Читать книгу Das andere Brot - Rosemarie Schulak - Страница 7
1 ERWACHEN
ОглавлениеIn einem Dorf, wo versteckt hinter Föhren und dicht bewachsenem Kalkgestein Fuchs und Hase einander selbst in ihren sanftesten Träumen nicht Gute Nacht wünschen wollten, stand eines kühlen Septembermorgens wie vom nahenden Herbstwetter hergeweht ein zartes Bürschchen unter den Kleinen, die zappelig, aufgeregt und vielleicht auch ein wenig ängstlich ihrem ersten Schultag entgegen sahen. Fremd und scheinbar unbewegt stand dieses eine unter den vielen, die einander kannten als Nachbarn, Freunde, Spielgefährten und zumindest vom Hörensagen erkennbar als zugehörig dem oder dem. Sie alle warteten vor dem Schultor, nur dieses eine blieb starr, wie versteinert, stumm geradeaus blickend.
Rundum hatten Erwachsene sich versammelt, Mütter und Großmütter, die wissen wollten, wer hier die Erwartungsfreude, den Trennungsschmerz mit ihren Lieblingen teilte. Der kleine Fremdling, der keinem der Umstehenden auch nur entfernt bekannt und zuzuordnen gewesen wäre, harrte verschlossenen Gesichts vor dem offenen Einlass, die dunklen Augen groß in ein Ungewisses gerichtet.
Auf Anrufe reagierte der Kleine nicht, auf Annäherungsversuche ließ er sich nicht ein. Versunken in sich selber oder im Nirgendwo wären Antworten aus seinem Mund vielleicht auch kaum aufschlussreich gewesen, denn weder seines Namens hätte er sich entsinnen können noch irgendeiner plausiblen Erklärung. Sein Eintritt in die Welt, so erzählte er Jahrzehnte später in einem jener raren Momente, in dem die vom Schicksal ihm zugewiesene Rolle wie von Geisterhand aufgespannt, so klar und geglättet vor seinem Gedächtnis lag; dieser Eintritt in eine Welt, die sich ihm nach und nach erst eröffnen sollte, habe ihn wie ein Anruf aus einer Geisterwelt aufgeschreckt, überwältigt und gefangen genommen. Es gab kein Vorher. Was vor jenem Tag geschehen war, existierte nicht mehr.
An jenem Septembermorgen schien ihn der Eintritt durch das geöffnete Schultor in besonderer Weise zu fordern, dieses jähe Hineingestelltsein in eine fremde, lärmende Welt; und in eine Kinderschar, der er nicht gewachsen sein würde in seiner Verlorenheit und Isolation.
Warum und woher er an jenem denkwürdigen Tag gekommen war, schien er vergessen zu haben oder wollte es den Neugierigen um ihn herum nicht kundtun. Kann sein, er wusste es tatsächlich nicht. In seinem Gedächtnis war das, was ihm bisher geschehen wie weggeschwemmt, versickert wie Wasser in einem Brunnen, der seinen Inhalt als tiefes Geheimnis verbarg, so dass er sich anfangs nicht einmal zu bewegen getraute in jenem Neuland, weil er nicht aus noch ein wusste bei sich selber. Nichts als Gegenwart war in ihm, und wie noch zu zeigen sein wird, blieb das so für lange Zeit. Was hätte er auf Fragen, die ihn aus einer so weiten Entfernung trafen, denn antworten sollen? Überhaupt sei das damals die erste bewusste Wahrnehmung seiner selbst gewesen, meinte er, ein erschrockenes Erwachen wie aus tiefem Schlaf. Er vermochte auch nicht alle Eindrücke der Ereignisse an jenem Tag zu behalten, noch weniger sie zu beantworten vor Ort, so überrumpelt und gelähmt wie er war vor Angst und Abwehr, vor Schmerz und unerwartetem Glück. Von irgendetwas fühlte er sich befreit, er wusste nur nicht wovon und wie damit umzugehen.
Behörden und Lehrer hätten den Fall vermutlich deuten können. Die Ankunft des Knaben war angekündigt, genauere Einzelheiten jedoch nicht mitgeteilt worden. Nach Hintergründen wurde vielleicht nicht gefragt; nicht nach dem Woher und Warum, so als schiene es ihnen egal. Die Lehrerin wartete Tag für Tag, dass der Knabe mit den großen Augen und diesem beharrlich verschlossenen Mund endlich zu sprechen begann. Sein sechstes Lebensjahr sei, so war von Amts wegen mitgeteilt worden, vielleicht noch gar nicht erreicht, doch ohne Papiere, die Alter und Herkunft hätten feststellen lassen, konnte es keine Gewissheit geben. Er hätte jünger sein können, so klein und so wenig angepasst wie er war; älter wohl kaum, doch wer weiß.
Die ersten Wochen im Klassenzimmer gingen so rasch vorüber, dass keine Zeit blieb, sich um einen Außenseiter zu kümmern, der in verbockter Weise schwieg, oder doch nur gezwungenermaßen, und dessen Stimme, wenn mit Tricks und Listen hervorgelockt, doch nur Angst und Abwehr verriet. Dennoch, das Gesichtchen des Kleinen, erst düster und scheinbar ausdruckslos, hellte sich auf mit der Zeit und zeigte Spannung beim Zuhören. Die Augen blieben, in erwachender Neugier, an Menschen und Gegenständen haften. Deutlich sichtbar gingen Impulse durch seinen Leib und eines Tages redete es ganz von selber aus ihm; erst leise verschämt, dann durchaus vernehmbar. Als ob eine Eisdecke allmählich zu knacken, zu knistern und sich zu bewegen begann, immer heftiger und artikulierter. Seine Rede schwoll an und manches war sogar zu verstehen was Aussage hätte sein sollen. Was ihn dazu bewog und worüber er mit sich redete, wurde aber nicht klar, schien es doch ohne jeden Zusammenhang zu sein, verständlicher erst mit der Zeit, ja unüberhörbar am Ende und beinah resolut. Ein Redestrom quoll schließlich aus diesem kleinen Mund. Geplapper! meinte die Lehrerin. Du sei jetzt still!
Ein Durcheinander war das, ein Tohuwabohu von Wörtern, Gefühlen und Eindrücken unvollständig wahrgenommener Begebenheiten aus einer anderen Welt. Jahrzehnte später nannte er selber es so in einem Gespräch. Und erzählte unter verhaltenem Schmunzeln, die Kameraden rundum hätten ihr Missfallen an seinem Gerede bald unmissverständlich kundgetan. Unzumutbar, alles in allem.
Wollte der Knabe nur auf sich aufmerksam machen oder hatte er tatsächlich plötzlich den dringenden Wunsch, etwas mitzuteilen von sich und andere an Redelust zu übertreffen? Derlei Mitsprache im Unterricht war in jedem Fall lästig, weil selbst eine geübte Lehrerin sich solch jäher kindlicher Wortkaskaden nur schwer zu erwehren weiß, wenn sie anderes zum berechtigten Ziel hat.
Das sprudelnde Selbstgespräch des Kleinen verstummte nicht auf ihr Geheiß und störte noch mehr, weil es deutlich an sie gerichtet war, bis kurzerhand ein kreuzweise über den Mund geklebtes Pflaster ihm diesen verschloss und endlich verstummen ließ. Ähnliches wiederholte sich an mehreren Tagen, bis einmal eines jener haftenden Mundverschlüsse dem erregten Kind nicht mehr erträglich war. Es zappelte, warf sich herum in ungehöriger Weise, so dass ihm sein Aufbegehren gefährlich den Atem nahm. Die strenge Frau stürzte sogleich auf ihn zu und befreite ihn unter vielstimmigem Kindergeschrei. Erschöpft, geschockt und wohl auch vorsichtig geworden, hörte der Kleine von da an zu wimmern auf und blieb lange Zeit still.
Die Sache war gut ausgegangen, die Wirkung erstaunlich, doch nicht lang von Dauer. Das Kind wollte reden. Warum hörte niemand ihm zu? Erst, als es alle Versuche sich bemerkbar zu machen fahren ließ, auch die Hoffnung, dürfte Ruhe eingekehrt sein so wie das erwünscht war.
Nur innerlich ruhig und gleichmäßig atmend bleibt ein Mensch in so einem Fall von totaler Erschöpfung verschont. Dies habe er damals gelernt, sagte Georg später, als er erwachsen war. Ansonsten nicht viel, habe er doch durch nahezu unerträglichen Seelenschmerz auf Grund seines Ausgeschlossenseins die Begebenheiten rundum nie genau genug mitbekommen. Ihm war eine Lehre erteilt worden, die nahm er sich zu Herzen. Doch hatte sich damit ein Riss zwischen ihm und dem Treiben der anderen aufgetan, vertiefte sich mit der Zeit und schloss sich nie ganz. Ein erzwungenes Schweigen.
Inzwischen wurden Buchstaben gelernt und Wörter. Der kleine Fremdling hatte genug zu tun den Boden unter den Füßen zu behalten und nicht zu verlieren, die Gestalt seiner Lehrerin mit tapferem Blick zu umfassen, die Worte aus ihrem Mund zu verstehen und das Gezänke der Kinder. Er beobachtete und nahm beunruhigt wahr, wie andere zum Sprechen ermuntert wurden. Ihn forderte niemand auf, war doch jederzeit zu befürchten, dass wieder ein Sturzbach von Wörtern aus seinem Mund kam um auszuufern und, falls überhaupt, äußerst langsam nur zu verebben. Unbeachtet von allen verlegte sich deshalb das Denken des Kindes meist auf sich selber.
Beim späteren Schreiben führte der Kleine den Griffel wie auch den Stift in steilen widersetzlichen Schwüngen immer höher nach oben als allgemein üblich war und erlaubt. Selbst als Herangewachsener – die Kinderschrift war längst abgelegt – formte er noch genüsslich Ober- und Unterlängen aus, weil er Steiles und Festes auf dem Papier haben wollte, so steil und fest wie er selber, damit ihm die Nichtbeachtung von außerhalb nicht allzu weh tat. Sein Mund, von der Gefahr des Pflasters endlich erlöst, nahm mit der Zeit einen gleichmütigen, manchmal gleichgültigen Ausdruck an. Gern widmete er sich der schönen Gewohnheit ein Fenster zu betrachten, hinter dem ab und zu ein Blatt oder ein Vogel vorbei flog; und vor welchem im Winter bei längerem Hinsehen manchmal ein Sonnenstrahl auf einen Eiszapfen fiel.
Schweren Herzens nahm er zur Kenntnis was um ihn herum vorging. Doch vieles ging an ihm vorbei. Beim Schreiben ließen die Fingerchen sich nicht so leicht zähmen. Die Buchstaben warfen auch sehr viel später noch ihre Schlingen hoch und immer höher hinauf. Er selbst fand ja angemessen was er da einsam vollbrachte und dennoch bei den Kindern rundum bestenfalls ein belustigtes Kichern hervorrief.
Georg war Kostkind der Familie B., nicht mehr und nicht weniger. Warum jedoch – ob für immer, oder vielleicht nur für kurze Zeit – war den Dorfleuten nicht bekannt, und die mehr davon wussten, äußerten sich nicht. Auch nicht, als sie, durch das Gittertor der Familie B. spähend, den Kleinen arbeiten sahen, mit schwerem Gartengerät hantieren oder draußen auf grünenden Feldern mit einem Jutesack über dem Rücken.