Читать книгу Das andere Brot - Rosemarie Schulak - Страница 10
4 GEBOREN WORDEN
ОглавлениеZwar ist es ganz sicher, dass, zuweilen jedoch höchst unsicher, wo, wie und wann ein Mensch in diese Welt kam. So mancher fragt sich ja auch, warum überhaupt. Wenn Georg derlei Fragen zu hören vermeinte, um sie danach im Stillen sich selbst zu stellen, wusste er darauf keine Antwort. Reden von einem Storch, der ein Kind einfach fallen ließ, irgendwohin, hatten ihm immer schon Abscheu und tiefstes Grauen bereitet. Er misstraute den riesigen Schnäbeln der Vögel, ihrem fremden, spannweiten Gefieder, vor allem aber der Art, wie Störche zu gewissen Zeiten im Tiefflug über Dächer und Felder zogen. Im Herbst pfeilten sie quer durch die Gegend über den Berg, im Frühjahr aber zu einem nicht weit entfernt liegenden See, weil es dort Frösche, Schilf und auf Bäumen und Dächern allerlei Nistplätze gab. Georg fürchtete jene Stellen, an welchen sie landeten, scheute das braune Wasser wie auch den breiten, träg dahin rinnenden Bach mit Büschen rundum und Wäldern, so wie alle feuchtdunklen Landschaften und die Au, wohin ihn manchmal, wie auch an den See, einer mitnahm.
Ein Findelkind bist du gewesen, sagten die Leute. Was ist das? hatte er prompt gefragt, doch das fragte er später nicht mehr. Gefunden war er worden, doch nicht von Storchenvögeln und von solchen auch keineswegs fallen gelassen. Von wem also fallen gelassen? Wieso und wo war er schließlich gelandet? Wäre er an einem Bachrand gefunden worden, an einem von Sonne beschienenem hellklaren Wasser, in ein reinliches Körbchen gesteckt, das sich leicht einhaken konnte zwischen Wurzeln und moosigem Stein, mit Butterblumen an seiner Seite, die sich hin- und herbewegten im Wind, er hätte es gerne herum erzählen wollen. Dann wäre auch er gewesen was jeder andere war, nämlich einer, der eine Herkunft hatte; zwar seltsam und geheimnisvoll, doch immerhin; er hätte benennen können was war, so wie das alle anderen taten, die morgens munter aus dem Tor ihrer Elternhäuser schlüpften und abends dahin zurückkehrten mit einigem Recht, weil das ihr Zuhause war.
Wie schön wäre es gewesen, hätte es auch von ihm irgendwelche Geschichten gegeben, die man hören und hätte erzählen dürfen; eine wie die, welche einmal im Bäckergeschäft von Leuten erzählt worden war; dort hätte er auch die seine zum besten geben können. Wären die baff gewesen, diese Neugierigen, die ihre Fragen immer nur aus dem Hinterhalt stellten, damit sie sich lustig machen konnten über einen, der sich schämte, das Wort „Vater“ oder „Mutter“ nie ausgesprochen zu haben, weil mutterseelenallein auf der Welt. Oder weil er kein Recht hatte, einfach zu sagen was Wirklichkeit war. Frau B. nämlich, die manche seine „Ziehmutter“ nannten, obwohl sie das sicher nicht war, die hätte solche Anrede gleich abgewehrt, hätte sie diese gehört. Für Scherze hatte Frau B. weder Zeit noch ein Ohr. Nein, Ziehmutter war sie wirklich nicht, das hätte Georg ganz sicher bemerkt. Auch war ihr bereits dieses Wort zuwider, und von Georg sprach sie, wenn überhaupt, höchstens als von einem „Kostkind“ ihres Mannes, wenn einer dumme Fragen stellte.
In seinem Kostquartier redete der Bub daher wenig, er war meist nur da, wenn zur Mahlzeit gerufen. Aß was ihm vorgesetzt wurde und lief wieder weg, wenn alles verzehrt und nichts mehr zu verteilen war. Am Abend schlich er zu seinem Eisenbett in die Kammer, die eigentlich Vorratskammer war und recht eng. Seinem Eisenbett gegenüber stand noch ein schmales Sofa, auf dem früher die alte Tante des Herrn B. logiert hatte, die hatte auch nicht sehr viel geredet. Eines Morgens war sie nicht aufgewacht und Leute kamen daher, die hoben sie auf eine Bahre und trugen sie fort. Danach erschien sie nie wieder und das Kostkind war mit dem Speckgeruch, der dem Raum die Atmosphäre einer Selchkammer gab samt Regalen mit Marmeladen- und Gurkengläsern, Winteräpfeln und Nüssen allein.
Einmal fischte er aus dem seitlichen Loch eines Jutesacks eine Nuss heraus, die so herrlich roch, dass er sie mit Zunge und Zähnen zu befühlen und, weil die mit der Zeit recht kräftig geworden waren, zu knacken begann; so wie man Nüsse eben knackt, wenn die zweiten, also die Erwachsenenzähne groß genug und so brauchbar geworden waren wie die seinen. Wenn einmal draußen am Straßenrand ein voller Nussbaum etwas von seiner Fracht abwarf, so dass jeder, der wollte, aufklauben durfte was auf dem Weg lag, freute sich Georg und hütete seinen Schatz in einem geheimen Winkel des Gartens, den Eichkätzchen gleich, um genauso wie Frau B. etwas vorrätig zu haben für spätere Zeiten.
In der Kammer freilich, in der Georg schlief, durfte keiner sich an derlei Köstlichkeiten laben. Er wusste das längst und hielt sich daran, aber die eine Nuss wäre vielleicht auch von selber durch das Loch aus dem Jutesack gefallen und was auf dem Boden lag, durfte man nehmen. Oder? Das Krachen und Splittern zwischen seinen Zähnen drang bald verräterisch durch die Tür und Herr B. und seine Frau stürzten gleichzeitig in ihren Nachthemden und mit großem Geschrei herein. Nein, nie mehr wieder dürfe er so etwas wagen. Fiel eine Nuss durch ein Loch, sei sie sofort in den schleißigen Sack zurückzubefördern.
Durch die Schlafzimmertür hörte Georg sie schimpfen. Und Bertl, der rechtmäßige Sohn der Frau B. durfte mit einstimmen, war er doch wohlgelitten und sicher bei Vater und Mutter. Durch die Tür horchte Georg was sie ihm vorzuwerfen hatten, verstand aber nicht alles.
Nach jenem Streit um die Nuss gab Herr B. eine neue Schlafordnung bekannt. Bertl wanderte aus dem Zimmer seiner Eltern hinaus in die Vorratskammer, bekam Georg gegenüber das Sofa der alten Frau, die angeblich nicht mehr wiederkam und gab gewissenhaft acht, dass in Anwesenheit Georgs, des Nüsseknackers, ganz bestimmt keine Nuss mehr aus jenem Loch des Jutesacks fiel und Georg auch sonst keinerlei Appetit in sich nährte zwischen Speckseiten, braun gerunzelten Birnen und duftenden Winteräpfeln.
Nun wusste Georg genau und war nach dem Vorfall überzeugt wie nie zuvor, dass das Haus der Familie B. nicht der richtige Platz für ihn war. Doch wo sollte er hin? Stimmte was alle sagten, nämlich dass jedes Kind von einer Mutter geboren worden sei, wo war dann die seine? Georg wünschte sehr dieses Rätsel zu lösen und dorthin zu gehen, wo seine Mutter war.