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Morton Hall
Über dem winzigen Dorf im Nordosten Englands ging die Sonne auf. Das Kaff lag inmitten unendlicher Wiesen und Weiden und schien von jeglicher Zivilisation abgeschnitten. Es gab zwar eine Durchfahrtsstraße, über die aber kaum ein Auto fuhr, dafür zahlreiche Scheunen für die Schafe und ein paar Wohnhäuser für die wenigen Einwohner. Noch nicht mal eine anständige Kneipe hatte sich in Morton Hall etablieren können, und das wollte ihm Land der Pubs etwas heißen, wo sich das soziale Miteinander am Tresen mit einem Pint in der Hand abspielte. Am Polarkreis war mehr geboten, und vermutlich war das einer der Gründe, wieso die sagenumwobene Bomberstaffel Nummer 5 der Royal Air Force dort ihren Stützpunkt hatte. Die Konzentration der Bomberbesatzungen sollte auf die Angriffsziele in Deutschland gerichtet sein und nicht auf das Lächeln einer Wirtstochter.
Im Gedächtnis vieler, insbesondere der Deutschen, befand sich in rund einhundert Kilometer Entfernung zu Morton Hall die Stadt Coventry. Im November 1940 hatte die deutsche Luftwaffe die Industrie- und Rüstungsstadt in Schutt und Asche gelegt, sechzigtausend Häuser waren dabei getroffen worden, sechshundert Menschen waren ums Leben gekommen. Im kriegsbegeisterten Deutschland hatte man von der flächendeckenden Zerstörung geschwärmt, dass man Coventry dem Erdboden gleichgemacht hatte. Im Rausch des Sieges hatte Propagandaminister Goebbels einen Geistesblitz: Für die totale Zerstörung kreierte er das neue Wort coventrisieren.
Ein ähnliches Schicksal wie Coventry hatte die spanische Stadt Guernica erlitten, in Holland Rotterdam und in Polen Warschau, bis das Pendel umgeschlagen war und viele deutsche Städte coventrisiert wurden – unter ihnen Hamburg, Köln, Braunschweig, Nürnberg und bis in den Februar 1945 die weithin vom Krieg verschonte Perle an der Elbe: die Lazarett- und Flüchtlingsstadt Dresden.
Nun war es Mitte März geworden und die Liste mit den zu zerstörenden deutschen Städten war von den englischen und amerikanischen Bomberstaffeln nahezu abgearbeitet. Was jetzt noch übrig war, hatte keine militärische Relevanz mehr, war aber in den Augen der englischen Politiker und Kriegsherren von entscheidender, kriegsverkürzender Bedeutung. Die Moral der Deutschen sollte mit Flächenbombardements auf die Innenstädte und Wohnbezirke gebrochen werden, so die Annahme, damit sie ihren Führer endlich zum Teufel jagten. Ob der Plan aufging, war fraglich. Schließlich beging man damit Massenmord an Zivilisten, was Rache an den Angreifern schürte, nicht die Ursache hinterfragte. Selbst unter den Besatzungen der Kampfbomber herrschten inzwischen Zweifel.
„Wir haben Dresden ausradiert“, sagte Henry, der Bordschütze, der eigentlich Heinrich hieß und dessen Familie aus Frankfurt stammte, „Köln, Braunschweig, Darmstadt und Heilbronn sind ein einziges Trümmerfeld, aber ich sehe keinen Aufstand der Krauts gegen ihren Führer.“ Der Kaffee in der Tasse dampfte, er schlürfte daran und schaute aus übernächtigten Augen sein Gegenüber, den Piloten William, an.
„Es ist nicht unsere Sache, einen Befehl zu hinterfragen“, antwortete William, der nicht weniger müde dreinschaute. In der vorangegangenen Nacht hatte er an der Lagebesprechung teilgenommen. „Erledige deinen Job, und alles fügt sich.“
Henry war nicht damit zufrieden. „Aber wir töten Tausende Unschuldige. Frauen, Kinder, Alte …“
„Nazis“, unterbrach William.
„Nicht alle.“
„Vermutlich. Aber hast du eine andere Lösung?“
Nein, hatte er nicht. „Wir sind nicht besser als die Nazis, wenn wir so weitermachen.“
„Sag das den Toten in London, Birmingham und Coventry. Diese verfluchten Teufel haben sich einen Dreck darum geschert, auf wen sie da ihre Bomben und V2 abgeworfen haben.“
„Ich weiß“, lenkte Henry ein.
„Dann vergiss das nicht“, antwortete William. „Wer Wind sät, wird Sturm ernten.“
Ein Ruf hallte durch die lange Kantinenhalle. Die Soldaten blickten auf.
„Zur Einsatzbesprechung antreten!“
William trank seinen Kaffee leer und erhob sich. „Ich kann mich doch auf dich verlassen?“, fragte er.
„Was meinst du?“, antwortete Henry.
„Heute Nacht, wenn wir wieder einen Angriff fliegen … Dann wirst du deinen Job richtig machen, hörst du?“
„Sicher. Warum nicht?“
Er schaute Henry missbilligend an. „Du hast deutsches Blut in dir.“
Henry drohte zu erröten. „Das hat der König auch.“
Nervenklinik
Es würde ein wunderschöner Tag werden, daran bestand kein Zweifel mehr. Die Sonne war über die Hügel gekrochen und flutete die Stadt im Tal mit farbenfrohem Licht. Das Gold an all den Kreuzen, barocken Putten und Marienfiguren protzte in seinem Glanz, die roten Ziegelsteine der Fachwerkhäuser waren wie in Spätburgunder getaucht und in den Mainauen öffneten die Schneeglöckchen, Krokusse und Schlüsselblumen ihre bunten Kelche. Die Stadt war erwacht aus ihrem langen Winterschlaf, das Leben floss in die Straßen, die Gassen und auf die Plätze zurück, wo die Läden sich daranmachten, die wenigen Waren an die Kunden zu bringen. An den kargen Auslagen vorbei tuckelten die Straßenbahnen über das Kopfsteinpflaster, schwer beladen mit den bedauernswerten Geschöpfen, die an diesem Tag arbeiten mussten.
Am Himmel störte keine Wolke das helle, vielversprechende Blau, das einem das Herz öffnen konnte. So musste es am Meer sein, dachte Fanny, die am Fenster im Schwesternzimmer stand und tief einatmete. Mit der Wärme des Sonnenlichts auf den Wangen, die Augen geschlossen, sehnte sie ein friedliches und ereignisfreies Wochenende herbei.
„Ich könnte mich auf der Stelle verlieben.“
„Männer hast du ja genug da“, antwortete Schwester Valeria, eine Freundin und Ordensangehörige des St.-Anna-Stifts. Sie war auf eine Tasse Tee vorbeigekommen, kostete vom Rührkuchen und massierte dabei ihre müden Waden.
„Männer, ja. Nur keinen Mann. Wenn ich dir erzähle, was heute Morgen passiert ist, weißt du, was ich meine.“ Sie spielte auf die Mutlosigkeit der beiden Ärzte an, die in Begleitung des Professors waren. Der hatte sie mit einem verachtenden Blick gestraft, als sie den Krankensaal verlassen hatten. Ihre Karriere an der Würzburger Nervenklinik war damit beendet, kaum dass sie begonnen hatte. Da konnte die Oberschwester noch so lange gegen Fanny giften. Ein Lob des Professors für ihre gedankenschnelle Reaktion machte jede Nachlässigkeit wett.
„Und die anderen auf Station?“, fragte Valeria. „Niemand darunter, der …“
„Vergiss es“, blockte Fanny ab, „glaub mir: Du willst nicht wissen, was diese Männer erlebt haben.“ Ihr Blick schweifte über den zerstörten Bahnhof und die herausgesprengten Gleise am Fuße des Schalksbergs. Seit dem Bombenangriff im Februar war kein Zug mehr gefahren, dafür trafen umso mehr Busse und Laster auf dem Vorplatz ein und entluden ihre Fracht. In der Mehrzahl waren es verwahrloste Gestalten aus irgendeiner deutschen Stadt des ehemals weiten Reichs, die mit dem Leben und etwas Handgepäck davongekommen waren. Daneben Verletzte, Verwundete und Verkrüppelte. Durchreisende Soldaten begleiteten sie mit leerem Blick und der Last des Krieges. Es war ein beschämender Anblick.
Was war nur aus den Versprechungen des Führers geworden? Sah so sein neues Deutschland aus, das er ihnen versprochen hatte ? Zweifel waren längst angebracht, nur sollte man sie nicht offen aussprechen: Sie war umringt von SS-Soldaten und hätte sich alsbald im Hof bei den Zwangsarbeitern wiedergefunden, hätte jeden Gedanken auf eine Rückkehr in ein normales Leben aufgeben müssen. Es war besser zu schweigen und auf die Erlösung zu warten. Lange konnte es ja nicht mehr dauern. Die Front kam mit jedem Morgen näher und damit der nächste Schrecken: Hoffentlich waren es die Amerikaner und nicht die Russen, die sie von Hitler befreiten. Fanny hatte unvorstellbare Gräueltaten von den Flüchtlingen aus dem Osten gehört, von vergewaltigten Frauen und erschlagenen Kindern, von niedergebrannten Häusern, Raub und sinnloser Zerstörung. Tiere seien die Russen, unfähig zu einer menschlichen Regung.
„Deinen Großeltern geht es so weit gut“, sagte Valeria in die Stille hinein. „Ich meine, sofern es dich interessiert.“ Fanny drehte sich um und seufzte. „Entschuldige, ich war in Gedanken. Brauchen sie etwas? Ich habe noch ein paar Essensmarken und aus der Küche …“
Valeria legte ihr die Hand auf die Schulter. „Sie sind gut versorgt bei uns im Stift. Keine Sorge. Allerdings würden sie sich über einen Besuch von dir freuen. Sie vermissen dich.“ „Ich bin eine schlechte Enkelin“, erwiderte Fanny schuldbewusst.
„Unsinn. Du arbeitest Tag und Nacht, und sie wissen das. Dennoch …“
„Gleich heute Abend nach dem Dienst komme ich bei ihnen vorbei. Komme, was wolle.“
Von den beiden unbemerkt stand plötzlich jemand in der Tür. „Das kannst du vergessen“, sagte die Oberschwester spitz. „Wir bekommen heute eine neue Fuhre Verwundeter. Du hilfst bei der Aufnahme.“
„Aber …“
„Keine Widerrede. Das Wochenende ist für uns alle gestrichen.“
„Die Stationen sind hoffnungslos überfüllt. Wo sollen wir sie denn unterbringen?“
„Im Keller, auf dem Dachboden …“
„Aber der Dachboden ist doch gesperrt, auf Anweisung des Professors.“
„Soll ich ihm vielleicht sagen, dass du dich widersetzt?“ Sie lächelte erwartungsfroh.
Fanny senkte den Kopf. „Nein, natürlich nicht.“
Damit hatte die Oberschwester abermals über sie triumphiert. Es wäre auch zu schön gewesen. Hoch erhobenen Hauptes und mit siegesbewusstem Lächeln verließ sie das Schwesternzimmer. Valeria nahm Fanny in die Arme.
„Sei nicht traurig. Deine Großeltern werden es verstehen.“ „Ich könnte dieser Giftspritze den Hals umdrehen“, zürnte Fanny.
„Still!“, befahl Valeria und hielt ihr den Finger an den Mund. „Versündige dich nicht.“
Ein kurzer Blick, dann brachen beide in ein befreiendes Gelächter aus. „Was glaubst du“, sagte Valeria, „wie oft ich schon meine Oberin zum Teufel geschickt habe ? Es vergeht kein Tag ohne.“
„Es ist schön, mit dir zu lachen.“ Sie beruhigte sich. „Irgendwie habe ich mir das hier anders vorgestellt.“
„Kopf hoch. Das wird schon.“
„All das Leid … Ich wünschte, es gäbe keinen Krieg. Nie wieder.“
„Das wünschen sich mittlerweile alle … Na ja, wenigstens die mit etwas Verstand. Den anderen ist nicht mehr zu helfen.“
„Ich mache mir Sorgen um Vinzenz. Wenn er so weitermacht, holt ihn noch die SS ab.“
„Machen ihm seine Untermieter wieder die Hölle heiß ?“ „Die Kölner – besonders die Frau sei unausstehlich. Ständig beschwert sie sich über etwas. Es macht ihn noch völlig verrückt.“
„Ich rede mal mit ihr. Wenn sie nicht einsichtig ist, hol ich sie zu uns ins Kloster. Das wird sie lehren eure Gastfreundschaft auszunutzen.“
„Du bist ein Schatz.“ Eine feste Umarmung folgte, bis sie von einem schüchternen Klopfen unterbrochen wurden. Es war …
„Herr, Professor“, sagte Fanny überrascht und löste sich aus der Umarmung. „Benötigen Sie etwas?“
„Eigentlich war ich auf der Suche nach der Oberschwester“, antwortete Werner etwas unsicher. „Aber es reicht, wenn ich es Ihnen sage: Ich bin für eine Stunde außer Haus. Im Notfall können Sie mich zuhause erreichen.“
„Gerne, Herr Professor.“ Ein unwillkürlicher Knicks, nicht tief, aber er reichte aus, um ihn zu einem kleinen Lächeln zu bewegen.
„Nicht nötig.“ Dann ging er genauso unscheinbar, wie er gekommen war.
Fanny spürte, wie ihr das Blut zu Kopf schoss.
„War er das?“, fragte Valeria aufgeregt. „Dein Chef?“ Fanny nickte nur. Die Stimme versagte ihr.
„Kein Wunder, dass man dich kaum noch zu Gesicht bekommt.“
„Wie meinst du das?“, stammelte Fanny und drehte sich zum Fenster.
„Er könnte dein Vater sein …“
„Zwanzig Jahre. Mehr nicht“, widersprach Fanny.
„Aber für einen Mann seines Alters sehr attraktiv.“
„Du spinnst.“
„Komm schon, mir kannst du doch nichts vormachen. Du himmelst ihn …“
„Schweig!“ Fanny bewahrte Haltung. „Er ist mein Chef. Nichts weiter.“
„Wer’s glaubt, wird selig.“
Kleßbergsteige im Stadtteil Steinbachtal
Die Villa bot beste Sicht auf die Festung Marienberg – einen auf Felsen gebauten, wehrhaften Koloss, der seit vielen Jahrhunderten Feinde aus dem Maintal fernhalten sollte. So auch jetzt, da Jungvolkführer mit ihren Gruppen den steilen Weg hinaufstiegen, um sie an Gewehr und Panzerfaust zu schulen. Für die Zehn- und Elfjährigen war das ein Riesenspaß, gemessen an den fröhlichen Liedern, die sie sangen und den Späßen, die sie machten. Lange bevor sie erwachsen wurden, lernten sie die Dinge, die Erwachsene taten. Dass sie als Teil des Volkssturms irgendwann einmal tatsächlich auf Menschen schießen mussten, war ihnen als Gedanke präsent, kaum einer von ihnen würde aber der Erfahrung gewachsen sein, einen Menschen in Stücke zu schießen.
Dass sie kaum rechnen und schreiben konnten, die Gedichte von Goethe und Schiller niemals aufsagen würden, niemals aus der Geschichte lernen oder einfach nur ein Bild vom Alten Kranen oder von der Mainbrücke malen würden, fiel mittlerweile nicht mehr ins Gewicht. Sie hatten ihr Leben dem Führer versprochen, und der brauchte jeden Mann und jedes Kind, um den anrückenden Feind zu bekämpfen.
Ein geregelter Unterricht fand in den Schulen ohnehin nicht mehr statt, viele hatten sich seit den kleineren Bombenangriffen zu Verwandten und Freunden aufs Land geflüchtet, wo sie die weitere Entwicklung abwarteten.
Davon konnte in der Familie von Professor Werner keine Rede sein, ein Weichen von Haus und Herd wäre dem Verrat am Vaterland gleichgekommen. Uneingeschränkte Herrin über die Geschicke von Familie, Ruf und Geltung war Werners Ehefrau Hildegard, eine hochgewachsene Frau in den frühen Vierzigern. Das braune Haar hochgesteckt, den wenigen Schmuck dezent platziert, war sie zu jeder Tageszeit und Gelegenheit angemessen gekleidet, da sie immer damit rechnen musste, dass ihr berühmter Ehemann einen Kollegen aus Heidelberg, München oder Berlin mit nach Hause brachte, ein SS-Offizier unangemeldet in der Tür stand oder der Bürgermeister um eine Unterredung bat … Eine strenge preußische Erziehung war ihre Schule gewesen und in demselben Sinn gedachte sie auch das Haus zu führen. Jedes Ding stand am rechten Platz, Schnickschnack suchte man vergebens, alles und jeder hatte eine Funktion zu erfüllen. So auch die Dienstboten, die ihr zur Hand gingen.
Für den heutigen Tag war Großes geplant. Der Salon musste hergerichtet werden, die Bücherregale abgestaubt, die Teppiche ausgeklopft und der Flügel zur Gartenfront gerückt werden, damit die Gäste genügend Platz fanden. Grund der Feierlichkeiten : der Geburtstag von Tochter Charlotte, die heute neunzehn wurde.
Die Befehlsausgabe fand wie immer auf dem Gang statt, wo ein großer, goldgerahmter Spiegel an der mit grünem Damast geschmückten Wand hing, über ihr ein Lüster mit geometrischen Kristallen, zu Füßen ein orientalischer Läufer. Die ersten Blumenbouquets waren bereits eingetroffen. In den einen steckte ein dezenter Hinweis in einem Kuvert, die anderen trugen offen NS-Symbole.
„Ich erwarte einen reibungslosen Ablauf“, sagte Hildegard, die an diesem Sonntag mit einem perlmuttfarbenen Kostüm bekleidet war. In einer Reihe vor ihr angetreten war ein halbes Dutzend Dienstboten in akkurater Kleidung, die Köchin und der Gärtner in entsprechender Arbeitskleidung, und zwei Mädchen aus der Stadt, die den Lohn dringend gebrauchen konnten. Ihre Kleidung war alles andere als akzeptabel, wenngleich sie ihre besten Sachen herausgesucht hatten, um vor den Augen von Frau Professor zu bestehen.
„Bis heute Abend bringt ihr das in Ordnung“, sagte Hildegard mit Blick auf ein Loch in einem Strumpf, einen fehlenden Knopf und einen Fleck auf einem Kragenteil.
Die beiden Mädchen machten einen Knicks. „Jawohl, Frau Professor.“
„Und wenn ihr nichts Besseres habt, dann wird euch Maria ein paar alte Sachen von Charlotte geben.“
Das Dienstmädchen Maria nickte kurz, die Mädchen knicksten erneut. „Vielen Dank, Frau Professor.“
„Die Feier beginnt um neunzehn Uhr“, sprach Hildegard zu allen, „wie immer werden die ersten Gäste bereits früher eintreffen. Ihr empfangt sie höflich, eine Begrüßung ist nicht notwendig, außer sie sprechen euch direkt an. Als Antwort verbeugt ihr euch oder macht einen Knicks. Klara und Josef“, sie wandte sich den beiden zu, „ihr werdet ihnen ein Glas Sekt anbieten, sobald sie den Salon betreten. Josef, du hast den Schlüssel und damit die Verantwortung für den Weinkeller. Ich verlasse mich auf dich.“
„Jawohl, gnädige Frau.“
„Das Essen wird um zwanzig Uhr serviert. Magda“, sie wandte sich an die beleibte Köchin, „es werden exakt vierzig Portionen benötigt. Kommst du mit allem zurecht ?“
„Ja, gnädige Frau.“
„Spar nicht mit dem Wildschwein, auch vom Fasan ist genügend da. Meine Gäste sollen satt und zufrieden das Haus verlassen.“
Die Köchin nickte.
„Und für alle gilt: Ich dulde heute Abend keine Fehler. Graf zu Sassen-Trantow aus Berlin wird zu Gast sein. Ihr wollt doch nicht, dass ich mich vor ihm blamiere?“ Die Frage war rhetorisch.
„Wenn es ein Problem gibt, das ihr nicht selbst lösen könnt, dann gebt mir ein unauffälliges Zeichen. Habt ihr verstanden ? “ Alle: „Ja, gnädige Frau.“
„Gut, dann macht euch an die Arbeit.“
Die Einsatzbesprechung war damit beendet. Die Dienerschaft ging an ihre jeweiligen Arbeiten. Zurück blieb Hildegard. Sie blickte hinüber ins Esszimmer auf den feierlich gedeckten Tisch. Drei Personen würden am Frühstück teilnehmen, einer fehlte, ihr Sohn German, von dem sie nun seit zwei Monaten nichts mehr gehört hatte. Er war bei einem Einsatz der SS in der Nähe von Bologna als vermisst gemeldet. Seitdem suchten sie nach ihm. Das Gebiet wurde von Partisanen der Stella Rosa terrorisiert. Die machten keine Gefangenen. Hildegard konnte nur beten, dass er ihnen nicht in die Hände gefallen war.
Auf der Treppe über ihr hörte sie Schritte.
„Guten Morgen, mein Schatz“, sagte Hildegard und breitete die Arme aus. Sie strahlte über beide Wangen. Körperliche Nähe war eigentlich nicht die Sache Hildegards, da hielt sie es wie ihre Eltern. Kinder sollten gehorchen, lernen und wachsen. Alles Weitere war Luxus. An Weihnachten und an Geburtstagen gönnte sie sich eine Ausnahme.
Der Schatz war das Geburtstagskind Charlotte, allerdings nicht in einem luftigen Sommerkleid, wie man es an diesem Tag hätte erwarten können, sondern in der Uniform einer Nachrichtenhelferin. Der schlichte Aufzug – knielanger Rock, ein Jackett, weißes Hemd und dunkle Krawatte – war lediglich mit dem Reichsadler auf der rechten Brustseite geschmückt. Das gewellte kastanienbraune Haar trug sie schulterlang, die Ohren waren freigekämmt, als Kopfbedeckung diente ein Schiffchen, das sie in der Hand trug.
„Guten Morgen, Mutter“, antwortete Charlotte emotionslos und begab sich in die mütterlichen Arme, ließ sich herzen und auf die Wange küssen. Es schien ihr alles zu viel, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, das sie machte. Fast hätte man glauben können, sie wäre lieber im Bett geblieben, um dieser unerwarteten Umarmung zu entgehen.
„Alles Gute zum Geburtstag.“ Ein mütterlicher Kuss auf die Stirn. „Ich wünsche dir alles, alles Gute und …“
„Danke, Mutter.“ Mehr wollte sie nicht hören.
Sie wand sich aus der Umklammerung und ließ ihre Mutter überrascht stehen. Doch Hildegard fasste sich schnell, von einer Sekunde auf die andere kehrte sie wieder den Haushaltsvorstand hervor.
„Ich habe uns ein Frühstück zubereiten lassen.“
Charlotte war nicht danach. Sie setzte das Schiffchen auf und kontrollierte den Sitz im großen Spiegel. „Ich bin spät dran.“
„Aber doch nicht heute, an deinem Geburtstag.“
„Dienst ist Dienst. Das wirst du doch verstehen.“
Die Haustür ging auf. Längst erwartet traf Professor Werner ein, in der Hand einen kleinen Frühlingsstrauß mit Blumen, die er auf der Wiese gepflückt hatte. Im Vergleich mit den opulenten Bouquets, die entlang der Wand aufgereiht waren, ein eher armseliger Gruß. Doch für Charlotte schien er heller und prächtiger als alles gekaufte Zeug um sie herum. Ihre Laune schlug um, als er ihr das Sträußlein überreichte.
„Alles Gute, Lottchen. Ich wünsche dir tausend Sterne …“ „… und tausendeinen zurück.“
Eine innige Umarmung von Vater und Tochter, die Hildegard nur neidvoll ertragen konnte. Ein kurzer Blick zur Seite, dann riss sie sich wieder zusammen. „Schön, dass du endlich da bist“, sagte sie mit einem gequälten Lächeln. „Der Kaffee wird kalt.“ Sie ging voran.
„Ich muss zum Dienst“, seufzte Charlotte.
Werner ließ keine Ausflüchte zu. „Der kann noch einen Moment warten.“ Er legte den Arm um sie und führte sie zu Tisch. Ein Strauß prächtiger Blumen stand darauf, ein kleines und ein großes Päckchen, eingewickelt in Geschenkpapier, und viele Leckereien drumherum, die es seit Monaten in den Bäckereien nicht mehr zu kaufen gab. Und natürlich ein Geburtstagskuchen mit zwei Kerzen in Form einer Eins und einer Neun. Hildegard zündete sie an.
„Fünf Minuten“, lenkte Charlotte ein, „dann muss ich wirklich los.“ Sie setzte sich wie immer an die Längsseite des Tisches, Werner und Hildegard an die Stirnseiten.
„Bevor du gehst, müssen wir mit dir reden“, sagte Werner. Mit einem kurzen Blick versicherte er sich bei Hildegard, die preußisch kühl keinerlei Regung zeigte.
Der ernsthafte Ton jagte Charlotte einen Schrecken ein. „Ist etwas mit German? Haben Sie ihn endlich ausfindig gemacht?“
„Nein, Liebes“, beruhigte sie Werner. „Nichts dergleichen. Es geht um dich, besser gesagt um deine Zukunft.“
„Was ist damit?“
„Der Graf zu Sassen-Trantow hat um deine Hand angehalten.“
„Er hat was?“
„Nicht so mittelalterlich, wie du denkst, nein, aber er hat durchblicken lassen, dass er eine Braut sucht, und bei eurem letzten Treffen …“
„Es war nicht unser Treffen. Ich war zufällig im selben Raum.“
„Da bist du ihm aufgefallen. Er würde dich gerne kennenlernen und hat gefragt, ob wir etwas dagegenhätten.“
„Auf jeden Fall.“ Sie blickte zwischen Hildegard und Werner hin und her, die schwiegen aber. „Ihr habt ihm doch gesagt, dass es aussichtslos ist? Kein Interesse. Niemals !“
„Beruhige dich“, schaltete sich Hildegard ein. „Der Graf ist …“
„Das ist doch bestimmt wieder auf deinem Mist gewachsen!“, fuhr Charlotte sie an. „Alter preußischer Adel. Bleibt alles in der Familie. Nee, ohne mich.“ Sie stand auf. „Danke für dieses tolle Geburtstagsgeschenk.“
„Setz dich!“
Hildegard saß kerzengerade, der Mund schmal und bissig, in ihren Augen konnte man die Ungeheuerlichkeit des Widerspruchs erkennen. Zögernd kam Charlotte dem Befehl nach.
„Der Graf wird heute Abend unser Gast sein und du wirst dich gefälligst benehmen, wie es sich für eine heiratsfähige Frau gebührt.“
„Auf keinen …“
„Schweig, ich bin noch nicht fertig. Du wirst dir anhören, was er zu sagen hat. Danach können wir immer noch entscheiden.“
„Wir?“
„Es würde mir sehr viel bedeuten“, lenkte Werner ein, „er ist ein wichtiger Mann in Berlin.“
Die Hausglocke unterbrach, ein Dienstbote eilte zur Tür. Während am Tisch eine frostige Stille herrschte, drang Gemurmel herüber, Schritte näherten sich. In der Tür stand Paul, der Klavierlehrer, ein etwas schlaksiger Kerl in einem abgetragenen dunklen Anzug. Er mochte Anfang dreißig sein, das Alter war schwer zu schätzen, sein Gesicht gehörte nicht in die Gegend. Am ehesten konnte man ihn als Südländer beschreiben, als Sizilianer oder Franzose aus Marseille mit seinem schwarzen Stoppelbart, die Haare wie gegelt nach hinten gekämmt. Er wirkte keinesfalls zweitklassig oder gar bedrohlich, er war interessant oder einfach nur anders.
„Guten Morgen, Frau Professor“, er verneigte sich leicht, „guten Morgen, Herr Professor.“ Dann sagte er mit einem gewinnenden Lächeln, das die weißen gepflegten Zähne sehen ließ: „Guten Morgen, Charlotte. Ich möchte Ihnen alles Gute zum Geburtstag wünschen.“
Der Ärger in Charlottes Gesicht wich einem Lächeln. Für einen Moment war sie drauf und dran, die Regel zu brechen und sich mit einem Juden zu fraternisieren. Doch dann zeigte sich, was Hildegards Erziehung wert war. „Danke, Paul. Haben wir denn heute Unterricht?“
Statt seiner antwortete Hildegard. „Er wird heute Abend spielen, Philomena wird singen.“
„Nur das Beste, bravo.“ Ihr verachtender Blick traf Hildegard.
„Ich habe mir erlaubt“, sagte Paul, „Ihnen ein Geburtstagslied zu komponieren.“
Einen besseren Ausweg aus dieser unleidlichen Situation würde es so schnell nicht mehr geben. Charlotte erhob sich, ging zum Salon, wo der Flügel stand. „Kommen Sie, Maestro. Ich kann es kaum erwarten.“
Paul warf einen fragenden Blick zu Hildegard. Die seufzte und willigte schließlich ein. Paul begab sich an den Flügel. Aus einer Kladde mit Notenblättern zog er einen Bogen, handschriftlich bearbeitet, und legte ihn auf. Ein Moment der Konzentration, dann begann er zu spielen. Charlotte vergaß ihre gute Erziehung und stützte sich mit den Unterarmen auf den Flügel, Hildegard stellte sich an die verglaste Tür zum Garten, Werner neben sie. Doch statt sich Paul und seinem Spiel zuzuwenden, blickte er hinaus auf den Rasen und das Blumenbeet. Es machte den Anschein, als wolle er sich konzentrieren, sich auf das Spiel gänzlich einlassen.
Einer seiner Zwangsarbeiter, Viktor, kniete dort auf der Erde, zupfte das Unkraut, harkte, setzte neue Blumen. Es war eine schweißtreibende Arbeit, er wischte sich die Stirn und den Nacken, öffnete die gestreifte Häftlingsjacke, legte sie zur Seite, war nun am Oberkörper nackt.
Das Stück, das Paul spielte, war getragen, aber nicht traurig, eher sehnsüchtig. Man konnte aus ihm Anleihen bei Franz Schuberts Leise flehen meine Lieder hören. Es erfüllte seinen Zweck, es nahm die Zuhörer ein, ließ sie den Zwist für ein paar Augenblicke vergessen, sodass sich eine friedliche Stimmung entfaltete.
Pauls zarte Finger streichelten die Tasten, er hielt die Augen geschlossen, sah nicht, wie Charlotte näher rückte, als wollte sie sich zu ihm auf den Klavierstuhl setzen.
„Das ist sehr schön“, flüsterte sie ihm zu.
Er sagte nichts, nickte nur.
„Bist du etwa in mich verliebt?“ Sie lächelte kokett.
Er öffnete die Augen, war gefasst, keineswegs verwirrt wegen dieser wahnwitzigen Frage, die ihm das Leben kosten könnte. „Wie kommst du darauf?“
„So ein wunderschönes Lied würde ich nur für jemanden spielen, den ich aus ganzem Herzen liebe.“
„Du hast ein gutes Ohr.“
„Also doch.“
„Du irrst. Ich habe es zwar für dich geschrieben, aber an eine andere gedacht. Tut mir leid. Das ist des Schicksals Fluch.“
„Wer ist es?“
Hildegard beobachtete die beiden. Sie sollte dazwischengehen, doch etwas hielt sie zurück. Mehr noch, das Stück lähmte sie, zwang sie, es zu erdulden, bis die letzte Note verklungen war. Es war lange her … der Beginn eines Fehlers. Nie hatte sie den Mut gefunden, ihn aus der Welt zu schaffen. Jetzt war es zu spät.
An ihrer Seite schaute Werner noch immer zum Fenster hinaus in den Garten, der unter den Fingern von Viktor neu erblühte. Der kleine weiße Pavillon, an dem Rosen rankten, eine Symphonie der Farben im Blumenbeet, eine Schaukel für zwei, in der sich trefflich träumen ließ, Manns Tod in Venedig noch einmal fern der Welt lesen und sich daran ergötzen … Werner schien kein Ohr für die Musik zu haben, wähnte sich überall, nur nicht hier. Seine Gesichtszüge waren gelöst, sein Atem langsam, zufrieden, eine Katze hätte geschnurrt.
„Hör endlich auf damit!“, zischte Hildegard ihn an, in ihren Augen der blanke Hass, der Mund dünn wie eine Klinge.
„Was ist?“
„Du bist ekelerregend.“
„Weil ich unseren Garten liebe?“
„Weil du ein Scheusal bist. Sind wir dir nichts mehr wert?“
Der letzte Ton verklang. Charlotte klatschte begeistert, Werner stimmte halbherzig mit ein, Hildegard kämpfte mit der Selbstbeherrschung.
„Das war unwiderstehlich“, lobte Charlotte Pauls feines Spiel, auch wenn nur ein winzig kleiner Teil seines Herzens ihr gehörte.
„Nun denn“, sagte Hildegard. Ihr Applaus bestand aus einem einmaligen Klatschen der Hände, das ersehnte Ende dieser gefühlsduseligen Farce. „Es gibt viel zu tun bis heute Abend. Wo ist Philomena? Sie sollte doch schon längst hier sein.“
Sie erwartete keine Antwort und verließ den Salon hoch erhobenen Hauptes. Ihr Schritt war bestimmt, die Hände verschränkt, von den anderen unbemerkt verkrallten sie sich ineinander, keine Faser ihres Körper sollte die Demütigung preisgeben. Nach außen war sie der Fels auf sandigem Grund, der im Inneren Jahr für Jahr tiefer sank.
„Ich muss zurück an meine Arbeit“, entschuldigte sich Werner eilig. „Patienten warten.“ Er folgte seiner Frau. Auch wenn er in der zackigen Uniform eines SS-Offiziers steckte und die Stiefel auf dem feinen Holz den Takt vorgaben wie bei einem Defiliermarsch, die Entschlossenheit seiner Frau blieb für ihn unerreicht.
Als sie endlich alleine waren, platzte es aus Charlotte heraus. „Ich hätte an jede andere gedacht, nur nicht an sie.“
Paul seufzte. „Ich kann nicht anders. Mein Herz hört nicht länger auf mich.“
„Sie hasst alles Jüdische.“
„Ich weiß.“
„Sie ist eine Nazisse, durch und durch.“
„Darauf kannst du wetten. Sonst wäre ihre Karriere in Berlin anders verlaufen.“
„Wie ist es überhaupt dazu gekommen?“
„Am Wochenende gab es in der Musikakademie eine erste Probe. Ich war wie vom Donner gerührt, als sie den Raum betrat. Die blonden Haare, die hohen Wangen, der stolze Blick.“
„Eine echte Arierin eben.“
„Als sie dann anfing, das Heideröslein zu singen, wars um mich geschehen. Diese Stimme, dieser Ausdruck … mein Vater wäre ebenso dahingeschmolzen wie ich.“
„Kein Wunder, so wie er alles Deutsche vergöttert hat, der stolze Träger des Eisernen Kreuzes. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen … und das als Jude. Unglaublich. Hast du endlich was von ihnen gehört?“
Paul verneinte. „Nicht mehr, seitdem sie in Lissabon aufs Schiff gegangen sind.“
„Es geht ihnen bestimmt gut.“ Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. „Kopf hoch. Dein Vater weiß, wie man überlebt.“
Das wusste er wohl. In der Nacht, als die SS vor ihrer Tür stand, flüchtete er mit seiner Frau über den Hinterhof zum Main hinunter. Mit einem Frachtschiff ging es bis Mainz, von dort aus zur deutsch-französischen Grenze. Bei Neumond überquerten sie den Rhein und waren vorerst in Sicherheit. Zurück blieb Paul, allerdings nicht freiwillig. Als Musikund Hauslehrer von Charlotte und Bruder German wurde er genauso überrascht wie seine Eltern, für den Abtransport in die östlichen Reichsgebiete aber war er zu wertvoll. So behielt man ihn auf Bewährung, zum Wohl der musikalischen Erziehung der Kinder und als Hauspianist für die zahlreichen Feierlichkeiten. Das war nicht ungefährlich, selbst für den SS-Offizier Werner nicht, aber wer offiziell Jude war oder nicht, bestimmten in der Stadt noch immer die SS-Größen und nicht der Stammbaum.
„Ich muss los“, sagte Charlotte und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Wir sehen uns heute Abend.“
Paul nickte und wartete, bis sie den Raum verlassen hatte. Dann ging er zum Gartenfenster, öffnete es und holte mit einem kurzen Pfiff Viktor heran. „Es ist bestätigt“, sagte Paul, „er wird heute Abend kommen.“
Ein Lächeln huschte Viktor über die Lippen. „Dann ist es abgemacht. Ich kümmere mich um den Fahrer, du um die Uniform.“