Читать книгу Janowitz - Rolf Schneider - Страница 14
ОглавлениеKarl von Nádherný, von Angehörigen und Freunden Charlie gerufen, begab sich, als seine Schwester den Dichter Rilke in ihr Automobil gesetzt hatte, um ihn nach Beneschau zu fahren, in sein Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch häuften sich Unterlagen und Akten. Seine Aufgabe war es, sämtliche wirtschaftlichen Entscheidungen der Domäne zu fällen und zu überwachen, das betraf Äcker, Weiden, Gebäude, Teiche, Viehbesitz, Ernteerträge, Fischfänge, Einkäufe, Fahrzeuge, Maschinen, Pachten und Löhne. Sidonie war an Ökonomie nicht interessiert und verließ sich dabei völlig auf ihren Bruder. Nach dem Tode des Vaters hatte zunächst sein Bruder Johannes die Verwaltung übernommen. Charlie hatte ihm bloß dabei geholfen. Johannes hatte auch den Einfall gehabt, zusätzliches Land einschließlich zweier Siedlungen zu kaufen, bezahlt aus einer auf die Familie gekommenen Erbschaft. Die Nádhernýs rückten damit zu einem der größten agrarischen Unternehmer der Region auf.
Johannes war tot. Er war der Liebling der Mutter gewesen, und ebenso hatte Sidonie sich entschiedener an Johannes angeschlossen als an ihn, Charlie, den das etwas kränkte und der sich auch sonst von der Familie zurückgesetzt fühlte.
Johannes hatte sich vor einem Jahr umgebracht. Über seine Gründe wurde ungern gesprochen, meist war von Schwermut die Rede. Gesund war Johannes schon länger nicht gewesen, er war abgemagert, hatte sich eine schwere Gelenkverletzung zugezogen und war depressiv, doch zeigte er sich dann auch wieder überraschend fröhlich und genesen. In etlichen renommierten Sanatorien hatte er Kuren angetreten, die ihm zu helfen schienen.
Johannes war liebenswürdig. Die Leute mochten ihn. Er war umfassend interessiert, las viel, besuchte Kunstausstellungen, sammelte Bilder und Möbel, an der Prager Universität hatte er Philosophie belegt. Die intime Beziehung zu seiner Schwester änderte sich, als Sidonie ihre wechselvolle Liebesbeziehung mit dem Kunstmaler Švabinsky begann, von der niemand erfahren sollte und von der die gesamte Familie gleichwohl wusste. Johannes seinerseits fasste eine leidenschaftliche Neigung zu Niny Mladota, seiner Jugendfreundin aus dem Nachbarschloss Červeny Hrádek, der er Liebesbriefe schrieb und die seine Gefühle leider nicht erwiderte. Er tröstete sich damit, dass er in Prager Bordellen verkehrte, wo er sich gleich zwei Krankheiten einfing, Gonorrhoe und Lues. Davon sollte niemand erfahren, und die gesamte Familie wusste es gleichwohl. Johannes ließ sich behandeln. Die Therapie schien anzuschlagen, aber dies war nicht von Dauer. Schwarz wie der Himmel stehe vor ihm die Welt, schrieb er in einer Notiz. Am 28. Mai 1913 nahm er sich in München das Leben.
Sidonie war unterwegs, als es geschah. Sie hatte mit May-May, ihrer Vertrauten, eine längere Reise angetreten, nach Livorno, Neapel, Sizilien und schließlich, auf einem Schiff, nach Tunesien. Als der Selbstmord geschah, befand sie sich in Paris, wo die Frau des Schriftstellers Rilke eine Porträtbüste von ihr anfertigte. Die Nachricht vom Tod ihres geliebten Bruders, wusste Charlie, erschütterte sie zutiefst. Sie war verzweifelt. Sie gab sich eine Mitschuld, da sie sich zuletzt mit Johannes mehrmals gestritten hatte. Rilke wusste sie aufs Einfühlsamste zu trösten, mit langen Briefen, die sie Charlie zu lesen gab, schon weil darin regelmäßig Grüße an ihn standen. Rilke schickte immer wieder Briefe nach Janowitz.
Er, Charlie, hatte den sonderbaren Dichter eigentlich gern. Die von ihm gemachten Verse verstand er nicht, aber der Mensch gefiel ihm, und die Eigentümlichkeiten, die Rilke an den Tag legte, fand er putzig. Rilke machte seiner Schwester den Hof, was ihr guttat, da sie es zu genießen schien, immer waren es abwechslungsreiche Tage und Abende, wenn Rilke, wie eben jetzt wieder, sich in Janowitz zu Besuch aufhielt. Auch sonst sorgte Sidonie dafür, dass Gäste kamen, es gab Gespräche, es gab Musik, sie spielte auf dem Flügel, Stücke von Frédéric Chopin, den sie sehr mochte.
Draußen hielt ein Automobil. Offenbar waren Sidonie und Rilke aus Beneschau zurückgekehrt. Charlie verließ sein Arbeitszimmer. Es war, sah er dann, nicht Sidonies Wagen, der angekommen war, vielmehr ein anderes Fahrzeug. Der Mann, der ihm entstieg, war der Schriftsteller Karl Kraus aus Wien.