Читать книгу Janowitz - Rolf Schneider - Страница 13

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In seinem Zimmer legte Rilke den begonnenen Brief an seine Ehefrau Clara beiseite, da er zunächst an Lou Andreas-Salomé schreiben wollte. Warum wollte er dies? Lou war seine erste leidenschaftliche Liebesbeziehung gewesen, sie hatte ihn gehalten, geführt, aufgehoben und plötzlich fallen gelassen, den tiefen Schmerz darüber fühlte er immer noch. Er schrieb ihr Briefe. Er schrieb ihr alles, was ihn bewegte, wo er sich befand, wen er traf, was und wen er liebte, wie er sich fühlte, worunter er litt. Worunter litt er derzeit? Es waren so banale, doch auch existentielle Dinge wie seine Finanzen. Er hatte nicht genügend Geld. Er unterhielt eine kostspielige Bleibe in Paris, er war häufig unterwegs und wohnte, wenn er bei keiner seiner aristokratischen Freundinnen nächtigte, in hochfeinen, also teuren Hotels. Das Unterwegssein war ihm Bedürfnis und war ebenso Flucht: vor sich selber, vor seinen Liebschaften, vor der Welt. Ich bin wie die kleine Anemone, die ich einmal in Rom im Garten gesehen habe, sie war tagsüber so weit aufgegangen, dass sie sich zur Nacht nicht mehr schließen konnte. Es war furchtbar, sie zu sehen in der dunkeln Wiese, weit offen, immer noch aufnehmend in den wie rasend aufgerissenen Kelch, mit der vielzuvielen Nacht über sich, die nicht alle wurde.

In diesem Augenblick durchfuhr ihn ein Schmerz. Betroffen war wieder der rechte Unterkiefer, also jener Zahn, dessen scharfe Kante er mit seiner Zunge erspüren konnte. Das letzte Mal hatte ihn diese Beschwernis gestern ereilt, bei der Bahnfahrt von Prag nach Beneschau, der Schmerz hatte bald nachgelassen und sich dann ganz verflüchtigt, dass er nicht mehr daran denken musste. Was sollte er jetzt tun? Einst hatte ihm seine Mutter beigebracht, Zahnschmerzen zu betäuben, indem man eine Gewürznelke in die kariöse Öffnung tat. Wie sollte er hier, in Janowitz, zu einer Gewürznelke gelangen? Sollte er hinuntergehen in die Schlossküche und das Dienstpersonal fragen? Wie hieß Gewürznelke auf Tschechisch? Hastig durchkramte er seine Unterlagen, fand das Röhrchen mit dem Aspirin, nahm eine der Tabletten und schluckte sie, nachdem zuvor sich genügend Speichel in seiner Mundhöhle gesammelt hatte.

Er unterließ es auch, jetzt an Lou zu schreiben. Briefe an die einstige Geliebte waren keine den äußeren Umständen geschuldete Notwendigkeit, sie waren ein eingeübter Reflex. Er dachte an die derzeit letzte seiner Freundinnen, vor der er geflohen war, auch hierher nach Janowitz, zu der schönen Baronesse Sidonie. Magda hatte um seinetwillen auf Konzerte verzichtet, sie hing an ihm, sie hing ihm an, er war mit ihr durch halb Europa gereist, Berlin, Innsbruck, Genf, die Lombardei, Venetien, in Paris kam es, bei einem Opernbesuch, zu der unvorhergesehenen und überaus peinlichen Begegnung mit einer seiner früheren Geliebten, der hemmungslosen Marthe Hennebert. Die war, als er erstmals mit ihr schlief, noch minderjährig gewesen. Bei Bekannten, auch bei Sidonie, hatte er damals um Geld gebettelt, das Marthe zugutekommen sollte. Nunmehr, in Begleitung von Magda, traf er sie wieder, unter der pompösen Stuckdecke des Palais Garnier.

Die Aspirin-Tablette schien zu wirken. Der Schmerz in seinem Unterkiefer ließ etwas nach. Er atmete auf.

Seine Verbindung zu Magda hatte mit inständigen Briefen begonnen, die sie ihm schrieb, adressiert an seinen Leipziger Verlag, der die Schreiben an ihn weiterreichte. Er antwortete ihr umgehend, die Korrespondenz wurde lebhaft, er nannte sie Benvenuta. Schließlich trafen sie sich, in einem Berliner Hotelzimmer, und kamen voneinander nicht los. Sie spielte für ihn, Beethoven, Bach, Scarlatti, er besuchte mit ihr die Prinzessin Marie von Thurn und Taxis, seine Gönnerin, der Magda offensichtlich gefiel, und wieder einmal fasste er den Plan, sich von Clara scheiden zu lassen, damit er Magda heiraten konnte. Benvenuta, liebes, liebes Herz – bist du nicht in Wahrheit meine jungfräuliche Mutter, mein Kind, mein liebes, liebes Mädchen? Du, mit deinem goldenen Panzer, an dem alles Unechte und Verdorbene zerschellen muss! Du wirst, du musst nicht anders können, Benvenuta, als diese reine Erhebung meines Gemütes zu dir, diese Andacht meiner Natur zu fühlen, wo du auch seist.

Der Schmerz in seinem Unterkiefer war schwächer geworden, doch nicht gänzlich vergangen. Sollte er eine weitere Aspirin-Tablette schlucken? Er stellte sich vor den Spiegel, der über dem Lavoir hing, und besah sein Abbild. Der linke Unterkiefer war angeschwollen, die Schwellung war nicht auffällig, doch unübersehbar. Er musste etwas unternehmen. Er kannte einen Zahnarzt, dem er völlig vertraute, der aber in Berlin saß, und wie sollte er auf die Schnelle von Janowitz nach Berlin gelangen? Er verließ sein Zimmer, ging die Treppe hinab, suchte nach Sidonie und traf sie, sitzend in einem Korbsessel und vertieft in ein Buch. Wie zufällig verdeckte er das Kinn mit der Hand. So vertraute er sich Sidonie an. Die Angelegenheit war ihm peinlich.

Sidonie nickte. Sie stand auf und ging, um zu telefonieren. Als sie zurückkam, sagte sie, dass sie einen Termin vereinbart habe.

Sie setzte Rilke in ihr Automobil und brachte ihn nach Beneschau. Während der Fahrt dorthin kehrten die Schmerzen mit Heftigkeit zurück. Er betastete die Schwellung. Sie schien größer geworden, die Haut darüber fühlte sich taub an. Entstellte ihn die Schwellung? Machte sie ihn hässlich? Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, ich war schwer von Schweiß, und es kreiste ein betäubender Schmerz in mir, als ob in meinem Blute etwas zu Großes mittriebe, das die Adern ausdehnte, wohin es kam. So stand es in seinem Roman.

Sidonie brachte ihn in die Praxis des Zahnarztes Václav Poláček, eines jungen Menschen mit breiten Schultern und muskulösen Armen. Rilke setzte sich in den Behandlungsstuhl und öffnete seinen Mund. Sidonie wartete in einem Nebenraum. Poláček injizierte ein Betäubungsmittel, dann warf er, als die Betäubung eingetreten war, seinen Bohrer an. Rilke schloss die Augen. Er vernahm das schreckliche Bohrgeräusch und fühlte es in seinem Schädel. Als er die Augen wieder öffnete, sah er nah über sich das großporige Gesicht des Arztes, der einen rötlichen Schnurrbart trug. An der Wand stand, auf einem Regal, eine Vase mit verblühenden Pfingstrosen, darüber hing ein Kruzifixus. War Poláček nicht vielmehr ein jüdischer Name? Waren die Eltern des Arztes vielleicht rechtzeitig konvertiert, dass sie ihr Kind nach dem heiligen Wenzel benennen konnten?

Der Zahnarzt setzte den Bohrer ab. In fast akzentfreiem Deutsch sagte er, dass er Rilke eine Goldplombe einsetzen wolle. Die Rechnung dafür, wusste Rilke, würde Sidonie begleichen.

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