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2. Familienformen in Deutschland 2.1 Die These der „gestiegenen Pluralität von Familienformen“
ОглавлениеIn zahlreichen Veröffentlichungen wurde in den letzten Jahren auf die gestiegene Instabilität von Ehe und Familie und auf ihre sinkende Verbindlichkeit hingewiesen und diese Entwicklung als De-Institutionalisierungsprozess der Familie beschrieben. Diese Deutung des familialen Wandels wurde zwar bereits am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts vertreten (z.B. von H. W. Riehl, F. Engels u.a.; vgl. Nave-Herz 2010), aber neu aufgenommen wurde sie in den 1980er Jahren, ausgelöst durch die Veröffentlichungen z.B. von Tyrell (1978: 611ff.; 1988). Andere Autoren (z.B. Beck und Beck-Gernsheim 1990; Barabass und Erler 2002) betonen zwar ebenfalls den gestiegenen Traditionsverlust, bedauern aber die zugenommene Auflösung fester Verbindlichkeiten nicht, sondern stellen den damit verbundenen Gewinn an individueller Freiheit heraus, vor allem die damit einhergehende Chance, zwischen verschiedenen Formen menschlichen Zusammenlebens wählen zu können, und benennen diese Entwicklung mit „Individualisierungsprozess“. Dieser Wandel resultiere aus der ökonomischen Wohlstandssteigerung, dem sozialstaatlichen Absicherungssystem, dem gestiegenen Bildungsniveau u.a.m. Er habe auch dazu geführt, dass es „die Familie“ nicht mehr gebe, sondern nur „Familien“, die Beck in seinem Eröffnungsvortrag auf dem 25. eutschen Soziologentag auflistet: „Da gibt es schockierende Entwicklungen: Wilde Ehen, Ehen ohne Trauschein, Zunahme der Ein-Personen-Haushalte im Quadrat, Alleinerziehende, Alleinnacherziehende, allein herumirrende Elternteile“ (1990: 43).
Während die De-Institutionalisierungsthese also stärker den Bedeutungsverlust und die Abnahme von bestimmten Normenverbindlichkeiten von Ehe und Familie und damit auch den quantitativen Rückgang der „Normalfamilie“ (= Zwei-Eltern-Familie) betont, wird mit der Individualisierungsthese und vor allem von Beck die Aufgabe des begrifflichen Konstruktes „Familie“ gefordert und die Pluralität von Familienformen herausgestellt, wobei er jedoch bei seinen erwähnten Beispielen nicht zwischen Ehe-, Lebens- und Familienformen differenziert.
Beiden Thesen ist gemeinsam, dass sie zeitgeschichtlichen Wandel, ausgehend von einem ganz bestimmten engen Familienbegriff, beschreiben, so wie er von Goode und auch von Parsons geprägt worden ist. Für Parsons war Kennzeichen von Familie eine bestimmte Rollenstruktur (nämlich das Zusammenleben von Vater, Mutter und Kind/ern) und eine spezifische funktionale Binnendifferenzierung, z.B. die eindeutige interne und externe Aufgabentrennung zwischen den Ehepartnern, d.h. der Ehemann und Vater hatte für die ökonomische Sicherheit zu sorgen, die Ehefrau und Mutter war für den Haushalt und vor allem für die Pflege und Erziehung der Kinder verantwortlich. Weiterhin wären für die moderne Familie sehr spezifische Interaktionsbeziehungen charakteristisch: So ist nach Parsons die Mutter-Rolle mit einem „expressiven Verhalten“ (einem gefühlvollen, auf die Bedürfnisse anderer orientierten) und die Vater-Rolle mit einem „instrumentellen Verhalten“ verknüpft, da er für die ökonomische Sicherstellung der Familie und für ihre Außenvertretung zuständig, bzw. verantwortlich ist.
Konnte man nach dem Zweiten Weltkrieg noch bis in die 1970er-Jahre hinein davon ausgehen, dass es dieses Familienmodell in den Industriegesellschaften in vielen Dimensionen – nie in allen (Nave-Herz 2013a: 54ff.; 2013b: 18ff.) – in der Realität überwiegend gab, so ist nunmehr zu beobachten, dass – infolge vielfältiger Veränderungsprozesse in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen – dieses Modell nur noch für eine Minorität zutrifft. Auf diese Entwicklung bezieht sich die De-Institutionalisierungsthese. Ist es aber gerechtfertigt, den Familienbegriff auf ein bestimmtes – zeitlich begrenztes – Familienmodell zu beschränken? Jedenfalls für die Beschreibung von familialem Wandel ist ein derart enger Familienbegriff sogar unsinnig; denn greift man nämlich auf eine solche enge Definition von Familie zur Beantwortung der Frage nach der Pluralität von Familienformen zurück, läuft man Gefahr, durch den gewählten Begriff genau das auszublenden, was man eigentlich untersuchen will, weil man durch seine Begrifflichkeit bestimmte Veränderungen, evtl. sogar neu entstandene Familienformen, von vornherein ausklammert. So z.B. wären – unter Zugrundlegung der Parsons‘schen Definition – nicht nur Alleinerziehende, sondern selbst die mit erwerbstätiger Mutter keine Familie!
In der Tat ist die Antwort auf die Frage nach der heutigen Vielfalt familialer Lebensformen abhängig vom gewählten Begriff von Familie (vgl. hierzu die Übersicht über die verschiedenen Definitionen von Familie bei Peter 2012: 17ff.).
Mit der These über die gestiegene Individualisierung und Pluralität familialer Lebensformen soll die heutige Vielfältigkeit im Hinblick auf die Familienbildungsprozesse (durch Geburt, Verwitwung, Scheidung usw.) und die Rollenzusammensetzung (Zwei-Eltern-Familie und die verschiedenen Ein-Eltern-Familien) betont werden. Auf weitere mögliche Differenzen zwischen den einzelnen Familien, z.B. im Hinblick auf die innerfamilialen Beziehungen, den internen und externen Aufgabentrennungen u.a.m., bezieht sie sich zumeist nicht (vgl. die Übersicht in: Nave-Herz 2013a: 39ff.).
Zu fragen wäre aber nunmehr, ob – mit Beck – deshalb nur noch der Plural „Familien“ Verwendung finden und auf das begriffliche Konstrukt „Familie“ überhaupt verzichtet werden sollte. Selbstverständlich sind Begriffe nur dann sinnvoll, wenn mit ihnen eine spezifische Ausgrenzung aus der sozialen Realität möglich ist. Und das trifft auf den Familienbegriff zu, auch wenn – um familialen Wandel und die Pluralität von Familienformen erfassen zu können, und um nicht Veränderungen (wie bereits betont) durch die gewählte Begrifflichkeit von vornherein auszuschließen – es notwendig ist, eine Definition von Familie auf einem möglichst hohen Abstraktionsniveau zu wählen.
Im Folgenden soll deshalb gefragt werden, durch welche Kriterien sich die Familie von anderen Lebensformen in einer Gesellschaft unterscheidet, und zwar in allen Kulturen und zu allen Zeiten.
Diese konstitutiven Merkmale von Familie sind, und zwar gleichgültig, welche spezifische, historische oder regionale Ausprägungsform sie besitzen (vgl. hierzu ausführlicher Nave-Herz 2013a: 33ff.):
1. die biologisch-soziale Doppelnatur aufgrund der Übernahme der Reproduktions1- und zumindest der Sozialisationsfunktion neben anderen, die kulturell variabel sind,
2. ein besonderes Kooperations- und Solidaritätsverhältnis; denn über die üblichen Gruppenmerkmale hinaus (wie z.B. gemeinsames Ziel, begrenzte Zahl, Struktur, Wir-Gefühl) wird in allen Gesellschaften der Familie eine ganz spezifische Rollenstruktur mit nur für sie geltenden Rollendefinitionen und Bezeichnungen (z.B. Vater/Mutter/Tochter/Sohn/Schwester usw.) zugewiesen (die Anzahl der Rollen und die Definition der Rollenerwartungen sind kulturabhängig),
3. die Generationsdifferenzierung. Es darf insofern hier nur die Generationsdifferenzierung (also das Eltern- bzw. Mutter- oder Vater-Kind-Verhältnis) und nicht auch die Geschlechtsdifferenzierung, also nicht das Ehesubsystem, als essenzielles Kriterium gewählt werden, weil es zu allen Zeiten und in allen Kulturen auch Familien gab (und gibt), die nie auf einem Ehesubsystem beruht haben oder deren Ehesubsystem im Laufe der Familienbiographie durch Rollenausfall, infolge von Tod, Trennung oder Scheidung, entfallen ist. Damit bilden alleinerziehende Mütter und Väter sowie Nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern auch Familiensysteme.
Die Generationsdifferenzierung kann sich sowohl auf die Eltern-/Mutter- bzw. Vater-Kind-Einheit beziehen – dann sprechen wir von Kernfamilie – als auch auf die Großeltern, evtl. sogar auf die Urgroßeltern (= Drei- bzw. Vier-Generationen-Familie). In den folgenden Ausführungen wird – der Kürze wegen – die Kernfamilie als Familie bezeichnet und werden nur dann die genannten unterschiedlichen Familienbegriffe herangezogen, wenn diese Differenzierung für die inhaltliche Darstellung notwendig ist.
Unter Zugrundelegung dieser weiten Definition von Familie wäre nunmehr zunächst auf theoretischer Ebene zu prüfen, welche Vielfalt von Familienformen gegenwärtig vorstellbar wäre. Da die These über die gestiegene Pluralität familialer Lebensformen sich auf die verschiedenen Möglichkeiten der heutzutage gegebenen unterschiedlichen Rollenzusammensetzungen und Familienbildungsprozesse beschränkt, wird in der folgenden Systematik ebenso nur von diesen beiden differenzierenden Variablen ausgegangen. Beachtet werden muss bei der Aufstellung eines derartigen klassifikatorischen Schemas von Familienformen, dass bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Bildung von bestimmten Familientypen nicht zulassen, z.B. können bei uns Nichteheliche Lebensgemeinschaften ein Kind nicht zusammen adoptieren, jedoch ein Partner allein. Homosexuelle Paare, wenn Kinder vorhanden sind, bilden soziologisch gesehen, eine Familie, rechtlich erst nach Eheschließung. Die Kinder können wegen einer Scheidung aus einer früheren Ehe oder wegen Trennung aus einer nichtehelichen Paarbeziehung stammen (vgl. ausführlicher Kap. 7.3). Homosexuelle und nichteheliche Partnergemeinschaften können in Deutschland ferner aufgrund unserer Gesetze nicht mit Hilfe der Reproduktionsmedizin durch Geburt eines Kindes sich zur Familie erweitern.
Abbildung 1: Typologie von Familienformen
Zählt man die theoretisch möglichen Familientypen aufgrund der unterschiedlichen Rollenzusammensetzungen (Eitern-/Mutter-/Vater-Familien) und Familienbildungsprozesse (durch Geburt, Adoption, Scheidung/Trennung, Verwitwung, Wiederheirat, Pflegschaft) zusammen und differenziert die Eltern-Familien nach formaler Eheschließung und Nichtehelichen Lebensgemeinschaften, ergeben sich insgesamt 20 verschiedene, rechtlich mögliche Familientypen.
Aus der Abbildung 1 wird deutlich, dass die traditionelle Vorstellung von Familie, nämlich die über die biologisch-genetische Eltern-Kind-Einheit mit formaler Eheschließung, nur eine Familienform unter vielen verschiedenen ist.
Hinter dieser Typologie steckt eine statische Betrachtungsweise; denn im Zeitablauf kann es zu einem Wechsel von einer zur anderen Familienform kommen, sogar zum mehrfachen Wechsel, z.B. wird bei Scheidung oder Trennung aus einer Eltern-Familie eine Mutteroder Vater-Familie, schließlich evtl. durch Zusammenleben mit einem neuen Partner oder Partnerin eine erneute Eltern-Familie, wobei diese Eltern-Familie durch Stiefelternschaft gekennzeichnet sein könnte, u.U. sogar zudem durch Stiefgeschwisterschaft. Damit wird gleichzeitig deutlich, dass eine weitere Differenzierung der genannten Familienformen hinsichtlich dieser beiden Strukturelemente „Stiefelternschaft“ und „Stiefgeschwisterschaft“ noch durchzuführen wäre. Nimmt man noch weitere Variablen zur Differenzierung von Familienformen hinzu, z.B. den Wohnsitz, die Erwerbstätigkeit der Mutter und des Vaters u.a.m. (vgl. die Typologie bei Nave-Herz 2013a: 39f.) und berücksichtigt ferner zudem die Veränderungen in den individuellen Lebensläufen – wie es Feldhaus und Huinink (2011: 77f.) durchgeführt haben – kann zwischen sehr vielen verschiedenen Familienformen differenziert werden (vgl. hierzu auch Wagner 2008: 99ff.).
Doch allein schon unter Zugrundelegung der beiden Variablen „Rollenzusammensetzung“ und „Familienbildungsprozesse“, wie es die Pluralitätsthese vorsieht und wie die Abbildung 1 zeigt – ist bereits eine Vielfältigkeit familialer Lebensformen denkbar. Im nächsten Abschnitt wird der Verbreitungsgrad dieser unterschiedlichen Familienformen in unserer Gesellschaft dargestellt; m.a.W.: Es soll geprüft werden, ob die These über die gestiegene Pluralität familialer Lebensformen nur Optionen oder die soziale Realität beschreibt.