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KAPITEL 7 Rip Van Winkle in einem Schneeloch
ОглавлениеPolen, Dezember 2003
Alles ist schwarz. Ein erdrückendes Gewicht liegt auf mir. Ich bin mit der Taschenlampe in der Hand eingeschlafen und als ich sie einschalte, sehe ich, dass das Innere des Biwakzelts mit einem riesigen Wirrwarr aus ausgefranstem Seil gefüllt ist.
Es ist gar kein Seil. Tatsächlich ist es mein halb gefrorener Atem, der recycelt, geschmolzen und wieder gefroren ist, da es hier so wenig Luft gibt. Ich packe den Reißverschluss und muss ihn mit Gewalt aufziehen. Ein Haufen Schnee weht herein und vermischt sich mit meinem gefrorenen Atem. Ich schaufele und grabe mich nach oben.
Der Vollmond scheint auf eine strahlend weiße Landschaft hinunter und ich stecke in einer Schneewehe, eineinhalb Meter tief. Schon wieder! Die Sterne funkeln in mein Schneeloch. Im Biwakzelt sind die Schlafsäcke und Kochtöpfe mit Eis überzogen und mein schwarzer Sack mit kostbaren Dingen hat sich in einen weißen Sack verwandelt. Ich kann nicht glauben, dass ich gestern Nacht einfach hier gezeltet habe. Es ist, als ob ich mich seit tausend Jahren hier befinde, als ob ich Rip Van Winkle aus der Erzählung Washington Irvings bin, der sich für tausend Jahre in einer Höhle schlafen gelegt hat.
Ich vergrößere das Loch zu einer Art Höhle, dann hole ich den Kocher hervor. Ich hatte ihn im Schlafsack, um ihn warm zu halten, da ich in letzter Zeit Probleme damit hatte, ihn anzuwerfen. Ich stecke den Anzünder vorn in meine Kleidung, um ihn ebenfalls ein bisschen aufzuwärmen – und für immer zu verlieren. Zum Glück habe ich wasserfeste Streichhölzer in einer Blechdose dabei. Ich hacke Eis aus dem Kochtopf, mache mir triumphierend Schneeporridge zum Frühstück.
Als der Kocher nicht angehen will, löffele ich Kaffeepulver in den Becher, fülle ihn mit kaltem Wasser auf und stelle mir vor, er wäre von Starbucks. Er schmeckt gar nicht schlecht – ein tolles Training für die Fantasie.
Die meisten Dinge müssen anders gehandhabt werden – vor allem der Nachttopf. Im England des 18. Jahrhunderts hatten selbst die stattlichsten Herrenhäuser Töpfchen unter den Betten stehen. Niemand hatte das Bedürfnis, mitten in der Nacht durch eisige Flure zu laufen, auf der Suche nach der Toilette. Mein Nachttopf ist eher eine Art Bergsteiger-Pinkelbüchse für Notfälle, aber er hat einen guten Deckel, was das Wichtigste ist. Ich kann mich nicht bei 15 Grad minus in die Dunkelheit und den Schnee hinauskämpfen, mir den Allerwertesten abfrieren und den ganzen Schnee mit mir hier hereintragen.
Lebhafte menschliche Begegnungen und tiefe Einsamkeit wechseln sich ab wie Sätze in einer Symphonie. Ich liebe Polen. Nach der Einsamkeit finde ich die Leute hier so warmherzig und witzig, mit dem Gelächter und dem Geist von Menschen, die im Laufe ihrer Geschichte harte Zeiten erlebt haben, aber nie innerlich besiegt wurden.
Kurz vor dem Schneesturm gab es zwei goldene Herbsttage. Diese letzten Momente schienen besonders strahlend und kräftig zu sein, als wollten sie mir eine Erinnerung für den Winter mitgeben, die in den kommenden Monaten nicht verblassen würde.
Übermütige kleine Wirbelwinde drehen ein Karussell aus goldenen Blättern. Die letzten Farben, bevor der Schnee kommt, sind ein leuchtendes Scharlachrot, Purpur und Orange in den Wäldern. Der letzte Tanz der Blätter.
Die erste Stadt, die ich erreiche, Świnoujście (Swinemünde), ist eine Fundgrube von Märkten, ein Spektakel von Leben und Farbe. Wärmflaschen baumeln zu Dutzenden über Verkaufsständen, beste Qualität für das kälter werdende Wetter, neben dicken Socken, Batterien in allen Größen, pikant riechenden Würsten, Gemüse und wunderschön gravierten Glaswaren. Die Leute umarmen sich, lachen viel, tragen große Pelzmützen. Meine Stimmung hebt sich beim Anblick Hunderter entzückender kleiner Pferde, die in einem leichten Galopp Taxikutschen ziehen, mit fröhlich bimmelnden Glöckchen, oder die ihre Köpfe tief in dicke Futtersäcke gesteckt haben. Ich verliebe mich prompt in ein glänzend kastanienbraunes Pony mit einer wilden schwarzen Mähne und vier weißen Socken.
Ich tätschele das Tier, als sein Besitzer auf mich zukommt, ein weißhaariger, energiegeladener alter Mann. Er holt sein Akkordeon hervor und singt mir ein Lied. Ich verstehe den Text nicht, aber es klingt toll. Ich habe nicht erwartet, nach Polen zu kommen und mit einem Ständchen begrüßt zu werden. Ich sehe riesig aus in meinen feuchten Jacken und nehme an, dass mein Gesicht schlammverschmiert von den Lastwagen ist, die durch den Zoll gekommen sind. Als Nächstes zückt er ein großes, sauberes weißes Taschentuch, streckt eine Hand aus und wischt mir zärtlich das Gesicht ab. Dann erklärt er, dass ich ihn heiraten muss, denn er braucht eine Frau und offenbar bin ich genau die Richtige. Ich glaube, er fragt mich nur, um mich zum Lächeln zu bringen, da ich friere und einsam bin, aber es muntert mich tatsächlich auf. Ich nehme an, es ist typisch polnische Galanterie. Er spricht Englisch, aber er versteht kein Wort von dem, was ich zu ihm sage. Ich werde mich immer an meine ersten polnischen Worte erinnern, die ich mithilfe meines Sprachführers zusammenstöpsele: »Vielen, vielen Dank, aber ich bin vergeben.«
Er küsst mir die Hand und verschwindet. Er hatte erwähnt, er sei fast neunzig – schwer zu glauben – und froh, noch immer zu arbeiten. Seinen Namen habe ich nie erfahren, aber er ist ein wundervoller Mensch und nach unserer Begegnung fühle ich mich wie runderneuert.
Ich laufe los über Wolin, im Grunde eine Insel, die mit einem winzigen Landstreifen und einer Brücke an einem Ort namens Dziwnów mit dem Westen der Nordküste verbunden ist. Hier gibt es ein spektakuläres Naturschutzgebiet mit majestätischen Wäldern. Das Schneetreiben wird heftiger. Der tiefe Winter bricht über Nacht herein. Die Campingplätze und Häuser der Feriendörfer an der Küste sehen gespenstisch aus. Gebäude tosen und schwanken in den Schneestürmen. Die Türen zu Touristencafés mit verlockenden Schildern von Eiscreme und heißem Kaffee sind verschlossen und verriegelt, aber die einheimischen Bauern sitzen hier und da in Cafés beisammen. Ich kann meine nasse Ausrüstung unauffällig ablegen und meine Socken und Westen auswringen. Niemand bittet mich zu gehen, obwohl ich Pfützen auf den Böden hinterlasse. Natürlich, die Besitzer und Gäste sind so wundervoll zu mir, da sie selbst draußen sein und sich um die Farmen kümmern müssen. Ich kaufe Essiggurken, Schwarzbrot, wundervolle Würste voller Kalorien und ich bekomme heißes Bier zu trinken – die Einheimischen sagen, dass es das beste Heilmittel gegen Erkältung und auch alles andere ist.
Ich kann mich auf Polnisch verständigen und sie geben sich alle Mühe, mich zu ermuntern, da nur wenige Menschen auf dem Land Englisch sprechen. Es berührt mich zutiefst, dass die Menschen in den kleinen, schwer kämpfenden Gemeinden in Cafés und auf Märkten offenbar auch ohne viele Worte verstehen, was ich tue, »diesen verrückten Marathon«, und warum ich diese äußere und innere Reise absolvieren muss.
Krebs ist auch hier ein Problem. Ich erfahre, dass er an der polnischen Küste häufig vorkommt. In Koszalin ruft jemand die Lokalzeitung an und ich gebe ein gestammeltes Interview auf Polnisch, um das allgemeine Bewusstsein für den Krebs und Vorsorgeuntersuchungen zu fördern. Ich freue mich so, dass meine Botschaft vielleicht auch hier bei irgendjemandem ankommt und hilft. Ich denke an Clive. Ich frage mich noch immer, wie alles gekommen wäre, wenn wir früher zum Arzt gegangen wären. Die Gründe für meinen Lauf sind nicht zu Hause zurückgeblieben. Wenn man etwas aus einem bestimmten Grund tut, stelle ich fest, dann gibt der Grund selbst die Hilfe zehntausendfach zurück, da er dich so viel entschlossener macht.