Читать книгу Das andere Brot - Rosemarie Schulak - Страница 13

7 WAS, WO UND WARUM

Оглавление

Von Zeiten bewussten Lesens darf also fortan die Rede sein. Denn wessen Zeit und Geschichte vordem im minder Bewussten geblieben, weil sie misslich, verwerflich oder einfach nicht zu verstehen war, dem wird das Ereignis erster wacher Leseerlebnisse umso näher sein, Momente der Bewusstwerdung seiner selbst umso deutlicher im Gedächtnis bleiben um später viele dunkle Stunden und schweigende Nächte zu füllen. Und um wieder erzählt zu werden.

Erzählen war allerdings Georgs Sache damals nicht. Neugierige Frager konnten froh sein, wenn sie überhaupt eine Antwort erhielten, knapp, ungeduldig oder gelangweilt. Das kam erst viel später. Doch kaum berichtete Georg von seiner Schulzeit, noch weniger von vermisster Zuwendung und fehlendem Trost jener Jahre und gar nichts vom Schmerz. Umso wichtiger wurde, was alles im Laufe der Zeit an Büchern ihm unter die Augen kam. Nach mehreren Bänden Joseph Conrad fand sich im Regal des Trafikanten einmal durch Zufall nichts anderes als ein Band Karl May. Dem konnte Georg nicht allzu viel abgewinnen. Ihm gefielen zwar einsame Ritte durch die Prärie, Indianerkämpfe jedoch weit weniger. Sie erinnerten ihn an Kinderspiele, an die Buben seiner Klasse, die derlei unter sich auf den Wiesen hinter dem Dorf ausfochten oder oben am Waldrand. Ihnen war er gern ausgewichen, aus Abscheu vor blutigen Knien und Nasen, vor dummem Geheul und Geschrei.

Gefällt dir das nicht? wunderte sich der Trafikant. Sind doch richtige Bubengeschichten! So kam es, dass Georg mit der Zeit nur mehr Erwachsenenliteratur zu lesen bekam und sehr zufrieden damit war.

Mit dem letzten Tag in der dörflichen Volksschule war die Zeit der Kindheit endlich vorbei. Ein Zeugnis darüber hätte es nicht gebraucht, meinte Georg, wenn ihm jene acht unangenehmen Jahre wieder einmal das Gemüt überschatteten. Doch auch ein solches Zeugnis muss eine Zeit lang aufbewahrt werden, als Dokument und Beweis, dass er überhaupt in dieser Gegend gewesen, hier lesen und schreiben gelernt hat und einiges vielleicht doch dazu. Das alles sogar bestätigt mit Stempel und Unterschrift. Dass er in jenen Jahren Generationen von Kaninchen ernährt und allein versorgt, jeden Grashalm im Garten geschnitten und für seine Kostleute, Herrn und Frau B. als billiger Hausknecht für viele Extrawünsche zuhanden war stand nicht darauf. Zerreißen durfte man dieses Papier dennoch nicht, das wurde dem Halbwüchsigen dringlich ans Herz gelegt.

Andere hatten die Hauptschule besuchen dürfen, die war mehrere Kilometer entfernt. Doch Herr und Frau B. hatten damals gemeint, das sei für Georg nicht nötig, das koste nur Geld, nämlich weil die meisten der Buben dorthin mit einem Wagen gefahren wurden. Und wenn er zu Fuß geht verbraucht er die kostbare Zeit! Dies war das Argument von Frau B. Und womöglich behauptet er später, das sei ihm beschwerlich gewesen. Nein, nein, und was denn nicht noch alles, meinte Frau B. Der Kerl soll lieber im Ort was lernen. Das wird doch genügen. Oder?

Dabei war es geblieben. Der Bertl, ein Hauptschüler, hatte damals mitfahren dürfen, er war älter und in einer höheren Klasse. Georg durfte das nicht. Ist ohnehin noch so klein und so dürr, die Volksschule passt genau zu ihm! Wer tät denn das Hasenfutter daherbringen, das Gras schneiden und alles andere machen? Da lernt er ja auch was dabei, sagte Frau B.

Umständlich faltete Georg also sein Zeugnis zusammen, stopfte es in den Beutel, der seine Habseligkeiten barg und beschloss, es so lange bedeckt zu halten, bis niemand mehr danach fragte. Alles Mögliche ging ihm durch den Kopf, damals wie später. Bitterkeiten. Doch wich er gern aus, wenn Frau B. oder irgendein anderer nach seinen Absichten fragte. Frau B. interessierte sich, wie er meinte, ohnedies nicht für seine Ideen. Er wusste, sie hatte andere Sorgen. Sie sorgte sich um den Verbleib ihres Bertl, der sich unlängst erst als Freiwilliger zum Militär gemeldet hatte und sofort genommen worden war. Und jetzt, da er fort war, bangte sie um ihn mehr als um den Verbleib des Herrn B. und war meist auch schweigsam gegenüber dem Kostkind, das ja hoffentlich auch irgendwann erwachsen sein würde und außer Haus. Für Georg fühlte sie sich nicht verantwortlich. Er muss selber schauen, wie er zurechtkommt, meinte sie. Und richtig besehen war er ja wirklich nicht ihr Kind.

Nach einigem Hin und Her kam sie mit manchen vertrauten Leuten aber doch auf Georgs Zukunft und eine mögliche Lehrzeit zu sprechen. In diesem Fall könne er aber bei ihr nicht bleiben, meist seien die Wege zu weit. Der Bub müsse doch selber wissen, was das Beste für ihn sei. Gehst halt in die Fabrik so wie die anderen. Was willst denn sonst machen, meinte sie. Da bleiben kannst net, Geld hast dir a no net verdient. Wenn aner ka Bauer is und kan eigenen Grund hat, ja was denn dann!

Von vielen Seiten hatte Georg davon gehört und mit eigenen Augen gesehen, was gar nicht zu übersehen war: die Menschenschlangen, die alten wie auch die jungen Dorfbewohner und solche wie er, kaum den Kinderschuhen entwachsen. Wie sie bereits in der Morgenfrühe die Straße entlang zogen, alle dieselbe Straße und jeweils immer mehrere zur gleichen Zeit in die gleiche Richtung. In die Fabrik! Am späten Nachmittag erst kehrten ihre Bewegungen sich um. Sie wanderten ins Dorf zurück. Einzeln oder in kleinen Gruppen. Seltsam müde sahen die aus, Georg wollte sie gar nicht zählen; konnte es natürlich auch nicht, weil ihr Tempo wechselte, einer vielleicht einmal schneller war als ein anderer, dann wieder langsamer. Immer jedoch kamen sie auf derselben Straße daher, Fuß vor Fuß. Erst wenn sie in die Wegkreuzung einbogen, die das Dorf in einzelne Teile zerschnitt, lösten die Grüppchen sich auf, verloren die Dorfbewohner sich in den Querstraßen rechts oder links, und jeder wandte sich seiner Heimstatt zu.

Manchmal war Georg sogar extra die steilen Wege hinaufgestiegen, um von oben, vom Waldrand her die ferne Fabrik zu betrachten und diesen Ameisenzug der aus Menschen bestand. Im Sommer die Staubwolke über dem Dorf und der Straße, im Winter die dunkle Spur, die beweglichen Pünktchen. Und das alles auch an diesigen Spätherbsttagen, bis zum Dezember der Schneewind um die knackenden Sträucher pfiff. Immer war Rauch zu sehen gewesen über den Schloten und immer schon hatte Georg gewusst, dass er dort nicht dabei sein wollte, dass er den Weg, der ihm lebenslang schwarz gezeichnet vor Augen stand, nie gehen würde. Ja was denn dann! entrüstete sich Frau B. Glaubst vielleicht, du bist was Besseres? Nein, verteidigte sich Georg, nur halt was anderes. Was anderes? Ja, Bäcker zum Beispiel. Das wär’ was, in einer Backstube arbeiten. Das schon! Da riecht einer das Brot von weitem, da macht man die Semmeln und überhaupt hat das was Feines, da freuen sich alle, wenn sie etwas zu essen kriegen, nachdem sie Staub geschluckt haben auf dem langen Weg von der Fabrik. Dann kaufen sie Brot, am Samstag vielleicht sogar Semmeln.

Was sonst noch in Georgs Gedanken vor sich ging verschwieg er lieber. Man würde ihn doch nicht verstehen, ihn nie für einen der ihren halten, aber das taten sie sowieso nicht. Einer, der Außenseiter ist, einer, der nicht hierher gehört darf nicht allzu viel hoffen. Wofür hielten sie ihn? Für einen Verrückten? Ja, verrückt, so hätte Frau B. ihn genannt, hätte er ihr erzählt, wohin seine Wünsche ihn zogen. Daher beschloss er seine Pläne vorerst noch ruhen zu lassen, doch möglichst bald wegzugehen von dem Ort, hin zu anderen Menschen und anderen Gesprächen, zu anderen Arbeitsmöglichkeiten und anderer Lebensart.

Der scheinbar einfache Weg zum Lehrlingsdasein in einer Bäckerei zeigte sich aber doch schwieriger als gedacht. Zu ihrem Leidwesen musste Frau B. Georgs Suche selbst miterleben, obwohl er gar nicht ihr Sohn war. Und am Ende trug sie zu seinem Erfolg sogar bei als sie da und dort, was sonst nicht ihre Gewohnheit war, für das Kostkind zu reden begann. Sie begleitete Georg zum Arbeitsamt in die nicht weit entfernte Kleinstadt. War er derzeit doch der Einzige, der noch bei ihr lebte. Wenn auch kein Ersatz für den Sohn, ließ sie Georg doch weiterhin im Haus bei sich wohnen. Der Bertl im Krieg, so klagte Frau B. ihren Nachbarn. Und der da, der Georg, kommt in eine Lehr samt Kost und Quartier, dann bin ich sie alle los. Herr B. sei ja auch meist unterwegs, also werde sie ganz allein sein. Sie hoffe jedoch auf ein baldiges Ende des Kriegs, und dass der Bertl gesund nach Hause käme von der östlichen Front.

Vielleicht war ihr nicht ganz wohl bei so manchen Gedanken und insgeheim auch etwas mulmig zumute. Frau B. wollte sich von den Leuten nichts vorwerfen lassen. Sie war keine schlechte Person, das musste sie ihnen beweisen, hörte sich sogar deren Ratschläge an und nahm sich vor, Georg auf seiner Lehrstellensuche wenn nötig sogar zu begleiten, falls tatsächlich einer ihn nehmen wollte, der ihm Kost und Quartier bot. Diese Hoffnung wurde am Ende Wirklichkeit, das Arbeitsamt meldete den Erfolg. Endlich hatte Georg eine Bäckerlehre in Aussicht, zwar nicht in der Umgebung, sondern in einem der ferneren Randbezirke der Großstadt, in die man sich erst einmal umständlich zu begeben hatte.

Für Georg wurde diese Eisenbahnfahrt ein einziges Staunen. Nicht nur die Reise an sich, die Weite der Landschaft hinter den Fenstern, das Eintauchen in ein Unbekanntes, ein Neues. Mehr noch war es das nie gekannte Gefühl einen Menschen neben sich zu haben, der Beistand und Hilfe bot. Die Frau, die als Helferin und Unterstützung jetzt ganz konkret neben ihm saß und da sitzen blieb während der ganzen Fahrt. Die sogar mit ihm redete! Auch das eine ungewohnte, Atem beraubende Situation. Er hätte sich denken können, dass nicht alle Frauen so junge Burschen sich selbst überließen. Frau B., so hatte Georg gemeint, sei früher härter und kälter gewesen. Immer schon hatte sie den Eindruck kühler Distanz in ihm geweckt und stets auch gefestigt. Jetzt aber hatte sie gerade das, was er so sehr für sich gewünscht mit ihm gemeinsam erwirkt, nämlich einen Lehrherrn zu finden für ihn, das Kostkind.

Er betrachtete von der Seite her ihr Profil und konnte es kaum fassen. Sogar die gewohnte Schroffheit schien Frau B. abgelegt zu haben, alles an ihr wirkte milder. Sie redete mit Georg wie mit jedem anderen Menschen, schrie nicht dabei und wies seine Antworten nicht zurecht. Das blieb auch am nächsten Tag so nach einer unbequemen Nacht bei ihrer redefreudigen Schwester. Dort machten die beiden Frauen für Georg ein Nachtlager auf einer Küchenbank zurecht und am nächsten Tag begleitete Frau B. das Kostkind sogar bis in den weit entfernten Außenbezirk der Stadt, wo Georgs künftiger Lehrherr die Ankömmlinge freundlich begrüßte und Georg die Backstube zeigte samt Haus, Hof und Hühnern. Das war kein Großstadtbetrieb. Die Umgebung ähnelte einem Dorf, das so aussah wie andere Dörfer auch, ein Randbezirk abseits der eleganten Welt von Wien.

Fast wia daham, manst net a? sagte Frau B., als sie nach Durchquerung des endlosen Straßengewirrs sich wieder im Zug befanden. Sie versuchte aus Georg, der für eine Weile „mundtot“ neben ihr saß, ein paar Sätze herauszulocken.

Daheim? Meinte sie wirklich … daheim? Irritiert hielt Georg den Atem an. Das war ihm neu, das hätte er nie für möglich gehalten, das hat ihm bisher noch keiner gesagt. Daheim! Herr B. hätte sofort betont, er sei nicht der Vater, Georgs Verbleib im Haus sei nichts als eine Ausnahme der gebotenen Regeln, weil er doch keineswegs zur Familie gehöre. Der Bertl hätte das ebenso betont, wäre er da gewesen. Doch beide waren nun einmal nicht da, deshalb redete die Frau B. ja so anders. Gemäßigt und ohne Geschimpfe, dafür mit Sorgenfalten auf der Stirn und traurigen Augen. Wirst halt bei mir arbeiten bis die Wartezeit um ist, überlegte sie laut, als sie abends im Haus das Nachtmahlbrot auch für Georg zurechtschnitt. Hast ja derweil den Garten, das Gießen, die Hasen, das Holzschneiden draußen im Wald. Und vergiss net die Senkgruben ausheb’n! Wenn sonst ka Mann da ist, wirst halt du diese Arbeit machen müssen.

Warum hab ich keine Mutter? fragte Georg unerwartet und heftig dazwischen. Selber nicht wenig erschrocken über den Mut, der ihm von irgendwo her kam, er wusste nicht wie. Die ungewohnte Lautstärke der eigenen Rede irritierte ihn mächtig.

Frau B. wurde jählings der Nacken steif, als sie langsam ihr Kinn hob. Sie legte das Messer aus der Hand, die eben noch Speck geschnitten hatte und wischte die fettigen Finger an ihrer Schürze ab. So richtete sie ihren Blick gegen Georg. Sunst hast kane Sorgen? stieß sie nach einer Weile hervor, überfragt, wie sie war. Doch mäßigte sie sich gleich wieder, als sie in Georgs blasses Gesicht sah, die schillernde Dunkelheit seines Blicks beharrlich auf sie gerichtet. War eh unlängst erst da gab sie, jäh abgewandt und wiederum mit dem Speck beschäftigt, beinah wie nebenbei zu. So als ginge die Frage sie eigentlich gar nichts an. Da is’ sie g’standen, wo du jetzt stehst, schaust ihr eh ähnlich.

Was? schrie Georg auf. Und warum hab ich sie da net sehen dürfen? Blitzschnell kam diese zweite Frage, ebbte jedoch gleich wieder ab. Leise, beinahe tonlos, folgte die dritte. Wo war denn da i... zu der Zeit?

Gespannt wartete er auf Antwort. Frau B. musste den Speck erst fertig schneiden, sie verteilte ihn auf die beiden Brote, wischte sich wieder die Finger am Schürzenzipf ab und stellte den Tee auf. Du warst grad im Garten und hast Gras g’schnitten. Durchs Verandafenster hat sie dich g’sehn. Hat eine Weile g’schaut und nix g’sagt. Dann is s’ glei wieder weg …

Georg wurde bei dieser Rede ein wenig schlecht. Schnell drehte er sich fort von der Frau, ging in den Garten und in den Keller. Kam erst wieder herauf von den Hasen, als alles schon dunkel war im Haus.

Ab diesem Tag spürte er deutlich weniger Lust freitags in der Trafik nach neuer Lektüre zu fragen. Der Trafikant steckte dem schweigsamen jungen Mann dennoch einiges in die Tasche, das ihn erfreuen musste. Liebesromane, das wusste der umsichtige Mensch, passten vielleicht für Frau B., aber jetzt nicht für Georg. Der kam ihm langsam doch zu erwachsen vor.

Georg arbeitete im und außer dem Haus wie von ihm erwartet. Ohne zu murren und ohne zu fragen, wie und wohin denn der Herr B. verschwunden sei und ob er überhaupt jemals wieder erscheinen würde. Im Krieg war er nicht. Das wusste er ganz genau. Darüber verlor seine Frau auch kein Wort. Das Motorrad, hatte sie anfangs gemeint, sei die Ursache allen Übels. Und dass es da Weiber gebe, die gern bei ihm aufsitzen wollten. Danach sprach sie nie mehr davon. Vom Bertl aber redete sie jeden Tag, und hätte sie jemals einen Brief von ihm bekommen, sie hätte ihn Georg gezeigt. Da war er ganz sicher.

Das andere Brot

Подняться наверх