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3.2 Der Wandel der Familiengröße durch die Zunahme der Mehrgenerationen-Familien und seine Auswirkungen auf den Familienalltag
ОглавлениеHistorisch gesehen – so wurde bereits mehrfach betont – haben noch nie so viele Kinder ihre Großeltern erlebt wie heute; doch in noch stärkerem Maße gilt dies für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Das Bild der Drei-Generationen-Familie besteht in unserer Alltagsvorstellung aus Großeltern, Eltern und kleinen Kindern. In der Realität ist aber die Familienphase in dieser Konstellation kürzer als in der Zusammensetzung: Großeltern/Eltern/Jugendliche bzw. junge Erwachsene (Lauterbach 1995; vgl. hierzu ausführlicher Nave-Herz 2013a: 221). Die Familie ist eine generationsübergreifende Solidaritätsgemeinschaft (vgl. S. 15 in diesem Band), beruhend auf traditionellen, juristischen und religiösen Normen. Ob eine einzelne Familie von dieser Solidaritätsnorm abweicht, ist unter dieser gesamtgesellschaftlichen Perspektive nicht von Belang.
Mit einer Familiengründung seitens der Kinder verschiebt sich bzw. verlängert sich die Generationsfolge auf drei, verbunden mit einem Rollenpluralismus. Beispiel: Der Vater bleibt Vater, wird aber zugleich Großvater mit jeweils unterschiedlichen spezifischen Normen bzw. askriptiven Rollenerwartungen. So nehmen in der Mehrgenerationen-Familie die Kinder ihre Eltern auch in der sozialen Rolle des Sohnes bzw. der Tochter wahr. Welche Sozialisationswirkungen hiermit verbunden sind, wissen wir nicht. Dieser Sachverhalt ist forschungsmäßig noch nicht aufgegriffen worden.
Zwischen den Generationen fließen ganz unterschiedliche Lebenserfahrungen in die familialen Interaktionsprozesse mit ein und vermitteln unmittelbar spezifische individuelle Verarbeitungen historischer Ereignisse an die weiteren familialen Generationen. Damit wird nicht unterstellt, dass zwischen den familialen Generationen die historischen Ereignisse selbst Gegenstand häufiger Kommunikationen wären, sondern ihre Verarbeitung und Bewertung werden bei alltäglichen Mitteilungen als Hinweise u.ä. „mit gesendet“, die die nächste Generation in ihrem allgemeinen historischen Kontext aufgrund ihrer Geschichtskenntnisse zu entschlüsseln weiß. Die massenhafte Verbreitung der Mehrgenerationen-Familie, in der die dritte Generation im Jugendalter oder jungen Erwachsenenalter ist, ermöglicht erst diesen Weitergabe-Prozess von unmittelbarer erlebter Geschichte über eine derartige Zeitspanne.
Zu fragen wäre jedoch zunächst, ob überhaupt soziale Beziehungen zwischen Großeltern und den Eltern sowie den Enkeln bestehen. Die vorhandenen empirischen Erhebungen bestätigen diesen Sachverhalt (Künemund 2000: 122ff.; Hank 2009: 86ff.; Nave-Herz 2013a: 190ff.; 223ff.; Szydlik 2014: 94ff.). Trotz heutzutage getrennter Haushalte zwischen den familialen Generationen4 bestehen zwischen ihnen – von Ausnahmen abgesehen – regelmäßige Kontakte, wobei auch den neuen Kommunikationsmitteln eine wachsende Bedeutung zukommt. Auch finanzielle Unterstützungen – selbst bei eigener eher unterdurchschnittlicher ökonomischer Lage – werden, insbesondere in Notfällen, von den Großeltern am ehesten an die Eltern, aber auch an die Enkel geleistet. Diese erhalten sporadisch von ihnen vielfach ein zusätzliches Taschengeld, häufig im Rahmen von Familienfesten. Igel betont auf Grund ihrer Daten: „Die Erbringung von (Geld-)Geschenken ist für Großeltern also stärker an ritualisierte Begegnungen mit den Enkelkindern geknüpft und in höherem Grad auf die Emotionalität der Beziehung begründet als bei Transfers an Kinder“ (Igel 2012: 153ff.).
Vor allem ist eine stärkere Beziehung in der Kleinkindphase in Form von Enkelbetreuung gegeben, insbesondere durch die Großmütter mütterlicherseits (Adam/Mühling/Förster/Jakob 2014: 76), zumeist fallweise, in ökonomisch schlechteren familialen Lagen häufig sogar regelmäßig. Vermehrt bemühen sich auch heutzutage die Großväter um Kontakte zu ihren Enkeln.
Auf die Frage, was Großeltern mit ihren Enkeln zusammen unternehmen, werden „nicht in erster Linie besondere Ereignisse, wie der Besuch eines Erlebnisparks oder der Gang in den Zoo, erwähnt, sondern vorrangig alltägliche Aktivitäten, wie z.B. miteinander reden, zusammen kochen, puzzeln, vorlesen usw. Hierdurch deutet sich an, dass die Großeltern-Enkel-Kontakte eingebettet sind in den Vollzug alltagspraktischen Handelns. Hier – im alltäglichen Miteinander – übernehmen Enkel und Großeltern wechselseitig wichtige Funktionen füreinander“ (Brake und Büchner 2007: 208). Mögliche Konflikte, emotionale Ambivalenzen in spezifischen Situationen sind hierdurch selbstverständlich nicht ausgeschlossen.
Viele weitere psychologische Erhebungen zeigen ebenso den sozialisierenden Einfluss von Großeltern auf ihre Enkel (was zuweilen auch umgekehrt gilt). Selbstverständlich ist der Grad der Häufigkeit der Kontakte und die Intensität der Beziehung von dem Alter der Enkel, dem Verhältnis zu ihren Eltern, von bestimmten Persönlichkeitsvariablen u.a.m. abhängig (Sommer-Hill 2001: 112; 117ff.; Adam/Mühling/Förster/Jakob 2014: 20). „Insofern wäre es verfehlt, von einem einheitlichen Großelternbild auszugehen. Im Spannungsfeld zwischen Unterstützung und Einmischung, Engagement und ‚vornehmer Zurückhaltung‘ wird die Rolle des Großvaters und der Großmutter vielmehr höchst unterschiedlich wahrgenommen und ausgeübt“ (Brake und Büchner 2007: 200; vgl. hierzu auch die Aufzählungen von Großelterntypologien in Adam/Mühling/Förster/Jakob 2014: 44/101ff.). Vor allem haben alle Großeltern neben den Eltern eine erhebliche Bedeutung für die Entwicklung von Wertvorstellungen, zumindest im Hinblick auf Pflicht, Leistung und Kooperation (Bertram 1994: 132).
Wenn auch mit dem Alter der Enkel, nämlich im Jugendalter, die zeitliche Kontaktintensität zu den Großeltern abnimmt, bleibt dennoch die gegenseitige positive Beurteilung ihrer Beziehung (Herlyn et al. 1998; Sommer-Hill 2001; Bertram 2002: 526). An spezifischen Eigenschaften werden ihnen von den Jugendlichen zugeschrieben: Großzügigkeit, liebevoll und gesellig zu sein, aber auch – wenn auch weit seltener und eher dem Großvater als der Großmutter – Strenge und Ungeduld (Adam/Mühling/Förster/Jakob 2014: 34). Wenn die Enkel im Jugendalter sind, können die unterschiedlichen Lebenserfahrungen auf beiden Seiten einerseits als Bereicherung erfahren werden, aber andererseits evtl. auch – hauptsächlich hinsichtlich des normativen Verhaltens – zu gegenseitigem Unverständnis führen.
Bei Ehescheidungen – so zeigt eine ältere Untersuchung (was aber ebenso für die Gegenwart zu vermuten ist) – wird zumeist nicht der Kontakt zu den Eltern aufgegeben, vor allem nicht in der matri-linearen Verwandtschaftslinie. Fthenakis betont aufgrund seiner quantitativen schriftlichen Befragung von Großeltern zusammenfassend: „Die Ergebnisse bestätigen, dass Ehescheidungen die Beziehung im familialen System nicht beendet, sondern lediglich reorganisiert. Großeltern pflegen weiterhin den Kontakt zu ihren Kindern und Enkelkindern. In manchen Fällen findet in der Nachscheidungsphase sogar eine Intensivierung des Kontaktes zwischen Großeltern und ihren Enkeln statt. Dennoch lassen sich Unterschiede feststellen… Generell pflegen Großeltern mütterlicherseits einen häufigeren und länger andauernden Kontakt zu ihrer geschiedenen Tochter und zu den Enkelkindern als Großeltern väterlicherseits“ (1998:162).
Ein Recht haben Großeltern auf den Umgang mit ihren Enkeln in Deutschland jedoch nicht automatisch. Zwar betont der Gesetzgeber in § 1685 (1): „Großeltern und Geschwister haben ein Recht auf Umgang mit dem Kind, wenn dieser dem Wohl des Kindes dient“. Bei Verweigerung des Kontaktes durch die Eltern können diese aber nur unter Beweis, dass der Kontakt zu ihrem Enkelkind seinem Wohle dient, auf dem Klagewege die Verbindung zu ihm, evtl. erreichen.5 In Frankreich ist es z.B. umgekehrt: hier müssen die Eltern auf Unterlassung des Umganges zwischen Enkelkind(ern) und ihren Großeltern klagen.
3 Der geringe Anstieg der Geburtenzahlen in den letzten Jahren ist einerseits demographisch bedingt, nämlich durch die höhere Zahl von Frauen im gebärfähigen Alter (= die Kinder der Babyboomer-Generation), der Verschiebung des Alters der Mütter bei der Geburt ihres ersten Kindes (1970 durchschnittlich 24 Jahre, 2015 durchschnittlich 29,6 Jahre) und auf die Zuwanderung (Stat. Bundesamt/Destatis 2017).
4 In der Familiensoziologie spricht man deshalb von der heutigen „multilokalen Mehrgenerationenfamilie“ (Bertram 2002)
5 Zur Veränderung dieser Rechtslage hat sich in der Bundesrepublik eine „Bundesinitiative Großeltern“, kurz „GIGE“ genannt, gebildet.