Читать книгу Janowitz - Rolf Schneider - Страница 16
ОглавлениеAm Abend, nach dem Diner, setzte sich Sidonie an den Flügel und begann zu spielen, eine Valse von Frédéric Chopin. Karl Kraus hatte sie darum gebeten. Sie spielte, so empfand es Rilke, ziemlich gut, wiewohl nicht annähernd so perfekt wie Magda von Hattingberg. Die hatte ihn mit Beethoven verwöhnt, immer wieder, die Sonaten Beethovens wurden für ihn ein Auftakt zu körperlicher Umarmung und Liebe. Verglichen damit erschien ihm Chopin als wohlklingendes Geklimper. Freilich war es, dass er, was er wusste, mit Musik nicht so gut umgehen konnte wie mit Bildender Kunst, von der er vieles kannte und wusste, zu schweigen von der schönen Literatur, in der er, wie viele ihm nachrühmten und was er ihnen gerne glaubte, eine Art gottgleicher Herrscher war.
Er saß wenige Schritte von Kraus entfernt, in dessen scharfkantigem Gesicht Sidonies Spiel einen Ausdruck vollkommener Hingebung erzeugte. Die Beziehung zwischen dem Kritiker und der Baronesse beschäftigte ihn. Gewöhnlich gingen die beiden recht förmlich miteinander um, einmal jedoch, es war dies am späten Nachmittag gewesen, die beiden wähnten sich wohl allein, vernahm Rilke ein Gespräch zwischen den beiden.
Sidonie flüsterte: Sei leise. Ich bitte dich.
Kraus fragte: Warum?
Man könnte dich hören.
Soll man doch. Sowieso werden es bald alle erfahren.
War also die Förmlichkeit zwischen den beiden bloß vorgeschoben? War sie inszeniert, um die wahre Natur ihrer Beziehung zu verbergen? Wie aber standen sie wirklich zueinander? Welche Intimität herrschte zwischen ihnen? Hatten sie ein sexuelles Verhältnis? Der Gedanke daran beunruhigte Rilke.
Kraus war zwei Jahre älter als er. In der Größe glichen sie einander, mit schöner Literatur hatten sie beide zu tun. Rilke erinnerte sich eines Textes in der »Fackel«, darin es hieß, er, Rilke, habe einen Weg erfahren zwischen sich und der Welt, und durch die vielen Wände des Bewusstseins hindurch, auch durch sie filtriert, sei Gott in seine Welt gestiegen. Das war mehr als schmeichelhaft. Es ging um das »Stundenbuch«, das Kraus in der Nachfolge des großen Angelus Silesius sah. Auch das war mehr als schmeichelhaft. Rilke hatte daraufhin der »Fackel« einen eigenen Prosatext angeboten, es ging darin um Franz Werfel, der, wie er selbst, aus Prag stammte und dessen Verse er ausführlich lobte, Kraus hatte seinerseits Werfel abgedruckt, was als ein Sympathiebeweis gelten musste. Leider hatte Rilke übersehen, dass der Lyriker bei Kraus inzwischen in Ungnade gefallen war: Er sei ein Kindheitsvirtuos, der in Prag alle befruchte, sodass dort die Lyriker sich vermehrten wie Bisamratten. Nun war es nicht so, dass Rilke eine unbedingte Begeisterung für Werfels Gedichte spürte. Werfel war nichts als ein kleiner dicker Jude aus Prag. Jedenfalls wurde Rilkes Text in der »Fackel« nicht abgedruckt und auch nicht retourniert.
Die Chopin-Valse war zu Ende. Kraus klatschte enthusiastisch, was durch Rilke eine höfliche Ergänzung erfuhr. Charlie und Mary Cooney taten es ihm gleich. Sidonie nickte und sagte, sie wolle jetzt eine Nocturne spielen, wiederum von Chopin.
Rilke empfand die Anwesenheit von Kraus als eine lästige Störung, da er selbst es gewohnt war, im gesellschaftlichen Mittelpunkt allein zu stehen. Kraus beanspruchte das Interesse der anderen durch seine bloße Anwesenheit. Die Art, wie er redete und sich im Schloss bewegte, ließ zudem erkennen, dass er mit Janowitz vertraut war, sich also häufig hier aufhielt, jedenfalls häufiger als Rilke.
Beim Diner vorhin, Rilke aß einen Salat aus Rucola und Schafskäse, dazu Weißbrot, während den anderen am Tisch Räucherfisch, kalter Braten nebst Schinken serviert wurde, hatte Kraus das Gespräch dominiert.
Irgendwann hatte Rilke ihn gefragt: Äußern Sie immerfort nur die boshaftesten Bemerkungen?
Die Antwort von Kraus war: Ich bin berühmt dafür.
Worauf Sidonie ausführlich zu lachen anfing, was Rilke kränkte.
Während er jetzt dem Vortrag der Nocturne lauschte, dachte er darüber nach, ob es vielleicht angebracht wäre, dass er baldmöglichst aus Janowitz abreiste. Dann dachte er an seine Zahnbehandlung, die noch nicht abgeschlossen war. Er griff an seine linke Wange. Die Schwellung war fühlbar zurückgegangen. Seine Zunge betastete das von Václav Poláček in seinen Molar gebohrte Loch, das demnächst mit einer Goldplombe gefüllt werden sollte. Bis dahin würde er in Janowitz zu bleiben haben. Außerdem wäre die vorzeitige Abreise das Eingeständnis einer Niederlage, was ihm sein Selbstbewusstsein verbot.
Die Nocturne klang aus. Das Ritual des Beifalls wiederholte sich. Sidonie erhob sich von ihrem Klavierschemel, lächelte verlegen und deutete eine Verbeugung an. Sie trug ein Kleid mit weitem Ausschnitt, ähnlich jenem, das sie auf dem großen Gemälde mit ihrem Porträtbildnis trug, das Ding hing im Treppenhaus des Schlosses. Rilke bedachte, dass seine vorzeitige Abreise auch ein Verzicht auf die Nähe der schönen Baronesse bedeuten würde, und das mochte er sich keinesfalls antun.