Читать книгу Vom Leben verletzt - Romy Hofmann - Страница 14
WIE ES GEHT - WAS GEHT? WOHIN UND WIE WEIT GEHEN?
ОглавлениеSehr viele Menschen pflegen ein Ritual, nach dem sie sich beim (Wieder-)Sehen auf der Straße oder am Arbeitsplatz gegenseitig nach ihrem Zustand befragen. Das passiert oft sehr knapp und berechenbar: „Wie geht’s dir?“ - „Gut, danke und dir?“. Es scheint gerade dazu zu gehören, sich im Alltag so zu begegnen und Interesse an bzw. am Anderen zu zeigen. Für mich aber ist die scheinbar so kleine und kurze Frage nach dem „Wie geht’s?“ in ihren sämtlichen Abwandlungen mit Füllwörtern, z.B. „na“ oder „denn“ oder „so“ eine kolossale Frage geworden. Nur um einen Vergleich zu bringen: Wäre nicht selbst ein Klimaforscher mit der Frage nach der Bedeutung des Klimawandels für uns, ein Politiker mit der Frage nach der Globalisierung oder ein Geograph mit der Beschreibung unserer Erde überfordert? Sehr wahrscheinlich würde jede*r ander*e Expert*in ganz andere Facetten zur Beantwortung der Frage hinzuziehen, auch wenn sie als „Expert*innen“ für dieses oder jenes Gebiet gelten. So ähnlich verhält es sich in meinem Kopf mit der Frage nach dem „Wie geht’s?“ Natürlich bin ich auch Expertin für mich und meine Gefühle, kenne meinen Körper und meine Gedanken. Doch es kommt nicht darauf an, etwas zu wissen, etwas erklären zu können - dazu wäre ich freilich in der Lage, würde man mich einen Moment lang überlegen lassen oder gar die Frage etwas präzisieren. Doch es ist insbesondere auch die / der Gegenüber und der Kontext, in dem die Frage „Wie geht’s“ gestellt wird. In der zehrenden Zeit im Krankenhaus, in der es manchmal scheinbar nicht voranging, ich meine Routinen täglich abspulte und nun ja, auch gar nichts wirklich Besonderes passieren konnte, vielleicht aber auch ein Rückschlag einzustecken war, begann ich, mich mit dieser kleinen Frage unwohl zu fühlen. Irgendwann da setzte eine Sensibilisierung ein, vergleichbar wie eine sich anbahnende Allergie oder Krankheit. Später, wenn ich schon viele dieser Fragen gehört und mich zu einer Antwort quälte hatte, wollte ich einfach keine Antwort mehr geben, weil ich das Gefühl hatte, dass nichts in der Welt auch nur annähernd ausdrücken konnte, wie es mir tatsächlich ging. Ich zerlegte Wörter in einzelne Bestandteile, bis sie mir vorkamen wie Hieroglyphen. Gehen - tut bei mir gar nichts. Ich gehe nicht. Es geht nicht. Man hätte mir jegliche Frage in einer unbekannten Sprache stellen können, es wäre aufs Gleiche hinausgelaufen. Bei einer offensiveren Haltung, konkret: als ich antwortete, dass ich auf eben diese Frage keine Antwort mehr gebe, waren Menschen verärgert, erbost. Es war ein Unverständnis auf beiden Seiten. Wie soll es denn schon gehen, wenn die eigene Tochter schwerst krank ist, wenn die eigene Tochter gestorben ist? Schlecht? Ja, sehr schlecht. Aber weder gut noch schlecht waren in dem Moment die passenden Schubladen, in die ich hätte meine Gefühle hineinsortiert. Es gab so eine Kategorie nicht, keine Schublade dieser Größe und Stabilität, die meine Antwort hätte aushalten können. Was mir dann in einigen Fällen entgegengebracht wurde, waren indirekte Vorwürfe der Fragenden. Oder aber, ich sei „hart“ geworden. Leider, denn sobald ich mich einmal nicht mehr der Alltäglichkeiten hingab und einen Schritt zur Seite ging, bildlich gesprochen, wurde mir sogleich ein Stempel aufgedrückt. Ja, manche Leute reagierten dann auch so, dass sie meine Antwort ins Lächerliche zogen. Meine Gefühle wurden heruntergedrückt und vereinfacht. So minimiert, dass die Anderen vielleicht glaubten zu verstehen, wie es mir ging, aber damit eigentlich nur sich sahen - und mich nicht verstanden. Ich fühlte mich schuldig durch solche Reaktionen und war es doch nicht.
Eine ganze Zeit später habe ich in einem Internet-Video einen sehr treffenden Satz dazu gehört. Der Autor meinte, dass es bei der Frage nach dem „Wie geht’s“ nicht wichtig sei, dass jemand frage, sondern bei der Antwort zuhöre und daran interessiert sei. Natürlich, das zu differenzieren ist ein fast unlösbares Rätsel, weil Kommunikation nie allein auf einer sicht- und hörbaren Ebene stattfindet, sondern zwischen den Zeilen und unbewusst. Wem nehme ich ein wahres Interesse ab und wem nicht; kann ich es den Menschen an-sehen oder an-hören? Wer hat Geduld, sich meiner Antwort anzunehmen und vielleicht sogar darauf zu reagieren? Erst viel später, nach vielen solchen Fragen - die auch gern umschrieben wurden, aber das Gleiche wollten - erkenne ich die Schwierigkeit darin, meine eigene Fehlbarkeit. Und trotzdem habe ich einen Weg gefunden, um den Fragenden eine irgendwie passende Antwort zu geben.
Ob es mir gut oder schlecht geht, immer empfinde ich das auf einer ganz anderen Ebene. Ich habe das Gefühl, dass mein Leben in mehr als drei oder vier Dimensionen verläuft. Ich sehe, höre, rieche, schmecke, taste. Aber ich empfinde noch einmal anders. Möglicherweise sehe, höre, rieche, schmecke, taste ich etwas anders. Aber ich schätze mich zufriedener mit der Fähigkeit, auf pauschale Aussagen oder oberflächliche Kommentare zu verzichten, mir Zeit zum Antworten zu nehmen, mich meinen Empfindungen hinzugeben. Das macht mein Leben intensiver; nicht immer einfacher. Aber das muss es auch nicht.
Ein anderes, scheinbar kleines Wörtchen begleitete mich in der ganzen Zeit fast genauso häufig, und tut es auch immer noch: „soweit“. „Es geht Leonie soweit gut“. „Soweit sind Ihre Blutwerte in Ordnung“. Ja wie weit denn? Kaum eine Person führt dieses Wort aus, wenn ich nicht explizit danach frage, und ich meine, dass sich wenige Menschen der eigentlichen Tragweite dessen bewusst sind - eine Tragweite, die ich dahinter spüre, eine Unendlichkeit, eine „so-Weite“, die mir weder Halt noch Sicherheit gibt. Mir aber ist es wichtig zu wissen, wie weit etwas in Ordnung oder aber gut ist. Wahrscheinlich kommt erschwerend hinzu, dass das Wort soweit oft in Verbindung mit einem Gut oder Schlecht genannt wird, was mich noch einmal mehr vor Rätsel stellt. Ich gebe zu, ab und an verwende ich „soweit“ auch, wenn ich einmal nicht die Kraft spüre, zu differenzieren oder nicht das Gefühl habe, der / dem Gegenüber ausführlich antworten zu müssen. Ehrlich bleibt meine Antwort dennoch. Es fehlt lediglich das Komma, das das Wörtchen in einem oder zwei Nebensätzen ausführen würde. Und das, was ich von mir selbst erwarte, erwarte ich in solchen Situationen auch von anderen Menschen. Dass diese Haltung nicht immer von gegenseitigem Verständnis geprägt ist, weiß ich.
Darüber hinaus wurde uns das ein oder andere Mal, insbesondere nach Leonies Tod, der Wunsch nach „Viel Kraft!“ mit auf den Weg gegeben. Kraft - was für ein Wort, das scheinbar für sich spricht, doch kann es so vieles bedeuten, oder nicht? Kräftig sein: Muskeln haben, um schwere Dinge zu tragen, Kraft haben, um nicht zusammenzubrechen, Kraft um vielleicht auch nicht zu viel zu weinen? Aber wer oder was ist es - außer den Muskeln -, die meinem Körper das erlauben? Diese Kraft kommt nicht einfach so, sie entwickelt sich erst, so, wie sich Muskeln aufbauen. Viel Kraft schöpfe ich aus Erinnerungen, die ich mir aber auch erst als eine Art inneres Gerüst aufgebaut habe. Auch hiermit möchte ich nichts und niemanden anklagen. Ich muss selbst noch herausfinden, was ich mir aus dieser Aussage in den jeweiligen Kontexten herausnehme. Denn leider bleiben die Worte oft allein so stehen. Und gleichzeitig frage ich mich: Muss ich für mich herausfinden, was Adressat*innen damit meinen? Könnten nicht sie noch ein paar Worte mehr hinzufügen, damit ich nicht noch eine zusätzliche Aufgabe habe, außer stark sein zu müssen? Darf ich nicht vielleicht auch keine Kraft haben? Oder ist das dann zum Beispiel die Kraft, keine Kraft haben zu dürfen? So eine Vorstellung scheint mir plausibel. Innere Stärke, um Positivem wie Negativem zu begegnen. Dann braucht jeder Mensch immer Kraft, die hier und da abgerufen wird.
Um die Missverständnisse ein wenig auszuführen, möchte ich mich noch weiteren, vorerst letzten Aussagen widmen, die mich in meiner Sensibilität für Sprache verfolgen. Es sind Entgegnungen in vielleicht unschönen Momenten, in meinen Erzählungen, die von Zuhörer*innen scheinbar kommentiert werden „müssen“, es aber oft nicht brauchen oder anders verdienten. „Das glaube ich dir“, „Das ist doch klar“, „Das ist verständlich“ - es sind nur einige Variationen der Aussagen, die ich meine. Fast fehlt mir die Kraft oder die Sprache, um mein Unverstehen darüber zu äußern. Wie können Menschen meinen zu wissen, was ich fühle, wie kann man verstehen, was ich denke und wie soll etwas klar sein für jemanden, der nicht ich ist? Ich habe zum Beispiel Angst vor möglichen Krankheiten oder Vorfällen, sei es bei Leonie gewesen oder um mich selbst. Ja, und fast jede*r meint, mein ängstlich sein nachvollzuziehen zu können. Ich aber glaube das den Menschen nicht, da sie ganz andere Wahrnehmungen und Empfindungen entwickeln, auch wenn sie Leonie oder mich gut kennen. Es ruft in mir einen Konflikt hervor, wenn für andere etwas „klar“ ist, wenn doch mein Inneres überhaupt nicht klar ist und sich Situationen komplex darstellen, von Gedanken getrieben werden, die kaum ein Ende finden. Es scheint mir paradox. Und so lande ich erneut in einer Situation, in der ich mich nicht verstanden fühle - ein schlichtweg unerträgliches Gefühl.