Читать книгу Mein Arbeitszeugnis - Rolf Summermatter - Страница 6
Оглавление3 Das Unfassbare tritt ein
Cornelia war eine junge Frau, die wusste, was sie wollte. Im Beruf fühlte sie sich wohl, war selbstbewusst und hatte ein gutes Auftreten. Als sie einen neuen Chef bekam, geriet dieses Selbstbewusstsein jedoch ins Wanken. Es schien ihr, als würde sie sich auf sumpfigem Boden befinden. Sie wusste nicht, wohin sie den nächsten Schritt machen sollte, und zwar bis zu dem Tag, an dem sie Unterstützung erhielt und sie ihren Blick weg vom Vergangenen hin zur Zukunft richten konnte.
Cornelia rannte mit einem Papier in der Hand vom Firmeneingang zur Strasse. Mit Tränen in den Augen stürmte sie blindlings über den Fussgängerstreifen. Sie bemerkte kaum, dass ein Autofahrer brüsk auf die Bremsen treten musste. Auf der anderen Strassenseite angelangt, jagte sie förmlich in den nahegelegenen Stadtpark weiter. Sie liess sich auf eine leere Bank fallen und ihren Tränen der Wut und der Enttäuschung freien Lauf. In ihrem Kopf kreisten viele Gedanken, die sie jedoch kaum ordnen konnte.
Spaziergänger gingen an ihr vorüber, verlangsamten ihren Schritt, schauten zu ihr hin. Einige lächelten, andere schüttelten leicht verlegen den Kopf, zogen dann wieder mit etwas schnellerem Schritt weiter und wieder andere gingen mit geradem Blick achtlos an ihr vorbei.
Ein kleines Mädchen, mit seiner Mutter und seinem Brüderchen im Kinderwagen den sonnigen Spätnachmittag geniessend, sah die weinende Frau auf der Bank. Es rannte zu ihr hin, schaute sie an und begann sie sanft an den Unterarmen zu streicheln. Es dauerte einen Moment, bis die junge Frau den Kopf hob. Sie sah das kleine Mädchen erst mit leerem Blick an, doch rasch füllte sich dieser mit Freude und Dankbarkeit. Es gelang ihr sogar ein Lächeln. Das kleine Mädchen lächelte zurück und rannte wieder zu seiner Mutter.
Cornelia kramte in ihrer Handtasche, nahm ihr Handy hervor und wählte eine Nummer. „Hallo Cornelia“, kam es vom anderen Ende der Leitung. Es tat ihr gut, Retos vertraute Stimme zu hören.
„Ich habe das Arbeitszeugnis erhalten! Es ist schlecht. So finde ich nie eine neue Stelle!“
Erneut kullerten Tränen über ihr Gesicht.
„Ich habe noch einen Termin im Büro, doch in einer halben Stunde kann ich bei dir sein. Bist du im Stadtpark?“
„Ja. Danke, dass du kommst.“
Sie legte das Handy weg und wischte sich mit dem Taschentuch die Tränen weg. Dann sah sie auf und blickte direkt in das liebevolle Gesicht einer älteren, weisshaarigen Frau. „Wer wird denn an einem solch strahlenden Tag so traurig sein“, sagte diese mit einer lieblichen Stimme.
„Ich habe heute meinen letzten Arbeitstag“, erklärte Cornelia und deutete dabei mit einer Kopfbewegung zum Arbeitszeugnis, das offen neben ihr auf der Bank lag. Sie sprach weiter und die ältere Frau hörte ihr einfach zu.
„Ich arbeite seit sechs Jahren dort in der Firma über der Strasse und bis vor elf Monaten war alles genial. Ich hatte einen tollen Chef, ein motiviertes Team, tolle Aufgaben und erreichte gute Resultate. Ich freute mich jeden Tag auf meine Arbeit, ging gerne in die Ferien und kehrte danach auch wieder gerne an meinen Arbeitsplatz zurück. Es war meine Traumstelle! Doch mit dem neuen Chef wurde alles anders. Das Team, dessen Leiterin ich war, wurde vergrössert und neue Aufgaben kamen auf uns zu. Von da an begannen auch meine Probleme. Erst unmerklich…“
Auf einmal hielt sie inne und schaute die ältere Frau mit grossen Augen an, als hätte ein Gedankenblitz sie getroffen.
„Aber was erzähle ich Ihnen das alles.“
„Reden Sie ruhig weiter. Ich höre Ihnen gerne zu und ich glaube, Ihnen tut es auch gut, darüber zu sprechen.“
Cornelia lächelte leicht und sagte: „In der Tat, es tut gut! Danke, dass Sie mir zuhören. Nun, bald merkte ich, dass in meinem Team zwei Personen gegen mich arbeiteten. Da war es allerdings fast schon zu spät. Ich wusste damals nicht, was ich tun sollte. So ging ich zu meinem Chef. Das war allerdings ein Fehler. Statt mich zu unterstützen, sagte er nur, dass es schon gut kommen würde. Das Gegenteil jedoch war der Fall. Um Fehler zu vermeiden und zu korrigieren kam ich am Morgen früher und blieb am Abend länger. Ich spürte, wie das mit der Zeit an meine Substanz ging. Ich hielt den Druck und die Situation im Team nicht mehr aus. Es ging so weit, dass ich bereits am Sonntagnachmittag kaum mehransprechbar war, weil der Montagmorgen unweigerlich näher rückte. Und so habe ich schliesslich gekündigt.“
Die ältere Frau schaute Cornelia an, umfasste ihre Hände und drückte sie einen Moment lang ganz fest. Sie murmelte etwas und liess sie wieder los. Danach schaute sie ihr in die Augen, verabschiedete sich herzlich und ging ihres Weges.
Cornelia schaute ihr dankbar nach. Es hatte ihr gut getan, jemandem ihren Kummer mitzuteilen.