Читать книгу Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band) - Rosa Luxemburg - Страница 10
VI
ОглавлениеNachdem wir jetzt die Geschichte der Kirche und des Klerus kurz kennengelernt haben, sollten wir uns nicht mehr darüber wundern, daß sich die Geistlichkeit bei uns heute auf die Seite der zaristischen Regierung und der Kapitalisten gestellt hat und die um besseres Leben kämpfenden revolutionären Arbeiter heftig beschimpft. Die bewußten sozialdemokratischen Arbeiter streben danach, gerade die Idee von sozialer Gleichheit und Brüderlichkeit unter den Menschen in der Gesellschaft zu verwirklichen, die die Grundlage der christlichen Kirche in ihren ersten Anfängen war. Diese Gleichheit, die damals in der auf Sklaverei gegründeten Gesellschaft und später bei der Herrschaft der Fronarbeit unmöglich war, wird jetzt möglich, da auf der ganzen Welt der Industriekapitalismus herrscht. Was die Apostel des Christentums durch flammendste Predigten gegen die selbstsüchtigen Reichen nicht durchsetzen konnten, das können in naher Zukunft die modernen Proletarier, die Klasse der bewußten Arbeiter, erreichen, wenn sie in allen Ländern die politische Macht an sich gebracht haben und den ausbeuterischen Kapitalisten Fabriken, Land und alle Arbeitsmittel wegnehmen, zum gemeinsamen Eigentum aller Arbeitenden. Der Kommunismus, nach dem die Sozialdemokratie strebt, ist nicht mehr jene Verbrauchsgemeinschaft nichtstuender Bettler, mit denen die Reichen teilen, sondern Gemeinschaft ehrlicher Arbeit und gerechter Genuß der gemeinsamen Früchte dieser Arbeit. Sozialismus heißt nicht mehr, daß Reiche mit Armen teilen, sondern daß eben dieser Unterschied zwischen Reichen und Armen dadurch beseitigt wird, daß man gleiche Arbeitspflicht für alle Arbeitsfähigen einführt und die Ausbeutung der einen durch die anderen völlig abschafft.
Um diese sozialistische Ordnung einzuführen, müssen sich die Arbeiter in allen Ländern in der sozialdemokratischen Arbeiterpartei organisieren, die dieses Ziel anstrebt. Gerade deshalb sind Sozialdemokratie, Aufklärung der Arbeiter und Arbeiterbewegung den besitzenden Klassen, die heute von der Ausbeutung der Arbeiter leben, so verhaßt. Der Klerus aber, ja die ganze Kirche gehört ebenfalls zu diesen herrschenden Klassen. All diese riesigen Reichtümer, die die Kirche angesammelt hat, wurden ohne eigene Arbeit durch Ausbeutung und Benachteiligung des arbeitenden Volkes erworben. Das Vermögen der Erzbischöfe und Bischöfe, der Klöster und Pfarreien, ist ebenso mit dem blutigen Schweiß des städtischen und ländlichen Arbeitervolkes erkauft worden wie das Vermögen der Fabrikanten, Kaufleute und Landmagnaten. Denn woher stammen jene Schenkungen und Vermächtnisse der reichen Leute an die Kirche? Offensichtlich nicht aus eigener Arbeit dieser reichen Frömmler, sondern aus der Ausbeutung der Arbeiter, die für sie schufteten: früher entstanden diese dem Klerus geopferten Reichtümer durch die Ausbeutung des Fronbauern, heute durch die Ausbeutung des Lohnarbeiters. Was aber die Gehälter betrifft, die heute der Geistlichkeit von der Regierung gezahlt werden, so ist klar, daß sie aus der allgemeinen Staatskasse stammen, die hauptsächlich mit Steuern gefüllt ist, die der Masse des einfachen Volkes abgepreßt wurden. Der Klerus sitzt dem Volk also ebenso im Nacken und lebt von seiner Erniedrigung, Unterdrückung und Dumpfheit wie die ganze Kapitalistenklasse. Das aufgeklärte Volk, das um seine Rechte und um Gleichheit unter den Menschen kämpft, ist den Priestern heute ebenso verhaßt wie allen schmarotzenden Kapitalisten, da heute Einführung der Gleichheit und Abschaffung der Ausbeutung schon der Todesstoß für eben diese Geistlichkeit wären, die von Ausbeutung und Ungleichheit lebt. Aber was das wichtigste ist: der Sozialismus strebt danach, der ganzen Menschheit ehrliches und redliches Glück auf der Erde, dem ganzen Volk größtmögliche Bildung, Wissen und Herrschaft in der Gesellschaft zu geben, und gerade dieses irdische Glück aller Menschen und diese Klarheit in den Köpfen fürchten die heutigen Diener der Kirche wie ein Gespenst. Wie die Kapitalisten den Körper des Volkes in das Gefängnis der Not und Unfreiheit sperrten, so sperrte der Klerus den Kapitalisten zu Hilfe und um der eigenen Herrschaft willen den Geist des Volkes ein, weil er fürchtete, ein aufgeklärtes, vernünftiges Volk, das Welt und Natur mit durch die Wissenschaft geöffneten Augen betrachtet, würde die Herrschaft der Priester abwerten und sie nicht mehr als höchste Macht und Quelle aller Gnade auf Erden ansehen. Indem er also die ursprünglichen Lehren des Christentums, die gerade das irdische Glück der Geringsten erstrebten, abändert und verfälscht, redet der heutige Klerus dem Volk ein, es leide Not und Erniedrigung nicht auf Grund der schändlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auf Befehl des Himmels, durch Fügung der Vorsehung. Und dadurch eben tötet die Kirche im arbeitenden Menschen den Geist, tötet in ihm die Hoffnung und den Willen nach besserer Zukunft, tötet in ihm den Glauben an sich selbst und seine Kraft, die Achtung vor der eigenen menschlichen Würde. Die heutigen Priester halten sich mit ihren falschen und den Geist vergiftenden Lehren dank der Dumpfheit und Erniedrigung des Volkes und wollen diese Dumpfheit und Erniedrigung für ewige Zeiten bewahren.
Es gibt dafür unschlagbare Beweise. In den Ländern, wo der katholische Klerus allmächtig über das Denken des Volkes herrscht wie in Spanien und Italien, dort herrschen auch größte Dumpfheit und – größtes Verbrechen. Nehmen wir beispielsweise zwei Länder in Deutschland zum Vergleich: Bayern und Sachsen. Bayern ist hauptsächlich ein Bauernland, wo der katholische Klerus noch großen Einfluß auf das Volk hat. Sachsen ist dagegen ein hochindustrialisiertes Land, wo die Sozialdemokratie schon seit langen Jahren Einfluß auf die arbeitende Bevölkerung hat. In Sachsen sind zum Beispiel in fast allen Wahlkreisen Sozialdemokraten in den Reichstag gewählt worden, wodurch dieses Land bei der Bourgeoisie verhaßt und als „rot“, sozialdemokratisch, verschrien ist. Und was ergibt sich? Amtliche Berechnungen zeigen, daß, wenn man die Zahl der im Laufe eines Jahres im klerikalen Bayern und im „roten“ Sachsen begangenen Verbrechen vergleicht (im Jahre 1898), auf 100.000 Personen bei schwerem Diebstahl in Bayern 204, in Sachsen 185 Fälle kommen, bei Körperverletzungen in Bayern 296, in Sachsen 72, bei Meineid in Bayern 4, in Sachsen 1. Ebenso, wenn man die Zahl der Verbrechen im Posenschen betrachtet, so gab es im selben Jahr auf 100.000 Menschen 232 Körperverletzungen, in Berlin 172. Und in Rom, dem Sitz des Papstes, wurden im vorletzten Jahr des Bestehens des Kirchenstaates, d.h. der weltlichen Macht des Papstes im Jahre 1869, in einem Monat 279 Menschen wegen Mordes, 728 wegen Körperverletzung, 297 wegen Raubes und 21 wegen Brandstiftung verurteilt! Das waren die Früchte einer ausschließlichen Herrschaft der Geistlichkeit über das Denken der armen Bevölkerung.
Das heißt natürlich nicht, daß die Geistlichkeit zum Verbrechen ermuntert, im Gegenteil, mit den Lippen reden die Priester viel gegen Diebstahl, Raub und Trunksucht. Aber bekanntlich stehlen, schlagen und trinken die Menschen nicht aus Eigensinn oder Neigung, sondern aus zwei Gründen: aus Not und Dumpfheit. Wer also das Volk in Not und Dumpfheit hält, wie es die Geistlichkeit tut, wer im Volk den Willen und die Energie zu einem Ausweg aus Not und Dumpfheit tötet, wer auf jede Weise diejenigen behindert, die das Volk bilden und aus der Not emporheben wollen, der ist ebenso verantwortlich für die Verbreitung von Verbrechen und Trunksucht, als ob er dazu ermuntern würde.
Und ebenso ging es bis vor kurzem in den Bergbaugebieten des klerikalen Belgien zu, bis die Sozialdemokraten kamen und dem unglückseligen, erniedrigten belgischen Arbeiter laut zuriefen: steh auf, Arbeiter, erhebe dich aus deiner Erniedrigung, schlage nicht, trinke keinen Alkohol, laß nicht vor Verzweiflung den Kopf hängen, sondern lies, bilde dich, schließe dich mit deinen Brüdern in einer Organisation zusammen, kämpfe gegen die Ausbeuter, die dich aussaugen, und du wirst dich aus der Not erheben, du wirst ein Mensch sein!
So bringen die Sozialdemokraten überall dem Volk die Auf-Erstehung, stärken die Verzweifelten, verbinden die Schwachen zu einer Macht, öffnen den Dumpfen die Augen, zeigen den Weg der Befreiung und rufen das Volk auf, das Königreich der Gleichheit, Freiheit und Nächstenliebe auf der Erde zu errichten. Die Diener der Kirche rufen das Volk dagegen überall nur zu Demut, Verzweiflung und geistigem Tod auf. Wenn Christus heute auf der Erde erschiene, so würde er sicher mit diesen Priestern, Bischöfen und Erzbischöfen, die die Reichen schützen und vom blutigen Schweiß von Millionen leben, dasselbe tun wie damals mit jenen Händlern, die er mit dem Stock aus der Vorhalle des Tempels vertrieb, damit sie das Haus Gottes nicht durch ihre Schandtaten befleckten.
Deshalb mußte zwischen dem Klerus, der Not und Unfreiheit des Volkes verewigen will, und den Sozialdemokraten, die dem Volk das Evangelium der Befreiung bringen, ein Kampf auf Leben und Tod entstehen wie zwischen der schwarzen Nacht und der aufgehenden Sonne. Wie die nächtlichen Schatten ungern und widerwillig vor der sonnigen Morgenröte weichen, so möchten die Kirchenfledermäuse jetzt mit ihren schwarzen Soutanen dem Volk den Kopf verhüllen, damit seine Augen nicht das aufgehende Licht der sozialistischen Befreiung erblicken. Da sie aber den Sozialismus nicht mit Geist und Wahrheit bekämpfen können, flüchten sie sich zu Gewalt und Unrecht. In der Sprache des Judas verbreiten sie schändliche Verleumdungen derjenigen, die dem Volk die Augen öffnen, durch Lüge und Verleumdung versuchen sie diejenigen zu verunglimpfen, die ihr Blut und Leben dem Volk zum Opfer bringen. Und schließlich heiligen und unterstützen diese Priester, diese Diener des goldenen Kalbes, die Verbrechen der zaristischen Regierung, segnen die Mörder des Volkes, stehen zum Schutz um den Thron des Letzten der Zarendespoten, der das Volk mit Feuer und Schwert unterdrückt, wie jener Nero in Rom die ersten Christen verfolgte!
Aber vergeblich diese Anstrengungen! Vergebens wütet ihr, entartete Diener der Christenheit, die ihr jetzt Diener Neros seid! Vergebens helft ihr unseren Mördern und Häschern, vergebens schützt ihr mit dem Zeichen des Kreuzes die Reichen und die Ausbeuter des Volkes! Wie damals keine Grausamkeiten und Verleumdungen den Sieg der christlichen Idee aufhalten konnten, dieser Idee; die ihr durch euren Dienst am goldenen Kalb befleckt habt, so halten alle eure Versuche heute nicht den Sieg des Sozialismus auf. Heute seid ihr euren Lehren, eurem ganzen Lebenswandel nach Heiden, wir aber, die wir den Armen, den Ausgebeuteten und Unterdrückten das Evangelium der Brüderlichkeit und Gleichheit bringen, wir erobern heute die Welt wie jener, der gesagt hat:
„Wahrlich, wahrlich ich sage euch, es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme.“