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Sorgen statt Schlaf

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In der ersten Hälfte des Jahres 2020 ist die Volkswirtschaft stark eingebrochen. Die Staatsschulden sind massiv gestiegen und haben damit einen neuen Rekord aufgestellt. Wohl jedem*jeder, der*die sich online für länger als zehn Sekunden die tickende Schuldenuhr Deutschlands anschaut, wird schwindelig. Die Lage verunsichert, und es stellt sich die Frage, wer für diese Schulden aufkommen wird. Die repräsentative Umfrage »Die Ängste der Deutschen« fragt Bundesbürger*innen seit mehr als dreißig Jahren nach ihren größten Sorgen. Nach sechs Jahren Pause liegt die Angst um die Wirtschaft wieder ganz vorn in diesem Land. Die Hälfte der Befragten (51 Prozent) befürchtet steigende Lebenshaltungskosten. Darüber hinaus rechnet knapp jede*r zweite Befragte (49 Prozent) mit Kosten für die Steuerzahler durch die neue EU-Schuldenkrise und einer schlechteren Wirtschaftslage.11

Was macht die Angst in Krisen langfristig mit uns? Das Psychologenduo Miriam K. Forbes und Robert F. Krueger zeigte anhand von Langzeitdaten vor und nach der Finanzkrise 2008, dass Personen, die finanziell unter der Krise gelitten hatten, auch verstärkt von Depressionen und Panikattacken betroffen waren.12 Die Angst, in einer weltweiten Krise auch noch den Job zu verlieren, hat Menschen zum Teil krank gemacht. Dass die Coronakrise in dieser Hinsicht einen ähnlichen Effekt haben könnte, bestätigt auch das besorgniserregende Bild von ausgewerteten Versichertendaten im Pandemiejahr. Laut der Kaufmännischen Krankenkasse wurde im ersten Halbjahr 2020 ein Zuwachs von achtzig Prozent an Krankmeldungen aufgrund psychischer Ursachen verzeichnet.13 Die Sorgen brennen sich ein.

»Der Anstieg psychischer Erkrankungen während der Pandemie hat mich nicht überrascht«, sagte ich zu Mya. Ich öffnete die zweite Flasche Wein, wohl wissend, dass ich am nächsten Tag Kopfschmerzen haben würde, und füllte unsere Gläser.

»Danke dir … Wieso hat dich das nicht überrascht?«, fragte Mya und nahm ihr Glas.

»Weil wir schon lange vor der Pandemie auf dem falschen Weg waren«, erklärte ich. »Immer mehr Menschen nehmen zum Beispiel Antidepressiva. Und wenn es nichts Verschreibungspflichtiges ist, dann wird was anderes geschluckt.«

Tatsächlich wurden 2007 noch etwa 14 Millionen Tagesdosen Antidepressiva pro Jahr verschrieben. Mittlerweile sind es Berichten zufolge doppelt so viele.14 Immer mehr Menschen geht es seit Jahren nicht gut. Die Pandemie verstärkt diese Entwicklung und wird Ängste vermutlich noch über Jahre hinweg anhalten und wachsen lassen. Psychische Erkrankungen überdauern in der Regel wirtschaftliche Krisen. So hat auch die Arbeit der zwei Forschenden Forbes und Krueger von 2008 gezeigt, dass Panikattacken zum Beispiel auch noch vier Jahre nach der Wirtschaftskrise anhielten.15 Ängste können sich zu einer chronischen Erkrankung entwickeln, die Menschen ihr Leben lang begleitet. Dauerhafte Anspannung, Stress und Sorgen werden zu einem Teufelskreis. Das Kuriose ist, dass Menschen teils so unter Strom stehen, dass sie sich ihren Ängsten gar nicht mehr bewusst sind. Sie verfolgen Betroffene bis in den Schlaf hinein – sofern sie Schlaf denn überhaupt zulassen.

So habe ich es schon früher bei meinem älteren Bruder erlebt, als dieser gerade sein Abitur machte. Unsere Kinderzimmer befanden sich nebeneinander, und unsere Betten waren zur selben Wand hin ausgerichtet. Oft unterhielten wir uns von Zimmer zu Zimmer oder gaben uns Klopfzeichen, so dünn war diese Wand. Umso deutlicher hörte ich, als mein Bruder während seiner Abiturzeit plötzlich mitten in der Nacht zu schreien begann. Er schlug mit den Fäusten gegen die Wand und trat mit den Füßen dagegen. Meine Eltern und ich wurden durch den Lärm aus dem Tiefschlaf gerissen. In den ersten paar Nächten rannten wir noch zu ihm rüber, um ihn zu beruhigen. »Geht’s dir gut?«, fragten wir besorgt. Im Halbschlaf grummelte er irgendwas und schickte uns aus dem Zimmer. Am nächsten Morgen am Frühstückstisch war er sichtlich erschöpft, als er seine Cornflakes löffelte. »Wie geht’s dir?«, fragte ich ihn vorsichtig. »Gut, nur müde«, antwortete er knapp und wippte auf seinem Stuhl hin und her. Er hatte die Uhr überm Herd im Blick und wollte auf keinen Fall zu spät zu seiner Prüfung kommen. An die vorige Nacht konnte er sich nicht mehr erinnern. Er war aufgebraucht, bevor der Tag überhaupt richtig angefangen hatte.

»Was hat ihm geholfen?«, wollte Mya wissen.

»Nach der stressigen Abiturphase hat es von allein wieder aufgehört«, sagte ich schulterzuckend. Ich erzählte ihr, dass auch ich diese Phasen habe, in denen mich Albträume durch die Nächte jagen: »Ich beiße dann so fest die Zähne zusammen, dass ich morgens Kiefer- und Kopfschmerzen habe.«

Mya verzog das Gesicht und sagte, dass sie Einschlafprobleme habe, was wiederum zu Müdigkeit am nächsten Tag führe. »Manchmal liege ich die ganze Nacht wach und denke nach«, sagte sie.

Wir sind keine Einzelfälle. Laut bundesweiten Datenerhebungen der Krankenkassen schlafen vor allem die 19- bis 29-Jährigen zunehmend schlechter. Der Anteil in dieser Altersgruppe, bei dem nicht organisch bedingte Schlafstörungen diagnostiziert wurden, hat sich von 2007 bis 2017 fast verdoppelt. So hoch war der Anstieg in keiner anderen Altersgruppe.16 Es kann davon ausgegangen werden, dass die Dunkelziffer noch sehr viel höher ist, denn bei Schlafstörungen wird nicht immer direkt professionelle Hilfe gesucht. Dabei können aus Schlafstörungen in jungen Jahren psychische Erkrankungen im Erwachsenenalter entstehen.

»Unsere Generation scheint schon ziemlich zerstört zu sein«, stellte Mya fest.

Ich nickte. »Aber irgendwie will das niemand sehen. Obwohl es immer mehr jungen Menschen psychisch nicht gut geht, baut die Politik darauf, dass die junge Generation die Wirtschaft nach der Coronakrise wieder aufblühen lassen wird«, sagte ich und fragte mich insgeheim, ob wir dazu wirklich die Kraft haben würden. Schließlich handelte es sich bei dieser jungen Generation in vielen Fällen um genau die Menschen, die während der Pandemie aufgrund befristeter Verträge auf die Straße gesetzt und mit ihren Existenzängsten weitestgehend allein gelassen wurden. Viele von ihnen haben sich schon in den Jahren zuvor von einer befristeten Beschäftigung zur nächsten gehangelt, mit dem Gefühl, nie wirklich anzukommen. Eben ganz nach dem Motto: »Die Jungen sind doch flexibel.«

Mit lauter Stimme beklagte Mya, dass von jungen Menschen ganz selbstverständlich so viel erwartet wird: »Wir müssen flexibel sein. Es werden zahlreiche Anforderungen an uns gestellt. Das fängt beim Auslandspraktikum an, geht je nach Branche über etliche Computerprogramme, die wir beherrschen müssen, und hört bei Fremdsprachen auf. Die Generation vor uns konnte Word und allerhöchstens eine einzige Fremdsprache. Das ist doch unfair!«

Ich musste anfangen zu grinsen, denn ich erinnerte mich plötzlich daran, wie mein Vater früher von einem Tag auf den anderen für seinen Job Englisch lernen musste. Ich war vielleicht in der sechsten Klasse, als er damals in mein Kinderzimmer kam und mich fragte, ob ich noch ein Vokabelheft übrig hätte. Er war Mitte vierzig und paukte jeden Tag, um die Weltsprache zu beherrschen.

Jung, besorgt, abhängig

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