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3 MENSCHENMUND

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Vom Anfang an war es Neugier die ihn in jener Gegend umgab. Damals, als das Kuckuckskind Georg vor dem Schultor aufgetaucht war, wusste keiner woher, warum und wer ihn dahergebracht. Umso mehr wurde geredet unter vorgehaltener Hand. Einfache Leute waren die B.s, Zieheltern wider Willen, denen angeblich nach schwierigem Hin und Her und trotz vehement vorgebrachter Proteste ein Kostkind aufgehalst worden war, an dessen Entstehung sie jede Beteiligung leugneten. Nach anfänglichem Unmut und einiger Ratlosigkeit sollen die B.s Resignation gezeigt haben, am Ende dann Gleichgültigkeit. Vor allem bezüglich diverser Erziehungsmethoden im Schulhaus.

Es wurde geredet. Wieso denn die Leute so plötzlich ein Kind bekommen hätten, die Bedauernswerten, ein jeder hätte sich doch dagegen gewehrt. Einige wussten es anders und hatten Mitleid mit dem Kleinen. Schließlich kam Frau B. ins Gerede. Hatte die denn nicht ohnehin einst ein Kind mit in die Ehe gebracht? Jetzt waren es also zwei, von denen Herr B. nicht der Vater war? Die Kinder erzählten daheim was sie mit dem Kostkind der B.s in der Klasse erlebten. Was im Schulzimmer vor sich ging war also bald allen klar. Doch niemand im Dorf schien zu wissen wie auf andere Weise der manchmal überbordenden Redelust des kleinen Bankerts beizukommen gewesen wäre. Also stimmten auch sie in der Sache Mundverklebung der Lehrerin zu. Herr B. und Frau B. erklärten, bei ihnen sei Georg vom Anfang an selten zum Sprechen bereit gewesen. Auch jetzt sei er immer noch ziemlich stur und verbockt. Da sei es bisher noch nicht nötig gewesen ihm den Mund zu verkleben.

Ja, zwei vom Schicksal Überrumpelte waren die B.s, die sowohl das Kostkind als auch einander voll Missmut betrachteten, unfroh des kleinen Hausgenossen, den sie nicht nur zu nähren sondern auch noch zu kleiden hatten. Da sei es praktisch, ihm die zu klein gewordenen alten Sachen des größeren Buben zu geben, des Sohns der Frau B. Die Schuhe, die Wäsche, die Jacke auch.

Die einzige Erleichterung ihres Loses war sein Schweigen. Nun auch noch das Gegenteil fürchten zu müssen, das fehlte gerade noch! Außerdem sei ihnen wichtig, dass alles was dieses Kind zu lernen habe ohne Ärgernis und zur Gänze im Schulhaus erledigt werden müsse. Das sei wohl das Selbstverständlichste der Welt, auch wegen ihres anderen, nur um wenige Jahre älteren Buben, der als leiblicher Spross der Frau B. natürlich ein Anrecht auf Beachtung der Hausaufgaben, auf Frage und Antwort hätte; ein zwangshalber in die Familie Gekommener verständlicher Weise weit weniger. Im gegebenen Fall sei es völlig richtig dem ungezogenen Vielredner – so Georg denn tatsächlich einer sei – kreuzweise den Mund zu verschließen. So verwahrten sich die B.s vor neugierigen Fragern. Sie hatten Kost zu geben, einen Schlafplatz, sonst nichts. Auch er, der Herr B., sei nämlich keineswegs der Vater.

Georg war von Natur aus ein sanftes, ein stilles Kind. Dennoch, wie in der Schule so war auch im Haus der Kostleute sein Schweigen nicht von sehr langer Dauer. Hatte er die Freude am Reden doch vermutlich überhaupt erst in diesem Dorf entdeckt und lustige Einfälle der Kinder mit Staunen auch als Möglichkeit für sich selber verstanden. Deshalb kam Herrn B. der nahe liegende Gedanke, für sich und die Seinen die häusliche Ruhe zugleich mit einem nützlichem Vorteil zu sichern; das fremde Kind, so gut es ging, durch Aufgaben außerhalb der familiären Begebenheiten zu beschäftigen. Das sei gut für alle, aber besonders für Georg, denn nur durch Arbeit würde er lernen sich später im Leben allein zu behaupten. Das hieß allemal, sein Brot sich mit der Zeit selbst zu verdienen. Außerdem: War einer weniger brauchbar in der Schule, musste er zeitgerecht lernen, anderen zu Diensten zu sein und möglichst früh sich daran zu gewöhnen.

In diesem Sinne versorgte Georg bald schon die sonntäglichen Fleischlieferanten des Hauses B., die Kaninchen. Er lernte, im Garten und draußen zwischen Feldern so wie am Wegrand nach deren Lieblingsspeisen zu suchen und ihre Ställe zu säubern. Nach kurzer Zeit bereits hoppelten sie ihm in ihren engen Behältnissen entgegen und wurden seine Gefährten. Der Kleine war traurig, wenn wieder einer von ihnen in der Bratpfanne brutzeln musste und sonntags dann ausgerechnet auf seinem Teller der Kopf des lieben Tierchens lag. Der ist dir sicher am liebsten meinte Frau B. Hast ihn ja immer gestreichelt. Georg saß dann davor und nahm nur wenig davon, weil die hübschen Ohren ja nicht mehr dran waren, auch nicht die Augen; und außerdem, weil zu viele Gedanken in seinem eigenen Kopf sich drängten, mit Not zurückgehalten, um nur ja nicht durch den geschwätzigen Mund nach draußen zu rutschen, denn das durften sie nicht. Georg sagte also nichts und war froh, vom Tisch weg und gleich wieder hinaus zu kommen, um allein zu sein.

An anderen Tagen klaubte er Fallobst in Körbe, schied faule von guten Äpfeln und Birnen und brachte die schönsten Frau B. ins Haus. Als er acht Jahre alt war führte er geschickt die Sichel durchs Gras ohne sich zu verletzen und wurde beim Jäten, beim Gießen und Ernten ein verlässlicher Helfer. Auch mit der Säge wurde er bald vertraut, sammelte Heizholz für den Winter und trug es, gebündelt über den Rücken geschwungen vom nahe gelegenen Wald auf den häuslichen Holzstoß. Die Belohnung war Schmalzbrot, falls genug davon da war, was aber nicht immer erwartet werden durfte in den kargen Zwischenkriegszeiten des vergangenen Jahrhunderts, einer Zeit der Arbeitslosen.

Georg erledigte seine Pflichten flink und genau. Die Kaninchen gediehen unter seinen Händen, sie waren seine Freunde geworden und tappten lustig ans Gitter wenn er, den Futtersack über der Schulter bei ihnen ankam. Er goss Wasser in ihre Schälchen und reinigte zeitgerecht ihre Ställe. Er sichelte und rechte das Gras im Garten. Frau B. kochte aus dem von Georg geernteten Obst Marmelade und hütete im Herbst streng die Nüsse vor ihm. Vorrat für den Winter, rief sie ihm nach, bevor er hinausging, um sie in Körbe zu sammeln und in die Vorratskammer zu tragen. Was für ein hübsches, bewegliches Bürschchen, sagten die Leute. Spindeldürr, gelenkig und voller Kraft in den Armen und Beinen; turnt, wenn einmal keiner ihn für eine Arbeit braucht, auf den Bäumen herum, ganz oben.

Nur sehr wenige seiner Schulkameraden kletterten ihm dorthin nach, was Georg sichtlich Freude bereitete. Den Mitgekommenen aber führte er seine Künste vor, und nicht selten endete so ein Spiel mit einem Wettlauf von Ast zu Ast und von Baum zu Baum, meist in der Allee, wo sie einander nahe standen. Georg blieb immer Sieger dabei.

Die erwachsenen Zuschauer neideten ihm das nicht. Armer Kerl, sagten sie, das wenigstens hat er den anderen voraus. Ähnliche Worte fanden auch zwei alte Leute, die dem Haus des Herrn B. gegenüber wohnten und Georg durch ihre Fensterscheiben beobachteten. Das waren die Eltern des Herrn B., aber Herr B. hörte nicht auf ihr Gejammer. Wenn du ihm nicht genug zu essen gibst, dann lass ihn zu uns herüber, meinten sie beide. Da hätte er es besser und hätte auch Zeit etwas Ordentliches zu lernen. Gib ihn uns, bat die Mutter des Herrn B. ganz ernsthaft, und der alte Herr stimmte ihr zu. Wir adoptieren das Kind. Wird uns ein besserer Sohn sein als du.

Das hörte Herr B. nicht gern. Als kundiger Mann beim Hausbau, Polier und rechte Hand seines Baumeisters, hatte er wohl das Seine geleistet und war beleidigt, eigentlich bitterböse. Es waren schlechte Zeiten, und arbeitslos zu sein kein Honiglecken. Die Alten bewohnten ein sauberes Häuschen, das ihm, nur ihm allein von Rechts wegen zustand. Sollte der kleine Nichtsnutz es ihm denn wegnehmen?

Herr B. redete kein Wort mehr mit seinen Alten und erzählte alles am selben Abend noch seiner Frau als sie von einem Gasthausbesuch nach Hause kamen und in der Speisekammer nach ihrem Nachtmahl suchten. Dabei stellte es sich heraus, dass die gehütete Rein mit den Nudelresten völlig leer und von dem Aufbewahrten kein Bröselchen mehr vorhanden war, in der Nachtmahlrein sich also keine einzige Grießnudel mehr befand; und dass – weder der ältere Sohn noch sonst ein Mensch war an jenem Tag im Haus – einzig Georg als Täter in Frage kam. Infam, weil widerrechtlich hatte er alles was an Grießnudeln von dem Mittagsmahl übrig geblieben war, in sich hineingestopft, so dass es den Anschein hatte, Herr B. hätte im eigenen Haus nicht nur seinen künftigen Erbschleicher zu ernähren. Georg sei jetzt schon, das sei ja nun zur Genüge bewiesen ein ausgefeimter Dieb, der kaltblütig seine Wohltäter um ihr bescheidenes Nachtmahl betrog. Brauchte das noch einen anderen Beweis? Auch hatte die Bäckersfrau Georg unlängst erst vor dem Semmelkorb beobachtet. Allzu lang sei er davor gestanden, und wer weiß, ob er dabei nicht – diebisch wie im gegenwärtigen Fall – eine verschlungen hat?

Sie suchten nach Georg und fanden ihn schluchzend im Keller bei den Kaninchen, wo er meistens zu finden war und sie hätten ihn windelweich geschlagen, wäre Georg nicht flink wie ein Pfeil unter der wütend erhobenen Hand des Herrn B. hinausgeschlüpft ins Freie und seiner wohlverdienten Strafe entronnen. Die beiden zeterten in schrillen Tönen, was weithin zu hören war, aber der Bub war längst über das froststarre Gras und durchs Gartentor in den Nebel getaucht, der sich wie ein schützender Vorhang über die Schreckensszene gebreitet hatte. Nach Hasenart lief er, Haken schlagend, in die kalte Novembernacht hinaus. Im Wald dachte Georg, wäre er sicher. Aber er hatte keinen Mantel dabei, keine Mütze, rein gar nichts.

Die Tür, vor der Georg nach blitzschneller Kehrtwendung angerannt kam, stand bereits offen. Die Mutter des Herrn B. nahm ihn in ihre Arme, bevor sie wieder drinnen im Haus den Riegel vorschob. Der Kleine war damals kaum mehr als acht Jahre alt. Als seine Tränen endlich versiegten, alles erzählt und das Schmalzbrot verzehrt war, das sie ihm vorgesetzt, sah er sich in dem schönen Raum um. Da hingen Geweihe an den Wänden, dort glänzten Gläser in einem Regal, und über den Tisch war ein sauberes Tuch gebreitet. So etwas hatte das Kind nie gesehen. Der alte Herr fasste ihn an der Hand und führte ihn vor eine verschlossene Kredenz. Sagst halt Großvater zu mir, meinte er begütigend und öffnete die gläserne, mit Blumenmustern verzierte Tür. Da gab es drei Reihen voll Bücher, große und kleine, mit dicken und dünnen, hellen und dunklen, grünen und braunledernen Rücken. Manche hatten goldene Buchstaben darauf und Georg durfte mit der Hand berühren was der alte Herr für ihn aus der Kredenz hob. Zwar kann man Bücher nicht essen, meinte der Vater des Herrn B. mit einem Lächeln, doch eigentlich schmecken sie besser als Grießnudeln, glaube mir. Manchmal sogar noch besser als Brot, und einmal wirst du es wissen. Natürlich nur wenn du lernst, sie richtig zu lesen. Das und Ähnliches murmelte er in seinen schlohweißen Bart hinein. Dann, so meinte er zu Georg gewendet, gehören sie dir.

Besser als Brot? Georg konnte das Wunder nicht fassen. Ein anderes Brot, ergänzte freundlich der alte Mann und Georg sah zu ihm auf und wusste nicht, wie ihm geschah. Aber er konnte ja lesen! Warum wusste das niemand, warum hörte ihm nie einer zu? Selbst die Lehrerin nicht, vor der er sich fürchtete, weil er jeden Tag und immer noch an dieses kreuzweise Pflaster über dem Mund denken musste. Durch Tränenschleier betrachtete er den alten Herrn, der sein Großvater nicht war, wie Herr B. ihm eingeschärft hatte. Und trotzdem durfte er Großvater zu ihm sagen? Wie war denn das möglich? Herrn B. durfte er nie anders als mit „Herr B.“ ansprechen, zu Frau B. nichts anderes sagen als eben „Frau B“. Und natürlich galt jederzeit nur die Anrede „Sie“. Georg war an anderes nicht gewöhnt, doch wusste er sehr genau, dass der Bertl, der Sohn der Familie, „Vater“ und „Mutter“ sagen durfte und natürlich auch „du“. Den Bertl lobten sie wegen seiner Tüchtigkeit, während sie Georg zu den Hasen schickten, wenn sie dem eigenen Kind bei den Aufgaben halfen. Wie sehr hätte Georg sich gewünscht, dass ihm wenigstens einmal einer beim Lesen zugehört oder beim Schreiben zugeschaut hätte. Wenigstens einmal! Aber Herr B. wollte das nicht. Du musst lernen, alles selber zu machen, sagte er gern, im Leben hilft dir auch keiner weiter. Und ich bin nicht dein Vater! Noch schmerzvoller fand Georg das Verbot, zum Bertl „Bruder“ zu sagen. Als ihn die anderen Buben verspottet hatten, ihm wieder einmal einer ein Bein stellen wollte, rief Georg in seiner Empörung: Ich sag’s meinem großen Bruder! Der Bertl aber hatte darauf nur gelacht und Georg nicht einmal angeschaut. Der ist nicht mein Bruder, hatte Bertl gemeint. Der? Der ist doch nicht mein Bruder!

Nein, Georg würde das Wort „Großvater“ nicht über die Lippen bringen. Wie er ganz sicher wusste, war das verboten. Jetzt getraute er sich kaum zu atmen vor Verlegenheit und Glück. Später erinnerte er sich oft an den alten Mann und seine Worte, an diese einzigartige Szene vor der Kredenz mit den drei Bücherreihen darin; dass eine unbeschreibliche Faszination davon ausgegangen war und dass er das alles nie hätte vergessen wollen. Wie gern hätte er einen Großvater gehabt! Die wenigen Tage, die er in dessen Haus verbringen durfte, versprachen ein neues, nie empfundenes Lebensgefühl. Von den Speisen, die Georg auf seinen Teller bekam, stieg ein Duft auf wie er ihn noch nie genossen hatte. Er durfte essen so viel er wollte. Menschen kamen in dieses Haus, die nie zu Herrn B. gekommen wären. Am Sonntag erschien der Herr Oberförster mit Frau zu einer Jause. Georg durfte ein Stück Gugelhupf nehmen und bekam sogar noch ein zweites. Dann sah er beim Kartenspiel zu. Dabei waren alle fröhlich und niemand wies ihm, Georg, die Tür.

Das alles zeigte sich jedoch bald als ein Traum. Es kam zum Wettstreit zwischen Vater und Sohn. Dem betagten Ehepaar wurde das Adoptionsrecht nicht zuerkannt. Zu alt, war das Urteil; auch liege eine Notwendigkeit für ihr Ansinnen nicht vor. Herr B. aber hatte wenig Verständnis für seine Eltern, noch weniger allerdings für jenes gefräßige Kücken, das ihm – wer das gewesen, brauchte ja niemand zu wissen – ins warme Nest gelegt worden war. Er sei nicht der Vater, ein für allemal! sagte er laut. Und wer freiwillig für die Ernährung dieses unersättlichen Bengels zahlen wolle, könne das jederzeit tun.

Der Entscheid sprach für Herrn B. und Georg musste wieder zurück in dessen Haus. Verboten war ihm von da an jeder Kontakt mit den alten Leuten. Würde er zuwiderhandeln, dürfe er in seinem warmen Nest nicht mehr bleiben. Georg weinte nach den beiden Alten, wusste er doch außer dem ihren kein anderes Nest. Und bei Herrn und Frau B. war es ja nie besonders warm gewesen.

Die Eltern des Herrn B. starben bereits nach wenigen Jahren, erst der Mann und bald danach seine Frau. Herr B. aber war ab dem Zeitpunkt oft außer Haus und kam manchmal tagelang nicht heim. Frau B. sagte nichts. Sie besorgte sich wöchentlich Liebesromane aus der Sammlung des Trafikanten, und Georg hatte sie, wenn alles gelesen war, pünktlich zurückzubringen um neue zu holen.

Das andere Brot

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