Читать книгу Vom Leben verletzt - Romy Hofmann - Страница 10

Bindung & Halt

Оглавление

Es musste nicht „das alles“ mit Leonie in meinem Leben passieren, um mich zu dem Menschen zu machen, als der ich gerade erscheine. Vielleicht wäre es ein Urlaub in einem fernen Land gewesen, eine Begegnung mit einem wundersamen Lebewesen… Und doch ist gerade das Erleben eines so menschlichen Schicksals verknüpft mit einem wesentlichen Merkmal unseres Lebens, einer Fähigkeit, welche neben den Menschen auch einige Tiere und Pflanzen, in anderer Form vielleicht, einzugehen vermögen: Bindungen.

Menschen sind auf ganz viele unterschiedliche Weisen miteinander verbunden. Oft wissen, aber merken wir das nicht einmal. Eine (Ver-)Bindung hat auch stets mit Abhängigkeiten zu tun. Eine Abhängigkeit ist dabei nichts ausschließlich Negatives; sie geißelt und fordert uns nicht nur. Wie ein unsichtbares Netz werden wir durch unsere Bindungen im Alltag festgehalten und erfahren Geborgenheit, Zuneigung, Aufmerksamkeit. Diese Beziehungen gehen wir bewusst oder unbewusst ein, erhalten sie unterschiedlich stark am Leben und aktivieren sie in Momenten, in denen wir sie besonders nötig haben. Daneben existieren Bindungen auch „einfach so“. Das macht es uns Menschen gefällig und bequem. Gleichzeitig aber können solche Bindungen auch schnell und unverhofft brüchig werden und ihre Verletzlichkeit offenbaren.

Der Aufbau einer Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind findet bereits sehr früh im Mutterleib statt. Auch wenn ich keine Expertin in diesem Feld bin, so kann ich erfahrungsbasiert feststellen, dass es eine stetige Entwicklung ist, in der sich das Verhältnis zwischen Mutter und Kind behutsam aufbaut und gleichzeitig wandelt. Hierbei sind es vor allem die spürbaren Veränderungen, erste Bewegungen oder auch ein Ultraschall, der der Mutter und den Eltern ihr Kind näher bringt. Ich habe mit Leonie gesprochen, habe sie mir vorgestellt, sie mit in meinen Alltag eingebunden. Dabei wage ich zu behaupten, Leonie nie außergewöhnlich behandelt zu haben, doch mit erhöhter Vorsicht. Als schützenswertes Wesen galt Leonie in bestimmten Momenten meine ganze Ausdauer, meine Entschlossenheit, mein Ehrgeiz - sowohl im Mutterleib als auch später im Alltag. In der Zeit, die wir mit Leonie in der Klinik verbracht haben, versuchte ich diese Bindung aufrecht zu erhalten, trotz der Umstände, der Widrigkeiten und eines nicht „Bilderbuch-ähnlichen“ Zusammenseins zu Hause. Es blieb aber auch hier stets eine Wechselwirkung: die Annäherung fand nie ohne Abgrenzung statt. So sehr ich mich auch Leonie, ihren Schmerzen, ihrem Schreien, ihrem Lachen hingab, so musste ich mich davon abgrenzen, da ich im Sinne des eigenen Schutzes nicht alles auf mich nehmen konnte. Nie habe ich eine Mauer gebaut, durch die mich Leonie in dem einen oder anderen Moment nicht leiden sah. Aber es waren Momente, in denen ich Verantwortung bildlich gesprochen an Ärzt*innen oder imaginäre Konstrukte abgab, wenn sie ihr Schmerzen erleichtern sollten; an meinen Mann, der Leonie beruhigen sollte. Auch diese Abgrenzung hat unsere Bindung gestärkt; hat mir geholfen, einen Schritt zurückzutreten um wieder zwei nach vorn zu gehen. Es ist mehr als ein Band entstanden, das zwei Menschen miteinander verbindet und sie für immer festhalten mag. Es ist wie ein großes Gebäude, ein Schloss, das immer wieder neue Zimmer offenbart beim Durchlaufen, das zum Ausruhen und zur Bequemlichkeit einlädt, genauso wie es Arbeit bedarf, Umordnung bedeutet und sich so stets kleineren oder größeren äußerlichen wie innerlichen Veränderungen gegenübersieht. Die Bindung zum eigenen Kind ist dabei sicherlich eine spezielle, die sich von anderen unterscheidet. Von klein auf werden Menschen in Beziehungen verwickelt und lernen, sich anderen Menschen gegenüber zu verhalten - beispielsweise so, wie es die Eltern wollen, wie sie selbst es wollen oder wie andere es wünschen. Dieser Lernprozess prägt auch spätere Bindungen. Nie aber sind solche Muster so schematisch gelernt wie das Alphabet oder die „Punkt-vor-Strich-Regel“ in der Mathematik. Wir müssen uns auch darauf einlassen können, ohne zu wissen, was dabei passieren kann.

Leonie war mein erstes Kind. Die Beziehung zu ihr war für mich zunächst etwas Neues. Sie hat mich überwältigt, in vielerlei Hinsicht. Ich habe eine so intensive Bindung noch nie erlebt und selbst ausgefüllt. Erst mit und durch Leonie war mir das möglich. Doch auch heute noch fällt mir das in-Worte-fassen schwer, da die Abgrenzung zwischen einer Alltäglichkeit und Besonderheit - eine Mutter und Mutter eines schwer chronisch kranken Kindes zu sein - gefühlt fließend verläuft und ich Aufgaben und Verantwortung als Mutter von Leonie vollbracht habe, ohne bewusst zu unterscheiden, was denn normal und was anders war, oft auch aus dem einfachen Grund, dass ich es nicht wusste. Verletzlich und brüchig war diese Beziehung selten, weil ich zu geben alles vermochte. Die Aufopferung empfand ich nie einseitig; was ich von Beziehungen zu anderen Personen nicht immer behaupten kann. Verletzlich war die Bindung zu Leonie aber dennoch, weil ich mich verletzlich fühlte: nach einer fast schlaflosen Nacht, nach acht Stunden von frühmorgens an, in denen sich Leonie kaum wirklich beruhigen ließ und ich immer noch im äußerst bescheidenen Antlitz in den vier Wänden umherwandelte. Aber auch das konnte die Besonderheit unserer Beziehung nicht erschüttern. Hinzu kommt dieses Band, das ich über den Tod hinaus mit Leonie aufrechterhalte und wiederum außergewöhnlich wahrnehme.

In der intensiven Bindung zu Leonie ist mir der außerordentliche Wert der Eltern, meiner Eltern besonders deutlich geworden. Wertvoll sind die eigenen Eltern, das weiß man selten auszusprechen noch zu denken, zumindest mit weniger emotionaler Intensität und begründet. Sicherlich, es sind (Extrem-)Situationen, in denen wir nicht allein klarkommen (wollen, müssen, können), die uns diese Bindung anerkennen lassen, weil dann Eltern oft „da“ sind. Doch die Bindung zu den Eltern besteht ja trotzdem, wie ein unsichtbares Netz, das uns hält und das auch Lücken haben kann. Über Jahre hinweg wird ein solches Netz aufgebaut, ob monetär oder ideell auf sehr unterschiedliche Weisen. Es gibt unzählige verschiedene Eltern-Kind-Beziehungen und keine wird der anderen gleichen. Ich schätze meine Eltern aufs Höchste, da sie auch ohne (viele) Worte, ohne Gegenleistungen zu fordern, als ein Teil meines Schutzschildes für mich da sind. Ich glaube als Eltern eigener Kinder sind sie auf eine einzigartige Weise mit den Kindern ihrer Kinder verbunden. „Groß“-Eltern, da steckt ein Teil der Bedeutung schon im Begriff selbst. Großeltern sind größer im Sinne von älter, stehen an räumlich gesehen höherer Stelle im Stammbaum als die (Enkel-)Kinder. Aber groß-artig ist eben auch die Beziehung selbst. Oft werde ich beim Anschauen eines speziellen Fotos daran erinnert: Es war ein Besuch an einem schon frühlingshaften Tag und meine Eltern hatten mir Leonie für einen Spaziergang abgenommen. Anschließend saßen wir draußen bei Kaffee und Kuchen, Leonie bei ihrer Oma auf dem Schoß. Beide strahlen etwas sehr Intensives, Eigenes aus, das ich kaum zu beschreiben in der Lage bin. Es ist ein bezauberndes Bild, kommt ohne große Deko aus. Zwei Menschen, die zufrieden sind. Es scheint ein Glück von unaussprechlicher Bedeutung. Was für ein Moment! Am gleichen Tag entstanden weitere solcher Fotos - mein Vater hat ein Händchen dafür. Ja, so war Leonie, es war ihre Art. Ich bin so dankbar für diese Fotos - neben den unzählig vielen anderen, die uns Leonie geschenkt hat. Ich bin dankbar solche Eltern zu haben.

Vom Leben verletzt

Подняться наверх