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2 HÖREN UND SEHEN

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Angst und Scheu fielen von ihm ab, als er nach jenem ersten Jahr der Bedrängnis leichteren Herzens durch das Schultor ins Freie kam, gewöhnt an manches, das drinnen ihm kaum erträglich gewesen. Draußen fühlte er sich weniger fremd. Blies ihm der Wind auch heftig um die Ohren, blieb im Winter der Schnee auch in den zu großen Schuhen stecken und seinen klammen Zehen ein Extrabad nicht erspart, ertrug Georg doch derlei nach Kindesart beinahe heiter. Nun kannte er seinen täglichen Weg, auch die meisten anderen Wege im Ort, lief dahin und dorthin und landete nur im Haus seiner Kostgeber, wenn es allzu früh dunkel wurde oder Eiseskälte ihn vor sich hertrieb.

Am liebsten erinnerte er sich an die Ferienzeit. War der Sommer noch nicht zu Ende, lockten die warmen Tage ihn manchmal auch weiter fort. Leicht und frei liefen seine Füße dahin, denn Schuhe gab es nicht, die ihn gestört oder verärgert hätten. Es lebt sich ja leichter auf bloßen Sohlen. Dahintrottend durch die Gassen horchte er auf alle Geräusche, die aus Türen und Fenstern drangen, sah einem Vogelschwarm nach oder spielte mit jungen Kätzchen. Gerüche kamen von überall her und manches lag in der Luft, das er zu deuten noch nicht vermochte. Das weckte die Neugier.

Georgs eindrucksvollstes Erlebnis, das ihm aus jener Zeit in Erinnerung blieb, erzählte er freimütig und gern auch noch nach vielen Jahren. Eine Sensation, die nicht nur das Kind, sondern auch die erwachsenen Bewohner des abgelegenen Dorfes aus ihrem eintönigen Leben riss.

Eines Spätnachmittags war der Bub, allein gelassen in unwirtlicher Wohnstatt durch den Garten hinausgelaufen und um Zäune und Felder gestrichen. Zurück auf der Dorfstraße blieb er stehen. Er meinte, von irgendwoher leise Musik zu vernehmen, deutliche, zeitweise durchaus fröhliche Melodien, gefolgt von kaum hörbaren, plötzlich heftig aufrauschenden Tönen, die von schrillen Stimmen jäh unterbrochen, unerwartet wieder verschwanden. Das faszinierte den Kleinen, weil die Musik ja bald ebenso unerwartet wieder da war, so als seien Unterbrechungen nichts Besonderes. Das berührte ihn seltsam und erhöhte die Spannung. Blieb er stehen um genauer zu horchen, konnte es sein, dass plötzlich alles verstummte und erst nach längerer Zeit, wie von ferne langsam sich nähernd, mit erregender Heftigkeit wieder anhob.

Georg stand da wie verzaubert. Diesen Tönen musste er nachgehen, aber wohin? Er wanderte eine Häuserreihe entlang, lief zurück und in andere Gassen, solang bis er meinte, jetzt sei er auf der richtigen Spur. Die Gebäude standen nicht überall dicht beisammen. Er hatte das Dorf beinah hinter sich, der Himmel war düster geworden. Da erschrak er nicht wenig über den ungewohnten Anblick einer Menschenmenge, die aus einem breiten, weit geöffneten Tor ihm entgegenkam. Georg verbarg sich hinter einer Mauer, wo er im Gebüsch und dessen Schatten beinah verschwand. Das Getrappel kam näher und Georg fühlte sich überwältigt von der Vielzahl der Menschen. War denn das ganze Dorf unterwegs? Die Vorüberziehenden redeten miteinander, manche laut und erregt, andere leise, beinahe flüsternd. Manche gingen allein dahin. Einmal meinte das Kind, aus dem Gemurmel der vielen eine einzelne Stimme herauszuhören. Schön war’s, tönte hell eine Frauenstimme und eine andere fiel ein: Schön, ja, wirklich sehr schön! So zogen sie weiter, eine bemerkenswerte Schar sonntäglich gekleideter Dorfbewohner. Sie beachteten Georg nicht und verschwanden bald, einer nach dem anderen in ihren Häusern. Und stiller und dunkler wurde die anbrechende Nacht, so dass ihm bald unheimlich wurde, er hervor kroch aus seinem Versteck und schnell davonlief.

Dieser unbegreifliche Vorgang wiederholte sich mit einer Regelmäßigkeit, deren Sinn nicht zu erkennen war und beschäftigte ihn umso mehr, weil eine Frage an die Erwachsenen gewiss Ärger zur Folge gehabt hätte, vielleicht sogar Schlimmeres. Er behielt das Geheimnis daher bei sich, lief zu gewissen Tageszeiten hinaus und horchte auf das herrliche An- und Abschwellen der Musik, die sich in seinen Ohren festsetzen wollte. Er lauschte den geheimnisvollen Stimmen dazwischen und allen anderen Geräuschen, die er sich nicht erklären konnte. Wieder und wieder zog es ihn zu dem ihm nun wohlbekannten Versteck.

Eines Abends erkannte Georg in der Schar der heimwärts Wandernden seine Kostgeber, Herrn und Frau B. Erschrocken huschte er durch das nächste Gestrüpp und lief so schnell seine nackten Füße ihn trugen voraus, um vor ihnen im Haus zu sein und etwaigen Unmut über seine unerlaubte Abwesenheit gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Die beiden B.s kamen gemächlich und gut gelaunt daher, sie redeten über etwas, das sie gesehen hatten. Ein Kino ist das, erklärte Frau B., als Georg gespannt und neugierig zu ihr aufsah. Aber du bist noch zu klein für solche Sachen. Kinder haben dort nichts zu suchen. Als sie das ängstliche Bubengesicht ans Licht zog, verblüfft, wie geschwind er ihr auswich und mit abgewandtem Blick in den Garten entschwand, ahnte sie nicht, was in ihm vorging. Georg redete wenig im Haus des Herrn B. und gefragt wurde er selten.

Doch ab nun gab es etwas, das er sich innig wünschte, alle nur möglichen Pläne wälzte und gefährliche Wege beschritt, um sein Ziel zu erreichen: das Kino und diese Musik. Seine ganze Aufmerksamkeit nahm es ein, sein ganzes Sinnen und Trachten. Gab es, so wie das manchmal der Fall war, eine Nachmittagsvorstellung, hielt Georg sich möglichst unbemerkt in der Nähe des Eingangs auf und wartete mit harmlos unverdächtiger Miene bis der Kinobetreiber ihm den Rücken kehrte und sich in dem dämmerigen Vorstellungsraum verlor. Dann warf er alle Bedenken von sich und kroch blitzschnell hinein in das Dunkel; lugte auf allen Vieren kriechend durch die Spalten zwischen den Sitzen und bewegte sich lautlos, um ganz sicher zu sein, dass ihn niemand bemerkte, weder der geschäftige Kinomann, noch die Besucher, die allmählich daherspaziert kamen und plaudernd sich auf ihre Plätze begaben. Kaum je fiel da ein Verdacht auf den blinden Passagier.

Georg, ein Leichtgewicht, wendig und flink, kroch behände zu jenen Stellen, wo kein Auge seiner gewahr werden konnte. Der Kinoraum war nie zur Gänze besetzt, erklärte er später, ja manchmal so spärlich, dass er seitlich neben den Sitzreihen auf Knien oder Hosenboden rutschend in der Finsternis schließlich bequem den Platz wählen konnte, der ihm am besten geeignet schien. Die vorderen Reihen blieben ohnedies immer leer und Georg war klein. Selbst wenn er sich auf einen der hölzernen Sitze begab erblickte ihn niemand. Erst als er größer wurde mit den Jahren, sein eingezogener Hals, die erzwungene Krümmung und auch manches andere ihm unbequem wurde, wechselte er auf den Boden. Die wichtigsten Stunden seiner Kinderzeit habe er dort verbracht, und das über lange Zeit, erinnerte er sich; mit den Filmen, den Bildern, der wundersam sich ihm offenbarenden Welt, der Musik und den redenden, lachenden, manchmal auch weinenden Menschen auf der Leinwand. Aus ihrem Reden, im Ernst wie im Scherz, habe er manches gelernt.

Was hat denn der kleine Kerl davon, begann wer ihn in dem Dunkel erkannt und dennoch geschwiegen hatte, vermutlich zu fragen. Was kann so ein Kind, das noch gar nichts vom Leben weiß, ja nicht einmal das Nötigste über sich selber; was kann eines, das Handlungsabläufe noch nicht versteht; was könnte dieser versteckte, winzige Kinogast unter all den Erwachsenen denn dort gesucht und gefunden haben?

Nicht zu wenig, bedenkt man die mannigfachen Impulse, die Georg ohne Kinobesuche niemals gehabt hätte. Er begann von sich aus, ganz ohne Zwang, gleich mehrere Tugenden auf einmal einzuüben; seine Aufmerksamkeit auf ein Ziel zu richten statt planlos die Zeit zu vergeuden; rasche Erledigung seiner Schulaufgaben und sonstigen Pflichten um immer pünktlich vor Ort zu sein; und Genauigkeit, denn er durfte sich keineswegs nachlässig bei jenen Tätigkeiten zeigen, die ihm nun einmal zugeteilt waren. Georg lernte, seinen Tag einzuteilen, pünktlich auf die Küchenuhr der Frau B. zu schauen, um rechtzeitig fortzuhuschen. Er lernte penible Ordnung, Zeitgefühl und Genauigkeit in seinem Alltag.

Dadurch ging ihm die Arbeit, zu der man ihn mit Strenge anhielt, viel flinker vonstatten. Er gewann Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, wenn er schneller war als die Kostgeber das erwarten konnten und lernte Verschwiegenheit nebenbei, weil die nun einmal nötig war. Von seiner verbotenen Leidenschaft durfte ja niemand wissen. Das erforderte Selbstbeherrschung, bei genauerer Betrachtung sogar Selbsterziehung, die ihm später in anderen Bereichen gut anstand.

Beim Hinhören und Schauen lernte er Aufmerksamkeit und Konzentration. Natürlich reichte das nicht, um Zusammenhänge einer komplexen Handlung zu erfassen, doch bemühte er sich darum sehr, es schärfte sich sein Verstand. Georg gewann eine Menge nur scheinbar nutzloser Kenntnisse, die ihm im späteren Leben dienlich sein konnten und Vorteile ermöglichen würden.

Den Kleinen faszinierte das Neue, das völlig Unbekannte an diesen Bildern. Das waren damals – es ist ja schon lange her – meist sorgfältig gekleidete Menschen, gefällig frisiert und sauber; Menschen, die Schuhe trugen und freundlich lächeln konnten, Männer und Frauen. Interessant waren auch ihre Reden, Bewegungen, ihr ganzes emsiges Tun. Menschen waren das, wie Georg sie nie erlebt hatte, die ihm zu fehlen begannen, wenn er an den alltäglichen Orten ankam, in der Schule, im Haus, im Garten. Die freundlichen Gesichter fehlten ihm, ohne dass er Näheres von ihnen wusste. Im Film redeten alle meist ohne Scheu und sichtbaren Hinterhalt. Sie lächelten, lachten, was Georg gern nachzuahmen versuchte. Durch Nachahmung lernte er schließlich auch das, was man vielleicht sogar Charme hätte nennen können, der sonst wohl keinem aus seiner Umgebung je abzuschauen war.

Die Unbeschwertheit, mit der die Menschen im Film einander begegneten bezauberte ihn. Auch ihre Gewohnheit höflich zu grüßen, zu bitten, zu danken. Wie sie, die Herren, den liebenswürdigen Damen Blumen schenkten, oder den Vortritt ließen! Das alles erschien Georg ganz wunderbar, schön und nachahmenswert. Man saß bei Tisch, speiste mit Messer und Gabel, während Georg meist nur mit dem Löffel die Dinge in sich hineinstopfte. Bald begann er zu ahnen was heiteres Geplauder war und nahm sich vor, das einmal auszuprobieren, auf andere zu schauen und auch zu hören, was sie von ihm wissen wollten. Ihnen würde er antworten wie einer der freundlichen Herren auf der Kinoleinwand. Er betrachtete deren Kleidung und nahm sich vor, eines Tages auch so einen feinen Anzug zu tragen wie sie, aber jetzt schon, zumindest am Abend, seine Hosen vom Staub zu befreien, sie auszuschütteln und nicht achtlos auf den Boden zu werfen. Nie sah er einen dieser Männer barfuß gehen, die Frauen auch nicht. Sie trugen Socken oder Strümpfe. Georg beobachtete da sehr genau. Wenn, was er sich sehnlich wünschte, einmal ein Mädchen ihn ansprach, würde er in Schuhen vor ihr stehen, ihr zuhören und auf ihre Freundlichkeit freundlich antworten. Dass es solche Menschen wie in diesen Filmen überhaupt gab, grenzte beinah an ein Wunder, denn höchst selten reagierten sie mit Geschrei und Geschimpfe, und Ohrfeigen setzte es so gut wie nie.

Nach und nach wurde Georg ein anderer. Nie, das nahm er sich vor, würde er aufhören ins Kino zu gehen. Das Überraschende nämlich, sicherlich auch das Schönste an diesen Filmen war die Liebe. Und am allerschönsten ein Kuss. Daran dachte er wieder und wieder, weil er sich nicht erinnern konnte, jemals geküsst zu haben oder gar geküsst worden zu sein.

Was außerdem auffiel und ihn mächtig beeindruckte? Dass die Menschen im Film sich einer anderen Sprache bedienten. Bald unterschied er genau zwischen den Redegewohnheiten der Leute im Dorf und verglich sie mit denen der Schauspieler. Der Lautklang jener Frauen und Männer gefiel ihm. Ähnlich wie die seiner Lehrerin, dachte Georg, nur noch viel schöner. In der Schule hörte er dennoch bald aufmerksam auf die Stimme der strengen Frau, verlor langsam die Angst vor ihren Fragen und wusste nach und nach manchmal sogar eine passende Antwort darauf.

Was er nicht liebte, waren hässliche Szenen, die es ab und zu vor der Filmvorführung zu sehen gab. Unüberhörbar, besonders gegen Ende der Dreißigerjahre die Zeichen der Zeit. Die raueren Reden der Männer, die Menschenmengen und Furchterregendes jeglicher Art, das Georg bekannt vorkam und das er gern mied.

Es machte ihn glücklich, wenn in der warmen Jahreszeit die Türen des Kinosaals offen standen und sich ihm die Gelegenheit bot, erst gegen Ende einer lärmenden Vorschau, wenn die Kinogäste, vom Flugzeuggedröhn und dem Geschrei eines Einzelnen oder einer Menge überwältigt, unbemerkt in das schützende Dunkel zu tauchen. Dann konnte er nach Ablauf des Lärms wieder völlig gefahrlos auf allen Vieren sich den Wundern der Schönheit und manchmal doch auch der Liebe nähern.

Die geheime Herrlichkeit seines Bubenlebens war leider zu Ende, als Georg zu viele unvorsichtige Nachahmer fand. Den Kindern des Dorfes blieb nichts verborgen. Sie kamen in Scharen und wollten auch dieser Freuden teilhaftig werden. So wurde die Sache bald offenbar und äußerst schwierig für Georg. Als Frau B. davon erfuhr war sein Traum zu Ende, doch da glaubte er ja bereits zu wissen wie die Dinge des Lebens liefen, was davon nachahmenswert war und schön – und was verabscheuenswürdig und unangenehm. Das wollte er meiden.

Was Georg sonst noch aus jener Zeit im Gedächtnis blieb? Neben der Freude an Musik war es die nicht zu leugnende Tatsache, dass es völlig verschiedene Menschen gab, einer mit anderen keineswegs vergleichbar. Das zeigte nicht nur die Art und Weise wie sie sich gaben, wie sie miteinander sprachen, sich kleideten und bewegten. Hören konnte man das bereits an dem Tonfall der Stimmen, in den Gesichtern konnte man unterschiedliche Regungen sehen, so wie sie Georg ja auch manchmal packten und überwältigten. Wie schrecklich und Furcht erregend die einen, wie reizend und nett manch andere Menschen! Und wie sie sich zueinander verhielten, besonders, wenn einer verliebt war! So etwas hätte auch er gern erlebt, dass jemand so nett zu ihm gesprochen hätte. Mit sanfter Stimme, beruhigend, einfach lieb. Hier im Dorf gab es das nicht. Für vieles nicht einmal Wörter.

Doch käme Georg, einmal erwachsen, hinaus in die Welt der Großen – er stellte sich das ganz wunderbar vor – würde er manches, was er hier in den Filmen bewunderte, wiederfinden: die guten, die unguten und die schrecklichen Menschen. Die Freundlichsten, Liebenswürdigsten von allen würde er sich aussuchen. Er selber aber wollte wie sie, mit Schuhen, Hut und sauberem Anzug, gern einer von ihnen sein.

Das andere Brot

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