhalb Jahren unserer Zusammenarbeit ging ich bei ihm und Reni, pointiert ausgedrückt, durch die hohe Schule der kritischen Vernunft, die einerseits der humanistischen Tradition verpflichtet, anderseits in gewissen Bereichen allerdings stark ideologisch gefärbt war. Trotzdem rebellierte mein Bauch gegen Martis väterliche Autorität. Ich hatte mich nicht gegen ihn durchsetzen können, war gestalterische Konzessionen eingegangen, hatte meine ursprünglichen Vorstellungen den seinen angepaßt und mußte mir – neben aller Selbstkritik – am Ende auch eingestehen,daß der Film, für den ich verantwortlich zeichnete, nur zu Teilen von mir war. Helene Weigel hatte das herausgespürt, aber das war nur ein schwacher Trost. Mit Eugen mußte ich leben. Mir blieb nur die Hoffnung, daß, wenn dieser Erstling schon kein Geniestreich war, vielleicht der eine oder andere Film, den ich in meinem Leben noch realisieren wollte, doch meinen Vorstellungen nicht nur zu einigen Prozenten, sondern vollumfänglich entsprechen würde.

Schon während der Arbeit an Eugen hatte ich die Idee, über die Geschichte von David Frankfurter, dem Attentäter von Davos, ein Drehbuch zu schreiben. Im Herbst 1968 endete meine Zusammenarbeit mit Walter Marti und Reni Mertens in aller Freundschaft und ich begann mit den Recherchen zu diesem Projekt. Es vergingen sechs Jahre, bis ich nach mehreren Anläufen und eher widerwillig vom Begutachtungsausschuß der eidgenössischen Filmkommission das dringend benötigte Förderungsgeld zugesprochen bekam. Die Kommissionsmitglieder trauten mir nicht zu, nach einer Komödie diesen anspruchsvollen dramatischen Stoff adäquat umsetzen zu können. Dank zusätzlicher finanzieller Hilfe von privater Seite konnte ich mit einem jungen hochmotivierten Team den Film Konfrontation zu guter Letzt realisieren. Keine Frage, es war für uns alle die Zeit des Aufbruchs, der Hoffnungen und vielversprechenden Pläne.

*

Genau dreißig Jahre später, als Insasse der Psychiatrischen Universitätsklinik, sah ich keine Zukunft mehr. War das die Vorstufe zum Gang ins Jenseits? War ich bereits jeder Hoffnung beraubt? Hoffnung, dieses schwer zu beschreibende Gefühl, die das Fundament bildet für alles, was der Mensch in seinem Leben unternimmt, unabhängig von seiner Herkunft, seiner Bildung, seinem privaten und beruflichen Weg. In der Tat, ohne Hoffnung ist der Mensch prinzipiell nicht lebensfähig. Gibt es ein tieferes Gefühl als Hoffnung? Liebe? Sicher, es braucht beides, um zu überleben. Und wenn die Hoffnungslosigkeit einen liebesunfähig macht? Der Mensch lebt doch im guten wie im bösen, weil er hofft. Geht es ihm gut, so hofft er, daß es so bleibt. Geht es ihm schlecht, so hofft er, daß es ihm bald wieder besser geht. Und wenn er aktiv ist, handelt, entscheidet, Risiken eingeht und damit vorwärtsschreitet, dann immer auf der Basis von Hoffnung. Ernst Bloch hatte es gültig formuliert: »Hoffnung, dieser Erwartungs-Gegenaffekt gegen Angst und Furcht, ist deshalb die menschlichste aller Gemütsbewegungen und nur Menschen zugänglich…« Wenn der Mensch nicht mehr hoffen kann, aus was für Gründen auch immer, dann vegetiert er nur noch. Genau das traf jetzt auf mich zu. Ich vegetierte. Die Hoffnung war mir abhanden gekommen, in mir war nur ein großes schwarzes Loch.

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