Читать книгу Bombennacht - Roman Rausch - Страница 8

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6:06 Uhr

Nervenheilanstalt, Füchsleinstraße. SS-Lazarett für Kopfverletzte

Im dunklen Krankensaal roch es nach Urin und flüchtigem Desinfektionsmittel. Zwei der rund zwanzig Patienten wälzten sich in den Betten, die anderen schliefen fest. Der eine Unruhestifter war mit Lederriemen am Bettgestell fixiert. Er brabbelte unverständlich, die Augen folgten seinen Worten, als ob sie eine Antwort jagten, die sich ihnen fortlaufend entzog.

Der andere war erst vor wenigen Stunden notärztlich behandelt und auf Station gebracht worden. Zur Visite am Morgen sollte er von Professor Werner eingehend untersucht werden. Woher der an der linken Kopfseite Verletzte kam und wie er hieß, konnte bislang nicht festgestellt werden. Ihm fehlten sowohl die Erkennungsmarke als auch die Ausweispapiere. Lediglich seine Uniform, die auf einem Stuhl neben dem Bett hing, wies ihn als einen Offizier im Rang eines SS-Sturmbannführers aus.

Der Kopf und das linke Auge waren unter einem weißen Verband versteckt, Blut hatte sich einen Weg durch die Verbände gebahnt. Sein rechtes Auge schien unbeweglich an der weiß getünchten Decke zu kleben, als sei er offenen Auges gestorben. Doch in diesem Soldaten steckte noch Leben. Seine Hand ging zum Stuhl, auf dessen Sitzfläche ein Armeerucksack lag. Darin einige wenige Habseligkeiten – eine Pfeife und eine Tabakbüchse, ein Bild von ihm und seiner Frau während einer Bootstour, eine Taschenlampe, ein Kamm, der Ehering, sein Tagebuch, in dem der Name Dorle auftauchte – die Koseform von Dorothea –, zum Schluss schwungvoll gezeichnet: Dein dich liebender Ferdinand. Auf den folgenden Seiten des Tagebuchs hatte Ferdinand die Schrecken eines Feldzugs beschrieben, die Erschießungen, die Schreie der Kinder und das Klagen der Alten, die Namen der Befehlshabenden, der astronomische Verbrauch von Munition, der ständige Ärger mit dem Nachschub und schließlich die Luftangriffe des Feindes. Tausendfaches Leid auf Seiten der Besatzer und der Bevölkerung, zerfetzte Körper, verschüttete Kameraden. Und immer wieder die Jabos – die feindlichen Kampfflugzeuge. Sie machten ihnen das Leben zur Hölle.

Der letzte Eintrag war mit zittriger Hand geschrieben, kein Datum, schnell hingeworfen: Ungeordneter Rückzug. Wir rennen in alle Richtungen davon, kopflos, jämmerlich, wie aufgeregte Hühner. Verteidigung ist nicht mehr möglich. Keiner von uns weiß, ob er seine Liebste noch einmal wiedersieht. Der Hunger, die Kälte, der Wahnsinn eines sinnlosen Kampfs. Ich werde hier verrecken wie ein heimatloser Hund. Verflucht seien der Verbrecher und sein mörderisches Pack. Was haben wir nur angerichtet?

Über den Wipfeln der Bäume ein Brausen und Tosen. Sie kommen wieder. Mindestens ein Dutzend. Dieses Mal geben sie uns den Rest. Die Motoren dröhnen wie zorniges Wespenvolk. Schnell in den nächsten Unterschlupf, alles verdunkeln, keinen Mucks mehr. Sie sehen jede Bewegung. Oh Gott im Himmel, verzeih mir meine Sünden … und lass mich meine Dorle ein letztes Mal in die Arme schließen.

Die Tür ging auf, mit ihr fiel das fahle Licht des Gangs in den Saal. Die Silhouette in der Tür hatte eine schmale Taille, gerade Beine und hochgestecktes Haar, darauf eine Haube.

Dorle ?

Fanny, die Krankenschwester, ging geradewegs zu den Fenstern. Die Absätze ihrer Schuhe klackten auf dem gewienerten Linoleum.

„Guten Morgen.“

Ihre Stimme klang bestimmt, aber mit freundlichem Ton. Sie wusste um das Leid und die Schmerzen dieser Männer, die Erschöpfung, die Albträume, die panische Angst, so kurz vor der Rückkehr in die Heimat zu sterben oder durch die Erinnerungen verrückt zu werden.

„Der Professor wird gleich bei Ihnen sein“, sagte sie und zog die schweren schwarzen Vorhänge zurück, die keinen Lichtstrahl entweichen ließen. Es war das Ende der Verdunkelung, die feindlichen Fliegern kein Ziel bieten sollte.

Die Stadt lag unter einem dunklen Mantel verborgen wie das gesamte Tal, in dem der Main unmerklich floss. Der nächtliche Himmel wich einem tiefen Blau, eine dünne Mondsichel behauptete sich gegen die vielen Sterne.

Durch die geöffneten Fenster schwappte frische Morgenluft herein. Es roch nach Frühling, begleitet von einem bunten Chor der Frühaufsteher hier am Schalksberg, wo einst Kelten hausten und Hexen Schindluder trieben. Buchfinken konkurrierten mit Rotkehlchen und einem Kuckuck, der Zilpzalp rief unablässig seinen Namen, nur die Kohlmeise pries eine Frau – Judith, Judith stach es durch all das Werben für ein gemeinsames Nest hindurch.

„Vorhänge zu!“, rief eine Stimme quer durch den Raum. „Sie können uns sehen.“ Der Soldat mit dem Kopfverband saß aufrecht in seinem Bett, in seinem Gesicht die Erinnerung an den Schrecken der Jabos.

Fanny ging zu ihm und je näher sie ihm kam, desto merklicher wurde seine Gereiztheit.

„Beruhigen Sie sich“, sagte sie, „es ist alles in Ordnung.“ Sie bückte sich zu ihm hinab, versuchte ihn an den Schultern aufs Bett zurückzudrücken, doch der Mann meinte es ernst.

„Die Vorhänge zu! Sie kommen!“ Ein Stoß warf Fanny zurück. Es musste die Überraschung gewesen sein – obwohl sie seit einem Jahr auf dieser Station der schwer Hirnverletzten eigentlich nichts mehr überraschen sollte –, dass sie blindlings in die Attacke gelaufen war. Nun war es an ihr, den Mann zu besänftigen, bevor die Visite kam und sie sich vor der gesamten Ärzteschaft blamierte.

„Es ist Nacht, niemand kann uns sehen.“

„Sie haben Augen wie die Adler“, schrie er sie an, frisches Blut drang durch den Verband.

„Ich verstehe“, gab sie vordergründig klein bei, während sie den Druck auf seine Schultern verstärkte, „aber …“

Der Schlag kam aus dem Dunkeln, sie stürzte nach hinten, die weiße Schwesternhaube fiel zu Boden.

Der Mann mühte sich ächzend aus dem Bett, seine nackten Füße auf dem Linoleum, gleich neben Fanny. Sie packte ihn an den Fußgelenken.

„Sie dürfen nicht aufstehen“, rief sie und hielt ihn fest.

„Die Fenster … sie sehen uns.“

Das Licht ging an. Es blendete den aufgebrachten Soldaten und Fanny gleichermaßen. Eine Stimme erhob sich.

„Was ist hier los?!“

Es war Professor Werner, Fanny erkannte die Stimme sofort.

„Licht aus!“, schrie der Mann.

Jemand aus dem Tross um Professor Werner eilte herbei. „Um Himmels willen, Fanny, was hast du da wieder gemacht?“

Es war die Oberschwester.

„Der Patient ist renitent“, antwortete Fanny entschuldigend.

Sie erhob sich, ihr Kopf schmerzte, ein leichter Schwindel obendrein.

„Bringen Sie das in Ordnung“, sagte Professor Werner mit mürrischem Blick auf das Malheur. Er war ein stattlicher Mann von Mitte vierzig, Stirnglatze, der Haaransatz an den Seiten ergraut, die Augenbrauen aber dunkel, für manchen Geschmack etwas zu buschig. Auffällig waren seine feinen, geschwungenen Lippen, die nicht so recht in dieses Gesicht passen wollten. Unter dem offenen weißen Kittel trug er seine Uniform im Dienstgrad eines SS-Obersturmbannführers.

„Sofort“, erwiderte die Oberschwester. Ihr Blick hätte Eisen schneiden können, und er galt Fanny. Das würde ein Nachspiel haben, so viel war sicher. „Hol Verbandsmaterial.“

Fanny bahnte sich gesenkten Haupts den Weg durch die Gruppe der Ärzte, die sich wie ein Rudel um das Alpha-Tier Werner scharten. Sie biss sich auf die Lippen. Verdammt, peitschte es ihr durch den Kopf, wieso musste das ausgerechnet vor der Visite passieren ? Die Oberschwester würde ihr das nicht durchgehen lassen, das freie Wochenende war damit gestrichen.

Wenigstens hatte der Professor den Vorfall nicht weiter aufgeblasen, ihn nicht zum Anlass genommen, seinem Unmut über die unerträgliche Situation in der Nervenklinik freien Lauf zu lassen. Die Stationen waren mit Verletzten und Kranken überfüllt, und ständig wurden ihnen neue Patienten zugewiesen, die anderswo nicht unterkamen. Es musste dringend etwas geschehen. Der Erweiterungsbau, den Werner zur Chefsache erklärt hatte, ging nur langsam voran. Er brauchte mehr Arbeiter und vor allem Baumaterial, das in den vergangenen Monaten knapp geworden war.

Seufzend stand sie vor dem Regal mit dem Verbandszeug. Sie musste sich konzentrieren. Was brauchte sie alles? Der Patient hatte eine schwere Kopfverletzung, Splitter in seinem Gehirn, so hatte es der aufnehmende Arzt auf dem Krankenblatt festgehalten. Er würde noch heute operiert, sofern genug Morphium vorhanden war. Bis dahin brauchte sie Mull, Schere, Desinfektionsmittel …

Ein lauter Ausruf ließ sie herumfahren.

„Sind Sie verrückt geworden?!“

Es war Werners Stimme. Für einen Moment verharrte sie, horchte. Jemand anderes sprach, sie konnte es nicht verstehen. Dann wieder Werner.

„Legen Sie die Waffe weg!“

Waffe ? Sie packte in beide Arme, was sie greifen konnte, und lief los.

Auf dem Gang sah sie zwei Ärzte, die an der offen stehenden Tür ausharrten, in ihren Gesichtern Furcht und Überraschung.

„Gehen Sie nicht da rein“, sagte einer, doch sie beachtete ihn nicht.

Die Patienten drängten sich in einer Ecke zu einem Haufen zusammen, außer dem am Bett fixierten, der noch immer in seinem Wahn gefangen war und an den Lederriemen zerrte. Ihnen gegenüber standen Professor Werner, die Oberschwester und noch zwei Ärzte um das Bett des renitenten Kopfverletzten. Fanny konnte ihn nicht erkennen, er war verdeckt vom Rücken des Professors. Sie eilte so rasch an der Gruppe vorbei, dass ihr das Herz stillzustehen drohte.

„Gehen Sie weg“, sagte der Professor ruhig zu ihr, aber da war es schon zu spät.

Wo zum Teufel hatte der Patient die Waffe her ? Er hielt sie vorgehalten, nahm abwechselnd den Professor, die Oberschwester und die beiden anderen Ärzte ins Visier. Dabei konnte er kaum noch etwas sehen. Das Blut lief ihm über die Stirn in das verbliebene Auge.

„Machen Sie sich nicht unglücklich“, beschwor ihn der Professor, „wir können Ihnen helfen.“

„Dorle … Wo ist meine Dorle?“ Er strich sich das Blut aus dem Gesicht, suchte zu erkennen, mit wie vielen er es zu tun hatte.

Der Professor schaltete schnell. „Dorle ist Ihre Frau?“

„Bringt sie her! Jetzt. Sofort.“

Fanny legte vorsichtig das Verbandszeug auf ein Bett. Ein schneller Blick zur Seite. Das Fenster stand noch immer offen, die Nacht und die Vogelstimmen fielen herein, sie verliehen dem Schauspiel eine makabere Seite. War es nicht die Entdunkelung gewesen, die dieser bemitleidenswerten Gestalt vor ein paar Minuten noch die nackte Angst eingeflößt hatte? Die Furcht vor Entdeckung, das Ziel eines Angriffs zu sein, der sichere Tod?

„Wo ist Ihre Dorle?“, fragte der Professor.

„Tulpenstraße, Haus Nummer 3.“

Ein rätselnder Blick des Professors, die Oberschwester zuckte die Schultern.

„Wo in Würzburg soll das sein?“

Der Mann schreckte auf, blinzelte gegen das Blut an, das ihm stetig ins Auge lief. „Würzburg?“ Er schniefte. „Bin ich etwa in Würzburg? Wollt ihr mich umbringen?“

„Sie haben eine schwere Kopfverletzung davongetragen“, sagte der Professor. „Ein Wunder, dass Sie überhaupt noch bei Bewusstsein sind. Ich schlage vor …“Er ging einen Schritt auf ihn zu.

„Halt dein Maul!“, keifte der Patient ihn an. Mit letzter Kraft mühte er sich auf die Beine, setzte dem Professor die Pistole an die Stirn. „Ich habe von euren Schweinereien gehört.“ Er spannte den Hahn.

Die Oberschwester machte keine Anstalten, dem Professor zu Hilfe zu kommen, auch die anderen beiden Feiglinge kümmerten sich nur um ihre eigene Haut, statt auch die ihres mächtigen Chefs zu retten. Wenn er mit dem Leben davonkam, würden sie in seiner Gunst keine Karriere mehr machen. Nur eine hob sich von der allgemeinen Passivität ab – Fanny. Sie wusste in dem Moment selbst nicht, was sie dazu veranlasste, vielleicht war es der Respekt vor ihrem Chef oder einfach nur der Übermut der Jugend.

„Ich kann Dorle holen.“

Erstaunte Gesichter wandten sich ihr zu. „Sei still!“, fauchte die Oberschwester sie an.

„Geh sie holen“, widersprach der Mann. „Keine Tricks.“

„Sofort“, bestätigte Fanny, zögerte dann aber. „Sollten wir nicht zuerst die Verdunklung wieder anbringen?“

Richtig, die Gefahr, durch Jabos unter Beschuss zu geraten, bestand immer noch, zumindest in der Schreckensvorstellung des Mannes. Er dirigierte sie mit der Waffe zum Fenster. „Geh, mach alles dicht“, sagte er und wischte sich das Blut aus dem Auge. Ihm war schwindelig, ein Wunder, dass er überhaupt stehen konnte.

Die Oberschwester erkannte die Chance, doch der Professor hielt sie zurück.

„Warten Sie.“

Es dauerte einen Moment. Die Kraft wich, die Erschöpfung zwang den Mann auf sein Bett, die Waffe glitt aus der Hand zu Boden. Die Oberschwester hob sie eilends auf, zischte zur Seite: „Was hat die Waffe hier verloren?“

Der Vorwurf war an Fanny gerichtet. Die hob nur die Schultern. „Er wurde von der Nachtschicht aufgenommen.“ „Und du hast sein Gepäck nicht überprüft?!“

„Beruhigen Sie sich, Oberschwester“, mischte sich der Professor ein. „Fanny hat uns gerade das Leben gerettet.“

*

Im rückwärtigen Hof der Nervenklinik wartete unterdessen SS-Scharführer Gottlob auf das Antreten seiner Gefangenen. In der Hand hatte er eine Reitgerte, mit der er sich ungeduldig gegen den Stiefelschaft klopfte.

Der Hof war seit Ende der Verdunkelung mit Scheinwerfern erleuchtet – ein Luxus bei der knappen Versorgungslage der Stadt. Doch der Einsatz war begründet. Auf Betreiben Professor Werners hin entstand hier unter anderem ein Erweiterungsbau des SS-Lazaretts. Dafür hatte er rund fünfzig Zwangsarbeiter aus dem oberpfälzischen Lager Flossenbürg nach Würzburg verlegen lassen – zur Hälfte polnische Kriegsbeute, der Rest rekrutierte sich aus Russen, Jugoslawen, Griechen, Franzosen, Tschechen und drei Deutschen, darunter ein Asozialer und zwei sexuell Abartige, so der Sprachgebrauch. Anfänglich waren sie in einem Gefängnis der Gestapo in der Friesstraße des Frauenlandes untergebracht und mussten deshalb für ihren Arbeitseinsatz quer durch die Stadt laufen, was immer wieder für Unmut in der Bevölkerung sorgte, andererseits neigten einige wirrköpfige Frauen zur Barmherzigkeit und steckten den Gefangenen Lebensmittel zu. Besser war es, sie dem tagtäglichen Augenschein zu entziehen und sie direkt am Ort des Arbeitseinsatzes unterzubringen.

In einem mit Stacheldraht umzäunten Kellergeschoss auf dem Gelände der Nervenklinik hatten sie eine neue Bleibe gefunden.

„Antreten !“, rief Gottlob den Kelleraufgang hinunter. „Wie lange soll ich noch warten?!“

Einer nach dem anderen drängte aus dem engen Kellereingang nach oben, angetrieben von zwei jungen SS-Männern. Sie hatten sich vor Gottlob in zwei Reihen aufzustellen. Es waren ausgehungerte, bemitleidenswerte Kreaturen, die aber im Vergleich zu ihren Leidensgenossen in anderen Lagern das Glückslos mit der Verlegung nach Würzburg gezogen hatten – so sagte man allenthalben. Hier sei das Essen besser und reichhaltiger, die Unterkünfte weniger verrottet, die Zustände erträglicher als in den Steinbrüchen von Flossenbürg und seinen zahlreichen Außenlagern.

Man hatte Unglaubliches von den anderen Lagern gehört und Unbeschreibliches in Flossenbürg selbst erlebt. Dabei beruhte ihre vermeintliche Besserstellung lediglich auf dem Kalkül Professor Werners, seine Anstalt kostengünstig zu erweitern. Er brauchte Arbeitskräfte für seine neuen Lazarette hier am Schalksberg und im Steinbachtal, wo das Waldhaus umgebaut wurde. Gefangene schlichtweg zu verwahren, entzog sich seinem Verständnis, jetzt, nach sechs Kriegsjahren, umso mehr, da sich kaum noch Männer aus Stadt und Land fanden, die seine ehrgeizigen Pläne umsetzen konnten.

Im blendenden Scheinwerferlicht fanden sie sich zusammen, von der nicht abreißen wollenden Arbeit ausgezehrt, von der Kühle eines Frühlingsmorgens hier oben auf dem Schalksberg zitternd. Außer der dünnen Gefangenenkleidung trugen sie einen viereckigen Flecken auf der Jacke mit dem Buchstaben ihrer Herkunft. P stand für Polen, R für Russland und so fort. Aber es gab auch die Abzeichen mit einem schwarzen Viereck für asozial oder ein rosafarbenes für homosexuell.

„Durchzählen!“, blaffte Gottlob sie an.

Neunundvierzig waren es beim letzten Mann, einer fehlte.

„Andrzej krank“, sagte der Erste in der Reihe, ein hagerer Mann mit schwarzem Haar und eingefallenen Wangen. Er trug auf der Jacke ein T für die Tschechei und hörte auf den Namen Viktor. Er war der Vorarbeiter, das Verbindungsglied zwischen den Gefangenen und den Herren.

„Krank?!“ Gottlob schnappte nach Luft wegen der Ungeheuerlichkeit. „Dem geb ich krank. Wo ist er?“

„In Keller“, antwortete Viktor.

„Herbringen!“, befahl Gottlob seinen Wachleuten. Einer hastete zum Kelleraufgang und verschwand darin. In der Zeit, in der Gottlob auf den kranken Gefangenen wartete, ging er die Reihe ab, inspizierte jeden. Eine Schwäche zu zeigen oder für den heutigen Arbeitstag auszufallen, konnte lebensgefährlich werden. So drückte jeder die Brust heraus, wenn Gottlob vorbeiging, hob das Kinn, machte den bestmöglichen Eindruck, auch wenn ihm nach Schlaf zu Mute war.

„Andrzej wird sterben“, flüsterte eine Stimme an Viktors Ohr.

Viktor drehte sich nicht um. Er schüttelte vorsichtig den Kopf. „Er darf nicht.“

„Was willst du tun?“

„Wir müssen ihm helfen.“

„Gottlob wird uns umbringen.“

„Nicht, wenn wir zusammenhalten. Er … der Professor braucht uns.“

„Er holt sich neue aus Flossenbürg.“

„Zu spät. Die Amerikaner sind bald hier. Er muss vorher fertig werden.“

Gottlob fuhr herum, als er etwas gehört hatte. „Wer redet hier?!“ Er ging die Reihe erneut ab, sprach jeden Einzelnen an. „Du? Hast du etwas zu sagen? Was ist?“ Mit der Reitgerte hob er Viktors Kinn an.

Jeder schrak zurück, bis auf Viktor.

„Andrzej guter Arbeiter.“

Gottlob baute sich vor ihm auf, was nicht einfach war, Viktor war gut einen Kopf größer als er.

„Was ist, Polacke?“

„Tscheche, Herr.“

Ein Hieb mit der Gerte ließ ihn verstummen. „Wer hat dich gefragt?!“

Aus dem Kelleraufgang kam der Wachmann zurück. Er trieb Andrzej mit Fußtritten vor sich her, der sich auf allen vieren vor Gottlob vorwärtsbewegte und liegen blieb.

Gottlob stellte sich breitbeinig über ihn, die Gerte klopfte nervös auf seinen Stiefelschaft. „Was ist mit dir?“, fragte er in einem fürsorglichen Ton, der einen mehr erschauern ließ als dass er beruhigte.

„Andrzej krank“, erwiderte er, „Bauch tut weh.“

„Zeig mir, wo genau du krank bist, vielleicht kann ich helfen.“

Spätestens jetzt wusste jeder, dass die Fürsorge in einer Katastrophe für Andrzej enden würde.

„Er wird ihn umbringen“, flüsterte jemand hinter Viktor.

„Das wird der Professor nicht zulassen“, antwortete Viktor leise.

Andrzej drehte sich unter Schmerzen auf den Rücken. Die Hand ging zum Bauch, vollführte dort eine kreisende Bewegung. „Essen nicht gut“, sagte er.

„Unser Essen schmeckt ihm nicht“, rief Gottlob quer über den Platz, damit es auch noch der Letzte in der Reihe der Gefangenen hören konnte. „Aber vielleicht ist es auch so, dass du dem Essen nicht schmeckst … dass du faules Schwein es überhaupt nicht verdient hast.“

Ein Tritt in die Magengrube von Andrzej ließ ihn zusammenfahren. Ein erstickter Schrei.

„Essen ist der verdiente Lohn für gute Arbeit“, schrie Gottlob ihn an. „Wenn du nicht arbeiten willst, dann hast du unser Essen auch nicht verdient.“ Ein weiterer Tritt folgte und mit einem Wink stimmten die zwei anderen Wachleute mit ein. Sie traten auf den wehrlosen Andrzej ein.

„Wir müssen was tun“, sagte einer neben Viktor.

„Willst du auch sterben?“, antwortete ein anderer.

„Viktor, hilf ihm. Sie bringen ihn um.“

Wenn Viktor der Aufforderung nachkäme, dann wäre er als Nächster dran, so viel war sicher. Er blickte zur Seite, hinauf zu dem erleuchteten Fenster, wo sich der Professor gewöhnlich aufhielt und die Bauarbeiten verfolgte. Warum schritt er nicht ein ? Er war doch sonst so aufmerksam, wenn es um den Fortgang auf der Baustelle ging.

„Du willst nicht arbeiten?!“, sagte Gottlob, noch immer mit dem Malträtieren des armen Andrzej beschäftigt. „Warum sollst du dann noch leben?“

Viktor fasste sich ein Herz. „Herr Scharführer“, rief er laut und nahm Haltung an. „Andrzej wichtig für Ausschachten. Nur Andrzej kann machen.“

Anfänglich glaubte Gottlob seinen Ohren nicht zu trauen, aber es stimmte, einer dieser verlausten Polacken legte Widerspruch gegen seine Behandlung ein. Er trat an Viktor heran.

„Was hast du da gesagt?“

„Andrzej wichtig. Ohne Andrzej …“

Ein Schlag in den Magen ließ ihn auf die Knie sacken. „Sag das nochmal“, giftete Gottlob, „und ich erschlage dich an Ort und Stelle.“

Obwohl der Schlag Viktor die Luft zum Sprechen genommen hatte, presste er es heraus. „Andrzej muss arbeiten …“ Es folgte ein Hieb mit der Reitgerte, der Schmerz fuhr Viktor in den Rücken. Ein zweiter Schlag folgte, ein dritter und so fort.

„Ich werde dich lehren mir zu widersprechen“, keuchte Gottlob, während er auf Viktor einschlug.

Plötzlich Schritte, Stiefelabsätze klackten auf dem harten Stein. „Was ist hier los?“

Es war Professor Werner. Der weiße Arztkittel stand weit offen, die SS-Uniform trat in den Vordergrund. Die zwei Wachsoldaten erkannten ihn sofort, gingen in Habacht und machten Meldung.

„Herr Obersturmführer. Gefangener weigert sich zu arbeiten.“

Werner blickte zu Boden, sah zwei Gefangene, der eine blutüberströmt und bewegungslos, der andere in geduckter Haltung. Über ihnen das hochrote Gesicht Gottlobs mit der Gerte in der Hand.

„Gottlob, was soll das?“

„Diesem verfluchten Gesindel muss Respekt eingetrichtert werden.“

Werner schnaufte, wie er es oft tat, wenn er mit etwas nicht einverstanden war. Aber vor den versammelten Gefangenen konnte er Gottlob, seine rechte Hand bei den Bauarbeiten, nicht bloßstellen.

„Was steht für heute auf dem Plan?“, fragte er versöhnlich.

„Das Dach fürs Lazarett“, antwortete Gottlob, „und der Umbau vom Waldhaus im Steinbachtal.“

„Wann können die Arbeiter ausrücken?“

„Sofort, Obersturmbannführer.“

„Dann beeilen Sie sich. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

„Jawoll.“ Gottlob gab den Befehl weiter. „Gruppe Waldhaus abrücken …“

„Was ist mit dem Mann, der da am Boden liegt?“, fragte Werner.

„Klagt über Schmerzen. Aber das ist nur ein Trick, um sich vor der Arbeit zu drücken.“

„Andrzej krank“, schaltete sich Viktor ein, der langsam wieder auf die Füße kam.

Die Hand Gottlobs zitterte bereits, seine Gerte würde auf die Frechheit antworten.

„Bringt ihn in seine Unterkunft“, beschied Werner, „einer meiner Ärzte wird nach ihm schauen.“

„Aber …“ Gottlob japste nach Luft. „Das hat das Pack nicht verdient.“

Werner ging nicht darauf ein. Stattdessen: „Meine Frau braucht Hilfe im Garten. Können Sie einen Mann abstellen?“

„Jawoll, Obersturmbannführer.“ Gottlob schaute sich nach einem geeigneten Kandidaten um. Die Vorderen machten eine hoffnungsfrohe Miene, einer tat gar einen Schritt nach vorne.

„Wie schaut es mit diesem aus?“, sagte Werner und meinte Viktor, der vor ihm stand.

„Ein renitenter Aufwiegler“, erwiderte Gottlob, aber die Entscheidung war gefallen.

„Schicken Sie ihn zum Haus.“

„Aber…“

„Pünktlich um sieben Uhr ist er dort. Verstanden?“ Gottlob ging in Habacht. „Jawoll, Obersturmbannführer.“ Viktor hielt sich den schmerzenden Bauch, ein zufriedenes Lächeln huschte über seine Lippen. Er würde Paul wiedersehen. Alles lief nach Plan.

*

In einem Gartenhaus, einen Steinwurf entfernt von der Nervenklinik, öffnete Helene die Tür zum Zimmer der Kinder. Mit der Kerze in der Hand stieg sie über die kleinen Körper hinweg, die da im Raum eng an eng lagen. Sechs Kinder waren es gewesen, die ihr die Nachbarn und Freunde letzte Nacht auf den Schalksberg geschickt hatten. Seit den Luftangriffen im Februar war man vorsichtig geworden. Hier oben am Rande des Würzburger Talkessels sollte den Kindern kein Unheil drohen, wenn es tatsächlich noch einmal zu einem Angriff käme.

Helene rüttelte an der Schulter des schlafenden Julius. „Aufstehen, es ist höchste Zeit.“

„Mama“, stöhnte er, „lass mich noch ein wenig schlafen.“ „Du hast heute Ministrantendienst. Schon vergessen?“ „Ich will nicht …“

Sie lächelte, denn sie wusste, wie sie ihn rumbekam. Seit Wochen lag er ihr damit in den Ohren, heute würde es endlich so weit sein. „Es soll ein wunderschöner Tag werden. Sonnig und warm.“

Mit einem Mal war er hellwach. „Darf ich kurze Hosen tragen?“

„Wenn du willst …“ Er sprang auf, von Müdigkeit keine Spur mehr. Endlich kam das Frühjahr. Seit Silvester wartete er darauf. Sonne, Fußball spielen, in den Wiesen herumtollen, Boot fahren, mit den Freunden Fangen spielen, seine geliebte mausgraue Lederhose anziehen. Er hüpfte wie ein Hase über Traudel, Benno und Fredericke zur Truhe, erwischte den einen oder anderen an Kopf und Beinen und erntete empörten Protest, der ihn aber nicht scherte, er würde der Erste von ihnen sein, der den Sonnentag begrüßen würde, während sie wie Faultiere den halben Tag verschliefen.

Im Dunkeln tastete er nach der Truhe, fand sie endlich, der Deckel knarrte, als er sie öffnete. Obenauf Hemden, Unterwäsche, Socken … sie musste ganz unten sein. Tief wühlte er sich hinein, bis er sie endlich ertastete. Ja, da war sie. An Beinen und Po war sie hart und glatt wie ein Panzer, die Träger mit dem Edelweißmedaillon waren noch zart und biegsam. Und wie sie roch … Er atmete den Duft des vergangenen Herbstes tief ein. Die Erde, das Heu, Äpfel, Birnen und Quitten, die Abreibung seiner Mutter mit dem Kochlöffel für den zerbrochenen Hochzeitsteller mit dem Goldrand. Er hatte erwartungsgemäß laut geweint, während sie ihn übers Knie legte, insgeheim hatte er sich aber köstlich amüsiert. Durch diesen harten Panzer am Po drang nicht der Hauch eines Schlages auf seine Haut. Damit konnte er den Berg runterrutschen, Geröllhalden meistern wie Luis Trenker auf Skiern die Abhänge in den Alpen, im Tor die härtesten Bälle abwehren. Durch dieses erprobte Leder ging nicht einmal ein Indianerpfeil.

Eilig schlüpfte er hinein, nahm frische Socken und die alten Sandalen, ein Hemd, kurzärmelig natürlich, und ging in die Küche, wo ihn bereits eine Tasse mit dampfendem Kamillentee und Zwieback erwarteten. Das Licht war schummrig, auf dem Tisch stand eine einsame Kerze.

„Hast du deinen Schulranzen gepackt?“, fragte Helene an der winzigen Kochstelle, ohne ihn anzusehen. Sie musste sich beeilen, es würde nicht lange dauern, bis die anderen Kinder an den Tisch kamen. Sechs hungrige Mäuler galt es an diesem Morgen zu stopfen, und bei Gott, sie fraßen wie die Heuschrecken. Die Kiste mit dem Dörrobst war schon zur Hälfte aufgebraucht, die Brotration war dem Abendessen zum Opfer gefallen. Sie hatte es Fredericke zu verdanken, dass sie nicht ganz mittellos dastand und sich vor den Kindern blamierte. Frederickes Mutter hatte ihr Kartoffeln, ein paar Eier, Schmalz und Zwieback mitgegeben. Wusste der Teufel, wo sie das noch herbekommen hatte, in einer Zeit, in der es offiziell kaum noch etwas gab.

„Ich muss los“, sagte Julius, packte den Zwieback in die Hosentasche und schulterte den Ranzen.

Das ging nun selbst für Helene zu schnell. Sie schaute über die Schulter zurück. „Aber du hast doch noch gar nichts gefrühstückt.“

„Mach ich unterwegs.“ Er umarmte sie an der Hüfte, „Hab dich lieb“, und drückte seinen Kopf gegen sie.

Sie seufzte zufrieden. „Ich dich auch.“

Kaum gesagt, war er zur Tür hinaus. „Pass auf, dass du nicht hinfällst“, rief sie ihm hinterher. Doch er war schneller, als die Warnung einer Mutter je sein konnte.

Der Morgen auf dem Schalksberg war zapfig kühl. Julius rieb sich die nackten Arme. Auch an den Beinen kroch es nasskalt zu ihm herauf. Das sollte ein Frühlingsmorgen sein ? Er zögerte. Sollte er zurückgehen und Pullover und lange Hose anziehen? Unsinn. Die eine Stunde bis Sonnenaufgang würde er auch ohne überstehen. Wenn er etwas schneller lief, würde es ihm schon warm werden, und singen konnte auch nicht schaden. So rannte er den Berg hinunter, vorbei an der Irrenanstalt, wie man sie gemeinhin nannte, sah die Gruppe Gefangener in ihrer blau-weiß gestreiften Häftlingskleidung, wie sie sich auf den Weg ins Steinbachtal machte. Es war ihm nicht ganz wohl bei deren Anblick, finstere Gestalten waren sie, gebeugt und hoffnungslos, Galeerensklaven gleich. Was, wenn einer ausscherte und ihn packte? Er ging auf Abstand, nahm den anderen Weg und je weiter er sich von ihnen entfernte, desto größer wurde seine Zuversicht.

„Im Frühtau zu Berge wir ziehn, fallera …“

Das Lied trug ihn beschwingt den weiten Weg zu St. Josef – der zentralen Kirche inmitten Grombühls –, gleich daneben lag die Josefsschule mit dem noch immer nicht reparierten Dach, in das ein kanadischer Lancaster-Bomber auf seinem Rückflug von Schweinfurt im letzten Jahr gestürzt war.

Die kleine Glocke verklang, das letzte Zeichen, dass bald der Gottesdienst beginnen würde. Er war spät dran, obwohl er schnell gelaufen war, warm war ihm geworden und der Atem knapp.

„Wo warst du so lange?“, fragte Pfarrer Titus in der Sakristei, ein im Vergleich zu seinen Brüdern junger Mann, der erst seit kurzem in Würzburg war. Wie er genau hieß, wusste auch noch keiner richtig. Titus war kurz und einprägsam, so beließ man es dabei.

Titus ließ sich von Fritzi und Georg in den Ornat helfen. Man sagte von ihm, er stamme aus einem Dorf im Steigerwald und dass er auf wundersamen Wegen zu Christus gefunden habe. Von Berlin, Paris und London war die Rede gewesen, von verruchten Etablissements, in denen er gesungen haben soll. Und tatsächlich war seine Stimme außergewöhnlich. Wenn er sang, verstummte die Gemeinde in den Kirchenbänken und hörte ihm andächtig zu.

„Tschuldigung“, keuchte Julius, „wird nicht mehr vorkommen.“ Er schnallte den Schulranzen ab und schlüpfte in das Gewand eines Ministranten.

„Ist das nicht ein wenig optimistisch?“, fragte Titus mit Blick auf die nackten Beine und Arme. „Du wirst in der kalten Kirche frieren wie ein Neugeborenes im Winter.“

Julius blickte an sich hinunter. „Keine Sorge, Herr Pfarrer. Ich zähle auf die Einsicht unseres Herrn Jesus Christus.“

Titus lächelte. „Und welche Einsicht soll das sein?“

„Dass es genug ist mit dem Winter und der Kälte. Der Frühling beginnt heute. Hat Mama gesagt. Und es ist besser, ihr nicht zu widersprechen.“

Jeder andere Pfarrer hätte ihm dafür eine Ohrfeige verpasst, nicht aber Titus. Mit ihm konnte man reden, als wäre man ein Erwachsener. Er lachte.

„Dann wollen wir hoffen, dass unser Herrgott auf sie hört. Nicht auszudenken, wenn er andere Pläne hat.“ Er rückte den Ornat zurecht, schlug das Kreuzzeichen. „Lasst uns beten.“

Die drei Ministranten senkten den Kopf und falteten die Hände.

„Allmächtiger Gott und Schöpfer, Herr, Jesu Christ. Wir danken dir, dass du uns das Licht dieses neuen Tages schauen lässt. Lass uns allzeit daran denken, dass wir vor dir Rechenschaft ablegen müssen – über unser Leben, über alles, was wir getan, aber auch, was wir unterlassen haben. Herr, unser heutiger Tag soll so sein, dass er vor dir bestehen kann. Amen.“

„Amen“, wiederholten die drei und schlugen das Kreuzzeichen.

„In diesem Sinne“, sagte Titus, „lasst die Glocken singen.“

Domerschulgasse

„Jetzt jeht dat schon wieder los!“

Ursula saß aufrecht im Bett. Das Zimmer war stockdunkel, die Fenster mit rußgeschwärztem Papier verdunkelt. Obendrein trug sie eine Schlafbrille mit aufgestickten Rosen – ein Geschenk ihres Ehemanns Hans, von ihr liebevoll Hänschen gerufen. Die beiden Kölner gehörten zu den vielen Ausgebombten, die in Würzburg untergekommen waren und an denen die hilfsbereiten Bürger mitunter schwer zu tragen hatten. Obwohl sie selbst aus einer großen Bischofsstadt kam, war Ursula das allmorgendliche Geläut der zahlreichen Kirchenglocken zu viel. Sie rüttelte ihren Hans wach. „Hänschen, so wach doch auf.“

Schlaftrunken drehte der sich zu ihr um, nahm die Wachspfropfen aus den Ohren.

„Wat is, Uschi?“

„Hörst du denn die Glocken nicht? Hunderte. Sind denn in Würzburg jetzt alle verrückt jeworden?“

„Et jeht in die Kirche, Röschen. Sind halt gottesfürchtige Menschen hier.“ Er steckte sich die Wachspfropfen wieder in die Ohren und drehte sich um. „Komm, schlaf noch ein bisschen, is noch früh am Morjen.“

„Wer kann denn bei dem Radau noch schlafen?“

Hänschen antwortete nicht, er hörte nichts mehr.

„So tu doch etwas. Dat kann so nich weiterjehn.“

Sie rüttelte ihn abermals, aber Hänschen war gerade dabei, wieder in den Schlaf zu fallen. „Ruhisch, Uschi. Schlaf weiter.“

„Dat lass ich mir nicht länger jefallen.“

Sie streifte die Schlafbrille ab und tastete sich am Bett entlang. Der Morgenrock lag griffbereit am Fußende. Noch zwei Schritte bis zur Tür, größer war das Zimmer nicht. Auf dem Gang brannte eine geweihte Kerze am Fuße einer Marienfigur. Sie sollte das Haus und ihre Bewohner vor Unglück schützen. Darüber an der Wand ein Bild in einem schweren Rahmen. Es zeigte eine Gebirgslandschaft mit verschneiten Wiesen, einen röhrenden Hirschen und eine Holzhütte mit beleuchtetem Fenster. Weißer Rauch stieg aus dem Schornstein in den anbrechenden Morgen. An einer Stelle war das Gemälde mit einem Faden geflickt. Bei ihrem Einzug war Uschi darangestoßen und hatte damit die Grundstimmung zwischen ihr und Vinzenz, dem Eigentümer der Wohnung, etabliert. Das Bild hatte seine Frau gemalt, die verstorbene Gerda – ein Kind der Alpen, sie ließ einen Ehemann und eine Tochter zurück.

Doch das war im Moment Nebensache. Dieser Krach musste aufhören. Uschi klopfte vehement gegen Vinzenz’ Tür.

„Vinzenz, aufwachen!“ Nichts regte sich. Sie klopfte erneut. „Vinzenz, hörst du nicht? Die Glocken!“ Drei Schritte weiter ging dafür eine andere Tür auf. Es war Waltraud, verschlafen, mit offenem Haar und im Nachthemd.

„Was ist, Ursula? Wieso machst du so einen Krach?“ Sie gähnte.

Dieses oberschlesische Flüchtlingsweib hatte ihr gerade noch gefehlt. „Nicht deine Sache. Geh wieder schlafen.“

„Aber du weckst die Kinder auf.“

Eines ihrer vier Kinder tauchte schlaftrunken an ihrer Seite auf.

„Muttel, was is?“

Sie kniete sich zu ihm herab, streichelte dem Kleinen über den Kopf. „Nichts is. Die Tante Uschi kann nur wieder nicht schlafen.“

„Dat hat ja auch seinen Grund“, trotzte Uschi. „Mit diesem Geläute weckt man Tote auf.“

Sie klopfte erneut, nein, sie hämmerte gegen Vinzenz’ Tür.

„Und was soll denn der Vinzenz dagegen machen?“, fragte Waltraud kopfschüttelnd.

„Wat weiß ich“, entgegnete Uschi, „dem Pfarrer die Faxen austreiben.“

Die Tür ging auf. Ein ebenso verschlafener wie gereizter Vinzenz stand im weißen Nachthemd vor ihr. Der linke Ärmel hing schlaff herab, den Arm hatte er im letzten Krieg in Frankreich verloren.

„Was ist jetzt schon wieder?“, raunte er Uschi an.

Die grauen Haare standen quer, der graue Bart war stoppelig, eine Rasur erst wieder möglich, wenn seine Tochter Fanny Zeit dafür fand. Diese Woche hatte sie Frühschicht, ging also um fünf Uhr aus dem Haus, und wenn sie abends zurückkam, konnte sie vor Müdigkeit kaum den Suppenlöffel halten.

Uschi stemmte die Hände in die Hüfte. „Hörst du denn das nicht?“

„Was?“, fragte er überdrüssig.

„Die Glocken!“ Sie zeigte mit dem Finger nach oben. Vinzenz hörte in die Stille. Das Geläut war inzwischen verstummt, überall hatte die allmorgendliche Messe begonnen. Ruhe war eingekehrt.

Er seufzte. „Wie lange wohnst du jetzt schon unter meinem Dach?“

„Einen Monat.“

„Und dir ist seitdem nicht aufgefallen, dass die Glocken nach drei Minuten wieder verstummen?“

„Darum jeht et nich.“

„Sondern?“

„Dass sie mitten in der Nacht überhaupt läuten.“

„Dann hast du dir die falsche Stadt ausgesucht. Wir sind stolz auf unsere Kirchen.“

„Willst du uns etwa vor die Tür setzen?“

„Erspar mir die Antwort.“ Er gähnte. „Geh jetzt wieder schlafen.“

Die Zornesröte stieg ihr ins Gesicht. „Ich werde mich auf dem Amt über dich beschweren.“

„Tu das, und vergiss nicht, gegen wen du dein Geschrei erhebst.“

Er knallte ihr die Tür vor der Nase zu. Zurück blieb eine konsternierte Uschi. „Dat is unjeheuerlich.“

Waltraud ging auf sie zu. „Überleg dir das gut. Wo wollt ihr hin, wenn Vinzenz euch nicht mehr haben will?“

„So weit kommt et noch. Ich kenne Leute …“

„Beruhige dich und sei dankbar. Uns wurde alles genommen. Haus, Habe und unser Stolz als Deutsche. Sei froh, dass du hier ein neue Bleibe gefunden hast.“

„Das interessiert mich nicht!“ Sie stapfte in ihr Zimmer zurück und schlug die Tür zu, sodass die Kerze vor der kleinen Marienfigur umfiel.

Zum Glück hatte es Waltraud bemerkt. Die Flamme hätte die gehäkelte Unterlage entzündet. Sie seufzte und richtete die Kerze wieder auf. Ein kurzes Gebet zur Heiligen Jungfrau und dass dieser Wahnsinn bald vorüber sein mochte.

„Was ist los?“, fragte Erwin, ihr Mann, der aus dem Zimmer kam. An jeder Hand hatte er ein Kind, das vom Gezänk auf dem Gang geweckt worden war.

„Ursula“, antwortete Waltraud. „Sie kann es einfach nicht verwinden, dass sie kein Zuhause mehr hat. Arme Frau.“

Bombennacht

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