Читать книгу Bombennacht - Roman Rausch - Страница 10

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8:00 Uhr

Am Busbahnhof

Es war eine Befreiung, als Julius aus der dunklen und kühlen Kirche von St. Joseph an die frische Luft trat. Die Sonne stand hoch am blauen Himmel. Er blinzelte dagegen an, ließ die Strahlen seine Haut wärmen und sein Gemüt nach einem Abenteuer wachsen. Unten am Main würden Schiffe und Boote ankern, Fischer und Matrosen von ihrem Fang und fremden Ländern berichten, Handel treiben und wieder auf große Fahrt gehen. Eines Tages würde er zu ihnen gehören, zu den Eroberern und Entdeckern, zu den Jägern und Abenteurern. Wozu brauchte er noch die Schule? Rechnen und Lesen ? Auswendiglernen und Gehorsam üben ? Nur auf einem Schiff würde er lernen, was man wirklich brauchte, um den Horizont zu bereisen: Segel setzen, das Steuerrad drehen, Fische aus Flüssen und Ozeanen holen, verschollene Piratenschätze heben. Und ein Buch schreiben, eines, das um die Welt ging und in jeder Bibliothek und auf jedem Nachtschränkchen liegen würde. Titel: Die Abenteuer des furchtlosen Matrosen Julius auf großer Fahrt, mit einem Bild von ihm am Steuerrad in sturmdurchpeitschter Nacht, die Wellen hoch wie ein Gebirge, die Verzweiflung in den weit aufgerissenen Augen seiner Mannschaft, und der Klabautermann in den Rahen – der irre Freudentanz eines Todesengels.

Das war es, was er wollte. Frau Schubert, seine Lehrerin, musste heute auf ihn verzichten. Wenn er das Buch fertig geschrieben hatte, würde er ihr ein Exemplar mit Widmung zukommen lassen. Von der goldenen Küste Trinidads grüßt Sie Julius.

Sein Weg führte ihn über die Grombühler Brücke, vorbei an der zerbombten Zoll- und Güterhalle aus den letzten Februartagen, als englische Flieger den Bahnhof und Teile Grombühls ins Visier genommen hatten. Auch der Hauger-Ring und die Neutorstraße waren getroffen worden. Insgesamt hatte es 178 Würzburgern das Leben gekostet.

Der dünne grüne Streifen des Haugerglacis war nun bevölkert von allen möglichen Fremden, überwiegend Ausgebombten und Flüchtlingen aus den östlichen Gebieten, die in Würzburg Schutz und Aufnahme suchten. Die Strapazen der langen Reise waren ihnen ins Gesicht geschrieben. Hunger und Durst plagten die abgemagerten Gestalten in ihrer schmutzigen, teils zerrissenen Kleidung. Erschöpfung und Krankheit allerorten, der leere Blick erlebten Leids, der Verfolgung und des Verlusts machte betroffen. Besser, er ging schnell weiter.

Aber da gab es auch zufriedene Gesichter, welche, die all dem Leid um sie herum trotzten, die Hoffnung ausstrahlten, endlich in der gelobten Stadt zur Ruhe zu kommen, die wie durch ein Wunder vom Terror des Feindes verschont worden war. Das war ein Zeichen des Allmächtigen, der seine schützende Hand über diese Stadt hielt, während das übrige Reich im Bombenhagel versank.

Der Bahnhof gehörte augenscheinlich nicht dazu. Die Gleise und das Gebäude waren einem Angriff der Tommys zum Opfer gefallen, seit Wochen verkehrte kein Zug mehr mit dem Rest der Welt. Dennoch war der Infarkt ausgeblieben. Was nicht mehr über die Schiene nach Würzburg kam, wurde nun in Bussen, Transportern und Lastern herangekarrt. Seit dem frühen Morgen drängte, schob und knatterte es auf den Zufahrtsstraßen. Dieselschwaden hingen schwer in der Luft, jeder war in Eile, seine Fracht loszuwerden, Passagiere und leere Kisten mitzunehmen.

Julius tanzte unbeschwert zwischen den Stoßstangen hindurch, warf mitunter einen sehnsüchtigen Blick auf die Ladeflächen, wo Kisten mit Lebensmitteln gestapelt waren. Sein Magen knurrte, und doch musste er sich noch Stunden gedulden, bis es Mittagessen gab. Das ohrenbetäubende Hupen der Lastkraftwagen befahl ihm schneller zu gehen, gefolgt von den Flüchen der übernächtigten Fahrer. Er hatte den Autokorso beinahe hinter sich gebracht, als ihn zwischen zwei Stoßstangen der Anblick eines verletzten Soldaten erschreckte. Dessen Verbände um Bauch, Arm und Schulter waren blutdurchtränkt, das Gesicht von Schmerzen verzerrt, er schrie nach einer Schwester und einem Arzt, und seine Kameraden konnten ihn kaum damit beruhigen, dass sie endlich in Würzburg angekommen waren, wo ein Bett und Schmerzmittel auf ihn warteten.

„Geh weiter, Junge“, sagte eine Stimme hinter ihm, „das brauchst du nicht zu sehen.“

Der hochgewachsene Mann steckte in einer Uniform der SS, so viel erkannte Julius am Kragenspiegel. Er war unrasiert, die blonden Haare zu lang und ungekämmt, die Jacke nur halb zugeknöpft. Die schweren Stiefel strotzten vor Dreck. Wenn ihn so ein höherer Offizier sah, würde es ein Donnerwetter geben. Doch ihm schien es egal zu sein.

„Sag, stehen die Häuser oben am Leutfresserweg noch?“ Sein Blick war müde, die Stimme rau. Er dirigierte Julius hinüber zum Kiliansbrunnen, wo es sich leichter reden ließ.

„Ja“, antwortete Julius. „Es gab nur Bomben auf den Bahnhof und in Grombühl.“

Beim Wort Grombühl weiteten sich die Augen des Fremden ein Stück. „Steht die Nervenklinik noch?“, fragte er. „Hat keinen Kratzer abbekommen“, antwortete Julius.

Ein kurzes, schiefes Lächeln, dann ein Seufzen. „Glück gehabt.“

„In der Schiestlstraße hat es aber gekracht und in der Rimparer, auch in der Stadt in der Domstraße …“

„Viele Tote?“

„Einige.“

„Friede ihren Seelen.“ Er griff in seine Jackentasche, holte eine zerknautschte Schachtel mit Zigaretten hervor, bot sie ihm an.

„Auch eine?“

„Nein, danke, ich rauche nicht.“

„Du kannst sie gegen Schokolade eintauschen.“

Das war eine andere Sache. Julius zog sich eine und ließ sie in der Hosentasche verschwinden.

„Danke.“

Der Mann zündete sich eine an, inhalierte tief und schaute sich um. „Solltest du nicht in der Schule sein?“

Julius errötete. „Eigentlich schon, aber der Tag ist zu schön.“

„Eine gute Entscheidung. Leb jede Stunde, als wärs deine letzte.“

So viel Verständnis hatte Julius nicht erwartet. „Wie heißen Sie?“

„German.“

„Würzburger?“

Der Mann nickte und blies eine weiße Wolke Rauch in den blauen Himmel. „Und du?“

„Julius aus Grombühl.“

„Freut mich.“ Er hielt ihm auffordernd die Hand hin, Julius nahm sie und schüttelte sie. „Nun sag mir, Julius, treibt sich SS hier am Bahnhof herum?“

War das ein Test? Die SS überwachte das ganze Treiben am Bahnhof. Was er vermutlich meinte, war, wie er ungesehen an ihr vorbeikam.

„Wo müssen Sie denn hin?“, fragte Julius.

„Kleßbergsteige, drüben am Leutfresserweg.“

Das war ein weiter Weg, und dann noch unerkannt durch diesen Trubel zu kommen, war schwierig. Aber Julius hatte eine Idee. „Wenn Sie mir Ihre Uniformjacke geben, kann ich sie für Sie tragen.“

„Was hast du damit vor?“

„Sagen wir, ich bin Ihr Bursche, der sie zum Waschhaus bringt.“

German schmunzelte. „Keine schlechte Idee.“ Er zog sie aus und reichte sie Julius. „Du hast dir ein anständiges Trinkgeld verdient, wenn wir es bis nach Hause schaffen.“

Ein paar Wagen vor ihnen entließ eine Frau ihren Fahrgast mit einem besorgten Rat.

„Pass gut auf dich auf.“

Das Mädchen war leicht angezogen mit einem dünnen, knielangen Kleid, geblümt, ehemals weiß, jetzt speckig grau. Es trug abgewetzte, löchrige Hausschuhe, als käme sie gerade aus dem Wohnzimmer. Ihr schulterlanges braunes Haar war ungepflegt, so wie ihre ganze Erscheinung. Sie mochte sechzehn Jahre alt sein, ihrem Verhalten nach war sie aber eher ein Kleinkind. Die Fahrerin musste sich zu ihr hinüberbeugen, um ihr die Tür zu öffnen.

„Mach’s gut, und ich hoffe, du findest, wonach du suchst.“ Ohne ein Wort des Danks stieg das Mädchen aus, in der Hand eine verfilzte Puppe, die sie wie eine kleine Schwester an die Brust drückte. Der Wagen fuhr los, sie blieb alleine zwischen den Fahrzeugen stehen, was nicht ohne Protest der anderen Fahrzeugführer blieb. Sie hupten und riefen ihr zu, doch sie blieb unbeeindruckt. Ihr Blick war starr nach vorne gerichtet, hinauf zum Schalksberg, der sich hinter dem Bahnhof erhob.

„Aus dem Weg!“

„Verschwinde.“

„Brauchst du Hilfe?“

Das Mädchen hörte nicht auf die Stimmen, ging einfach los, an den vielen Stoßstangen und qualmenden Auspuffrohren vorbei durch das Hauger Glacis, wo ihr fragende Blicke folgten, junge Männer etwas zuriefen … Aber auch hier: keine Regung. Sie schien wie in Trance zu sein, nahm nichts wahr, was sich um sie herum abspielte, kannte nur den Weg zur Grombühler Brücke, die sie zügig überquerte. Die Puppe in ihrer Hand war arg mitgenommen, ein Knopfauge fehlte, der Arm war halb abgerissen, die Füllung quoll hervor. Dafür waren die Zöpfe noch immer blond und die Kleidung, Rock, Kniestrümpfe und feste braune Schuhe, entsprachen ganz der Vorstellung des Nationalsozialismus.

Das Mädchen nahm die verwinkelten Straßen hinauf zur Nervenklinik, als wäre sie sie schon etliche Male gegangen, und je näher sie ihr kam, desto aufgeregter wurde sie, begann unablässig Zahlenkolonnen zu sprechen.

„Sechs, sechsdreißig, sieben, siebenfünfzehn, siebendreißig, siebenvierzig, acht …“

Die Passanten wunderten sich über dieses seltsame Geschöpf, manche blieben stehen und blickten ihr kopfschüttelnd nach, dann aber gingen sie weiter, kümmerten sich nicht mehr darum. Seitdem Würzburg von so vielen Fremden heimgesucht wurde, hielt sich ihr Erstaunen nur kurz. Ohnehin hatten sie mit ihren Verpflichtungen genug am Hut, da brauchte es nicht auch noch das Schicksal eines verwahrlosten Mädchens.

Die Nervenklinik rückte näher, Krankenwagen fuhren heran und wieder weg, im rückwärtigen Hof schufteten die Zwangsarbeiter, ein SS-Mann kommandierte sie lautstark. Das Mädchen bewegte sich zielsicher durch das geschäftige Treiben der Heilanstalt, vorbei an den Bauarbeitern und dem erstaunten SS-Mann, hinüber zu dem einen Fenster, von dem sie wusste, dass es zum Zimmer des Arztes gehörte, der sie und ihre Mutter seinerzeit untersucht hatte. Dort blieb sie stehen und zog die kleine Holztafel hervor, die ihr an einer Schnur um den Hals hing.

Darauf der Name, Apollonia, und eine kryptische Zahl.

Bombennacht

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