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Du bist gut? Gut ist leider nicht gut genug!

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Die junge Generation von heute hingegen wächst bereits mit mehreren Sprachen auf. Im März 2002 hat der Europäische Rat in Barcelona beschlossen: Jedes Kind in der EU soll von klein auf zwei Fremdsprachen erlernen.17 Bei mir hat das nicht funktioniert. Ich habe zwar in der Schule ein paar Jahre Französisch gehabt und deswegen auch auf meinem LinkedIn-Profil stehen, dass ich die Sprache der Diplomatie beherrsche, aber eigentlich ist das gelogen. Meine frühere Französischlehrerin würde es jedenfalls nicht unterschreiben. Heutzutage werden Kinder schon im Krabbelalter auf die globalisierte Arbeitswelt vorbereitet. Laut Angaben des Bundesfamilienministeriums lernte im Jahr 2020 bereits jedes fünfte Kitakind neben Deutsch noch eine andere Sprache.18

Spätestens im Grundschulalter wird jedes Kind mit Englisch konfrontiert, auf der weiterführenden Schule können zusätzliche Sprachen erlernt werden. Diese sind längst nicht mehr nur Französisch oder Latein. In Thüringen oder Sachsen lernten 2014 mehr Schüler*innen Russisch als noch zehn Jahre zuvor, belegt ein Bericht der Kultusministerkonferenz.19 In Bayern wird währenddessen mit der von der EU geförderten Regionalinitiative Euregio Egrensis der Tschechischunterricht gefördert,20 in Sachsen wird vermehrt Polnisch unterrichtet. Hippe Berliner Privatschulen bieten zudem Chinesisch und Arabisch an. Wohl weil sie ahnen, wie wichtig diese Sprachen eines Tages für die Sprösslinge sein werden? Deutschland hat wichtige Handelsbeziehungen im arabischen Raum, und dementsprechend erwarten einige deutsche Firmen mittlerweile, dass ihre Vertreter*innen die Sprachen der internationalen Handelspartner*innen beherrschen.

Wir müssen deswegen schon in der Schule abliefern – mehr denn je. Der Druck beginnt bei manchen bereits im Vorschulalter, bei anderen erst auf der weiterführenden Schule. Nach Angaben einer Studie des Robert Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland waren zuletzt knapp 17 Prozent der Kinder und Jugendlichen psychisch auffällig.21 Oft stecken fehlende Anerkennung oder das Gefühl, nicht mithalten zu können, dahinter.

Nach der Schule wird die Messlatte noch ein Stückchen höher gesetzt. Im Idealfall sprechen Jobanwärter*innen bereits mehrere Sprachen und haben während des Studiums zahlreiche Praktika gemacht. Dass sie dabei für eine Vierzigstundenwoche nur 450 Euro brutto verdient haben und nicht selten am Wochenende noch einen Nebenjob ausüben mussten, interessiert niemanden. Ähnlich verhält es sich mit Auslandssemestern. In einem Vorstellungsgespräch wird eher selten gefragt, wie sich ein*e Uniabsolvent*in denn das Auslandssemester in Schanghai finanziert habe. Mit einem 450-Euro-Job, den diese Person während des Studiums gemacht hat, wird sie das sicherlich nicht geschafft haben.

Wer an dieser Stelle auf die wenigen Tausend Stipendien in Deutschland verweist, für die sich die rund 2,8 Millionen Studierenden ja bewerben können, übersieht einen Fehler im System. Erstens bedarf es keines großen mathematischen Verständnisses, um zu erkennen, dass es mehr Studierende als Stipendien gibt. Zweitens bekommen privilegierte Jugendliche häufiger ein Stipendium als bedürftige. Das liegt zum großen Teil an den Anforderungen, die bei einer Bewerbung erfüllt werden müssen. Es ist ironisch, dass für die meisten Stipendien soziales Engagement vorausgesetzt wird. Dabei scheint keinem aufzufallen, dass es ein Privileg ist, ein Ehrenamt ausüben zu können. Es bedarf Zeit und finanzieller Mittel.

In der Vergangenheit bin ich öfter für den Tierschutz nach Rumänien geflogen, um dort ehrenamtlich die Straßenhunde zu versorgen. Meistens war ich mit Freundinnen vier oder fünf Tage am Stück in einem Tierheim in Bucov, in dem über tausend Hunde gehalten wurden. Wir haben die Zwinger ausgebaut, bei der medizinischen Versorgung geholfen, tote Tiere geborgen und die noch lebenden bei 35 Grad Celsius mit Wasser und Futter versorgt. In einem Jahr habe ich mir in den Zwingern irgendeinen Magen-Darm-Infekt eingefangen. Mir ging es so schlecht wie noch nie, ich konnte nichts bei mir behalten. Zwei Wochen lang stand ein Eimer neben meinem Bett, ich ging weder zur Uni noch zur Arbeit. Diese Auslandseinsätze waren ein Kraftakt, für den ich nicht bezahlt wurde. Für die Reisekosten bin ich ganz allein aufgekommen. Was ich damit sagen möchte: Es ist ein Privileg, in den Semesterferien ehrenamtlich arbeiten zu können und im Zweifel für die Kosten selbst aufzukommen, statt Geld zu verdienen. Soziales Engagement setzt finanzielle Absicherung voraus.

Ein Stipendium erfüllt nicht seinen Zweck, wenn die Person, die bei der Tafel das Essen ausgibt, größere Chancen auf die Förderung hat als die Person, die auf die Mahlzeit angewiesen ist. Für wirklich bedürftige Menschen ist es weitaus schwieriger, sich sozial zu engagieren, als für jene, die gar nicht bedürftig sind. Damit Stipendien die Richtigen erreichen, müssen sich die Voraussetzungen ändern. Sie müssen sichtbarer für diese Menschen werden und dürfen nicht nur in einer privilegierten Bubble stattfinden. Denn schon das reine Wissen um die Möglichkeit, eventuell Zugang zu einem Stipendium zu haben, ist keine Selbstverständlichkeit.

»Es nützt nichts, wenn Infoplakate zu den Angeboten nur in Eliteinternaten ausgehangen werden, aber nicht in den Schulen sozialer Brennpunkte«, sagte Mya, die selbst in einem Duisburger Plattenbau aufgewachsen ist, bevor sie mit einem großen Zug ihr Glas leerte. Ihre Eltern sind in den Neunzigerjahren aus Albanien nach Deutschland gekommen. Es machte sie wütend, dass die Chance auf soziale Teilhabe, Bildung und spätere berufliche Erfolge so sehr von der sozialen Herkunft abhängig ist. »Und weißt du, was das Schlimmste ist? Es wird immer extremer. Geld und sozialer Background werden immer wichtiger anstatt unwichtiger!« Sie verzog das Gesicht, während sie das sagte. Sie hatte recht. Wir reden zwar immer von Chancengleichheit, aber faktisch existiert diese nicht.

Jung, besorgt, abhängig

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