Читать книгу Janowitz - Rolf Schneider - Страница 12

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Sie waren eine halbe Stunde im Park unterwegs gewesen. Der Dichter schien erschöpft, offenbar hatten ihn sein Prag-Aufenthalt und die anschließende Fahrt nach Janowitz angestrengt. Auf den Wegen zwischen den Blumenrabatten hatte er Sidonies Hand ergriffen, um sie nicht mehr freizugeben, die seine war sonderbar kraftlos und etwas feucht. Sidonie fand die Berührung zudringlich, was ihr gleichwohl gefiel, sie zog ihre Hand nicht zurück.

Unter der Tür sagte Rilke, er wolle sich jetzt auf sein Zimmer begeben, um einen Brief zu vollenden. Der Brief, sagte er, gehe an Clara Westhoff, seine Frau.

Ah, sagte Sidonie, Sie sind noch verheiratet? Wollten Sie sich nicht scheiden lassen?

Es ergab sich nicht, sagte er. Ich fühle Verpflichtungen. Auch wegen Ruth, unserer Tochter. Sie wissen, wie hochbegabt Clara ist, denken Sie nur an die schöne Büste, die sie von Ihnen geschaffen hat. Sie ist eine Künstlerin durch und durch. Leider sehe ich die beiden zu selten, Clara und Ruth. Clara hat Verständnis dafür. Sie weiß, ich besitze unstete Nerven. Immerfort treiben mich Schmerzen, Neugierde, Unruhe, Sehnsüchte, auch Frauen. Sie treiben mich hierher. Wie kann ich zugleich bei Clara sein und bei Ihnen?

Hier sind Sie jedenfalls stets willkommen.

Er lächelte matt. Er liebkoste ihre Hand, verbeugte sich etwas und wandte sich der Treppe zu. Sie suchte sich einen Korbsessel und setzte sich neben ein Fenster. Sie griff nach dem Roman, den sie sich jüngst hatte schicken lassen, »The Man of Property« von John Galsworthy, der Autor, hatte sie gelesen, galt in Großbritannien als ein bedeutendes Talent. Sie blätterte in dem Buch, las ein paar Sätze und ließ es sinken.

Die Porträtbüste, die Rilkes Frau von ihr verfertigt hatte, war in Paris entstanden, auf Rilkes Drängen hin. Clara Westhoff war eine kräftige Frau mit vorspringendem Kinn, großen Händen und tiefer Stimme, der Dichter wirkte zierlich und unscheinbar neben ihr. Sidonie dachte an die Sitzungen im Atelier der Bildhauerin, die über viele Stunden gingen und in denen sie sich möglichst wenig bewegen sollte. So wie zuvor auch bei Max Švabinsky. Die Erinnerung an den Maler war nicht sehr angenehm. Er hatte ihr geschmeichelt, er hatte ihr geschrieben, er war zu Besuch nach Janowitz gekommen, zusammen mit einer ältlichen Person, die seine Ehefrau war. Er hatte von Sidonie Skizzen angefertigt, anschließend das große Porträt begonnen und sie berührt, flüchtig zunächst, dann intensiver, immer wieder, was ihr anfangs peinlich gewesen war, ehe es sie zu schmeicheln begann. Schließlich wurde sie seine Geliebte.

Für Švabinsky war es ein erotisches Abenteuer, deren er mehrere hatte. Vielleicht dachte er, dass sie es ähnlich nahm, aber sie nahm es nicht so, vielmehr brachte sie in die Beziehung ein hohes Maß an Gefühl, Zuneigung und Anhänglichkeit ein. Sie legte sich eine Wohnung zu in Prag. Sie traf den Geliebten heimlich, Švabinsky, ein verheirateter Mann, hatte bei der gutbürgerlichen Gesellschaft Prags, in der und von der er lebte, auf seinen Ruf zu achten. Die Sache ging über eine längere Zeit, bis Švabinsky erkennen ließ, dass er die Affäre zu beenden gedachte, da er dabei war, eine neue Beziehung einzugehen, die zu seiner Schwägerin Anna Vejrychová.

Bei Sidonie hinterließ das alles eine tiefe Erschütterung. Sie fühlte sich hilflos. Sie fühlte sich gedemütigt und missbraucht. War sie wirklich missbraucht worden? Sie hatte in die Affäre eingewilligt. Sie hatte es getan, ohne zu bedenken, ob die Sache beständig sein könne. Die Verbindung einer jungen Aristokratin mit einem Künstler von eher zweifelhaftem Ruf hätte, öffentlich geworden, als gesellschaftlicher Regelverstoß gegolten. Das hätte sie gerne ausgehalten. Sie war belesen genug, um die konservativen Moralvorstellungen ihres Milieus nicht zu teilen, in einer der alten Zeitschriften, die ihr Bruder Johannes mitgebracht hatte, fand sie diesen Satz: Eine je stärkere Persönlichkeit die Frau ist, desto leichter trägt sie die Bürde ihrer Erlebnisse. Hochmut kommt nach dem Fall.

Übrigens war es Johannes gewesen, der den Kontakt zwischen ihr und Švabinsky hergestellt hatte, da er die Bilder des Malers schätzte, die persönliche Begegnung mit diesem gesucht und ihm dann den Auftrag für ein Porträtbildnis seiner Schwester Sidonie erteilt hatte.

Sidonie stürzte sich in eine Italienreise. Mailand, Genua, Siena, Venedig, Florenz. Alte Gebäude, Denkmäler, Museen, Natur. In Mailand begann sie eine Affäre mit einem jungen italienischen Advokaten, auch er verheiratet, damit wollte sie die quälenden Erinnerungen an Švabinsky betäuben, was ihr leidlich gelang. Sie kehrte nach Böhmen zurück und nach Janowitz. Im Schloss hing als unübersehbare Gedächtnisstütze das große Gemälde, das Max Švabinsky von ihr angefertigt hatte. In ihr Tagebuch notierte sie die Idee, dass die schönste erquicklichste Liebe allein jene sei, die dem Temperament folge, nicht dem Herzen. Fortan wollte sie für die Liebe ihre Freiheit nicht aufgeben und ebenso wenig die Liebe für die Freiheit.

In der Zeitschrift, die ihr Bruder Johannes zurückgelassen hatte, stand noch dieser Satz: Die Dummheit einer ganzen Welt stellt sich das Geschlechtsleben als eine Sache der Einteilung oder als die geradlinige Resultante ethischer Entschließungen vor. Der Satz entsprach völlig ihrer nunmehrigen Überzeugung. In einem anderen Heft las sie einen mit »Die Frauen« überschriebenen Vierzeiler:

Ob sündig oder sittenrein?

Lasst sie doch lieber gleich begraben!

Ich teile sie in Gefallene ein

Und solche, die nicht gefallen haben.

Es waren dies die ersten Male, dass sie mit der »Fackel« von Karl Kraus in Berührung kam.

Janowitz

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