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KAPITEL 4 Augen an den Füßen

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England–Holland–Deutschland, Oktober 2003

Kabbelige Wellen in der frischen Brise. Dunkelheit senkt sich herab, während ich auf England zurückstarre.

Es ist 225 Meilen her, seit ich die Severn Bridge überquert habe. Möwen kreischen, während die Fähre ablegt. Ich stehe an Deck und sehe zu, wie in der Dämmerung die Lichter Harwichs angehen.

»Oktober-Brombeeren sind die Früchte des Teufels«, pflegte meine Großmutter Carlie zu sagen, aber ich finde, sie sind die verlockendsten Früchte von allen. Sie sind praktische Auftankstationen für einen Läufer und ich tue mich an ihnen gütlich. Über der sanft geschwungenen englischen Herbstlandschaft steht ein Vollmond und die Tage sind strahlend und sonnig, wenn auch manchmal kühl. Es ist ein schöner Lauf.

Zu den eindrucksvollsten Bildern auf diesem Teil der Strecke gehören die ehrwürdigen Gebäude und Gelände großer, stattlich aussehender Orte wie der Marlborough Public School, schrullige Häuser und winzige Cottages in stillen Dörfern und kleinen Marktflecken wie Castle Combe, Chipping Sodbury und anderen. Selbst Slough, durch das ich immer nur durchgefahren bin, sehe ich jetzt mit anderen Augen.

Überall werde ich angefeuert und mit guter Laune und Freundlichkeit unterstützt; vor allem vor den Pubs längs des Kanalwegs von Slough nach London, wo Leute vor ihren Pints sitzen, die sich in dem klaren Wasser zu doppelten Pints spiegeln. Unterwegs sehe ich Füchse und Dachse und der Morgengesang der Amsel folgt mir überallhin.

Ich habe dieselben Gefühle, die ich hatte, als ich Wales verließ: England, die Gesamtheit der Britischen Inseln, ist so kostbar und schön. Meine Ohren schmerzen vom Zuhören und von dem Versuch, mir die Melodie der Amseln einzuprägen, und meine Augen und mein Verstand sind gequält davon, die Eindrücke um mich herum abzuspeichern, die ich jahrelang nicht wiedersehen werde.

In der Nähe von Marlborough in Wiltshire hält ein Tierarzt mit seinem Wagen an. Sein Name ist Martin und er erzählt mir, dass er ebenfalls ein Läufer ist. Als er von Land’s End nach John O’Groats lief, benutzte er einen Babyjogger.

»Viel einfacher, als einen Rucksack zu tragen. Du schleppst zu viel Gewicht mit dir herum, damit wirst du dir langfristig den Rücken ruinieren. Du brauchst einen Anhänger, den du ziehen kannst.«

Im Nachhinein betrachtet wusste ich seinen Rat wirklich sehr zu schätzen und ich wünschte, ich hätte ihn früher befolgt. Aber damals dachte ich, es könnte schwierig sein, mit einem Anhänger nachts zu zelten und tagsüber auf Waldwegen voranzukommen.

Es bedeutet mir so viel, dass Mark, Clives Lieblingsneffe, seine Frau Mandy und ihr Sohn Andrew herausfahren, um mich zu treffen. Sie sind ein solch großer Teil von alledem, genau wie Geoff, den ich davor erst ein einziges Mal beim Omsk-Marathon getroffen habe, es bereits jetzt ist. Geoff läuft zwanzig Meilen mit mir und zum Abschluss trinken wir kalte Limonade. Die schönsten Momente erlebe ich an den beiden Abenden mit Eve, Pete und meinem Enkel Michael, nachdem ich den Kanalweg von Slough nach London hinuntergelaufen bin. Ich wache im Gästezimmer auf und denke: Ich habe alle Zeit der Welt.

Bitte lass die Zeit stillstehen – aber bitte lass die Zeit auch verstreichen, damit ich sie durchstehen kann. So viele Menschen machen dasselbe durch, wenn sie auf irgendeiner Mission sind – oder in den Krieg ziehen. Dieser Lauf macht mir Freude, aber er ist auch mein kleiner persönlicher und entschlossener Kampf, mein bescheidener Beitrag zum Leben. Nicht viel verglichen mit dem, was viele andere leisten. Wenn ich Ärztin oder Krankenschwester wäre, würde ich nicht um die Welt laufen, denn dann könnte ich hier mehr leisten.

Ich liebe meine Familie über alles. Eve ist so wie ich, nur weitaus schlauer und schöner; Michael ist eine verwandte Seele, auch wenn er erst eineinhalb ist; Pete ist Liverpooler, Designer von Beruf – einer der besten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Sie wollen, dass ich meinen Lauf antrete; ich tue es für Clive, aber ich tue es auch für sie.

Ich bin auch sehr traurig, als ich mich von Catherine in London verabschiede und von Nedd, dem lieben schwarzen Kater, der sie besitzt, nicht andersherum. Ich bin zuversichtlich, dass ich sie alle wiedersehen werde; ich bin zuversichtlich, dass alles klappen wird; aber mein Herz hämmert angesichts des ungeheuren Ausmaßes der Reise, die vor mir liegt.

Ich verbringe mehrere Tage damit, von London nach Colchester und weiter zur Ostküste zu laufen. Immer wieder denke ich: Das hier ist nur ein kleiner Schritt, ein kleiner Atemzug bei meinem Ziel, den Globus zu umrunden. Ich habe es geplant, mich darauf vorbereitet, wurde dazu inspiriert; und doch ist es noch immer etwas, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich es in meinem Leben je erreichen könnte. Es ist voller praktischer, prosaischer Pläne und Strategien und Lösungen, aber immer noch etwas weit jenseits aller Horizonte, die ich kenne.

Am 19. Oktober gehe ich an Bord der Fähre nach Holland.

Die Fähre legt um vier Uhr morgens in der dunklen Stille vor dem Morgengrauen in Hoek an. Ich packe das Biwakzelt aus und ruhe mich eine Weile darin aus, erwache unter einem Himmel, an dem ein orangerot aufflammender Sonnenaufgang erstrahlt. Die riesigen Wolken am Himmel sind golden verfärbt. Ich verstehe, warum Wolken in Holland »die holländischen Berge« genannt werden. Sie sind die spektakulärsten Gipfel, die es hier gibt. Bald spiegelt sich das frühe Licht auf den Spitzen vieler Glashochhäuser in der Stadt, die wie Diamanten funkeln. Tausende von Menschen erscheinen auf Fahrrädern auf ihrem Weg zur Arbeit. Alle sind warmherzig und gut gelaunt, wünschen mir auf Englisch einen guten Morgen. In den Konditoreien und Bäckereien liegt der Geruch von heißem Kaffee, frischen Croissants und Kuchen in der Luft.

Ich beginne mit dem Fünfzig-Kilometer-Lauf nach Haarlem. Die Strecke führt durch einen Wald, dann an Deichen und Kanälen entlang. Nebel senkt sich. Boote tauchen aus dem Dunst auf, scheinbar zum Greifen nah. Ich sehe nebelverhangene Windmühlen, endlose Deiche. Ich war schon ein paarmal in Holland, aber es hat sich nie so angefühlt wie jetzt. Während meines zweiwöchigen Laufs durch Holland wird mir bewusst, dass es die Art des Reisens ist, auf die es ankommt. Ich preise den schweren Rucksack, der mich bremst, da ich damit so schön langsam bin. Langsamkeit verleiht deinen Füßen Augen und kann ein Katalysator für die Sinne sein.

Klaas Hoeve verlegt zwei meiner Segelbücher in niederländischer Sprache. Er und seine Assistentin Madelon laden mich in Haarlem zum Mittagessen ein. Sie bringen mir Schokolade mit, auf der mit riesigen Schokoladenbuchstaben Rosie steht. Er trifft mich später noch einmal im Norden Hollands, in Leeuwarden. Ich esse jeden Tag einen Buchstaben meines Namens als zusätzlichen Energieschub, während ich mich auf kleinen Straßen und Wegen weiter fortbewege. Ich schlängele mich durch Marschland, Deiche und mehr leere Gegend, als ich in Holland je für möglich gehalten hätte, in einer nebelverhangenen Landschaft mit plötzlichen Lichtstrahlen, Regenschauern, Windmühlen und Farmen, oft nur schwach sichtbar, wie auf dem zarten, verwaschenen Leinwandgemälde eines Künstlers.

Ich verbrauche viel Energie und muss oft etwas essen. Ich kaufe mir Essen in kleinen Läden in abgelegenen Dörfern. Die Händler haben Verständnis, wenn ich nur ein paar Kartoffeln, drei Karotten, eine Zwiebel kaufe. Gemüse ist köstlich, aber schwer zu tragen. Meine Einkaufsgewohnheiten ändern sich vollkommen, da ich alles auf dem Rücken tragen muss. Und ich entdecke Spaghetti neu – köstlich mit holländischem Käse. In jeder Packung sind fünfhundert Gramm und hundert Gramm enthalten dreihundert Kalorien. Wenn man noch ein paar verschiedene Kleinigkeiten dazugibt, ist es eine gute, preiswerte Mahlzeit. Mein kleiner Kocher wird zu meinem Lebensmittelpunkt. Auf dem Land gibt es nicht viele Cafés, nicht einmal in Holland. Und selbst wenn ich ein Restaurant finde, halte ich nicht oft an. Ich muss sparsam wirtschaften, da mein Budget für den gesamten Lauf sehr klein ist. Ein paar Tausend Pfund pro Jahr.

Der erste Frost kommt am 23. Oktober: ein paar Schneeflocken, gefolgt von stürmischen Graupelschauern und Regen. Ich bin froh, dass ich ein Paket mit etwas strapazierfähigerer Kleidung und Ausrüstung abgeholt habe, das an meinen Verleger vorausgeschickt wurde. Das Wetter ist immer gut, wenn man in einer sturmfesten PHD-Khumbu-Gortexjacke steckt.

Am 25. Oktober laufe ich über die ersten 15 Kilometer des Afsluit-Deichs, der sich über 35 Kilometer auf eine wunderschöne, dramatische Weise zwischen dem offenen Wasser der Waddenzee und dem Binnengewässer des IJsselmeers erstreckt, ein gewaltiges Meisterwerk der Ingenieurskunst, das die einzige Verbindung zwischen dem Westen Hollands und Friesland ist.

Ich erreiche Leeuwarden und obwohl ich mich schläfrig und wie ein nasser Hund fühle mit meinem dampfigen Atem und Haaren wie ein durchnässtes Fell, bin ich einfach zufrieden. Leeuwardener Collegestudenten bereiten mir einen herzlichen Empfang. Bald fühle ich mich dank ihnen wieder rundum wohl; ich lasse die wichtigsten Sachen trocknen, dusche heiß und ruhe mich aus. Dann beginnen die eigentlichen Ereignisse des Tages. Die Straßen füllen sich mit Läufern, die alle Rosie’s-Run-T-Shirts tragen. Wir laufen 25 Kilometer durch wunderschöne, bewaldete friesische Landschaft, vorbei an traditionellen Häusern mit geschnitzten Veranden und einem ganz eigenen Gepräge.

Die Unterstützung ist derart, dass ich mich überhaupt nicht erschöpft fühle; und das Event endet mit einem Konzert des örtlichen Shantykoors, der tolle Seemanns-Shantys und andere Lieder singt. Die Strophen von Molly Malone und Irish Eyes Are Smiling hallen noch immer in meinem Kopf nach, während ich weiter in Richtung Deutschland laufe.

Ich überquere die Grenze am 2. November, einen Monat nachdem ich losgelaufen bin. Jetzt habe ich fünfhundert Meilen geschafft, aber die nächsten zehntausend Meilen werde ich in Kilometern zählen, was besonders aufmunternd ist. Kilometer sind vielleicht nicht so liebenswert wie Meilen (nie im Leben erreicht man einen »Kilometerstein«), aber sie geben einem das Gefühl, voranzukommen, indem sie sich schneller addieren.

Ich überquere die Grenze ein Stück hinter der letzten niederländischen Stadt, Groningen. Keine Passstempel, keine Beamten. Man würde kaum wissen, dass man in einem anderen Land ist. Aber hinter Bunde stoße ich auf einen wunderschönen Weg, auf dem ich die ganzen stark befahrenen Straßen meiden kann.

Der Regen hat eingesetzt und alles wird immer wieder nass. Außerdem kann ich die Augen kaum noch offen halten, während die Aufregung der letzten Woche mich einholt. Ich bin so müde, dass ich umfalle, wo ich anhalte, was zufällig in einem wunderschönen spätherbstlichen Wald ist. Ich werde nie verstehen, wieso ich mir Deutschland immer als Industrienation vorgestellt habe, denn hier gibt es auch die herrlichsten Laubwälder, die ich je gesehen habe. Ich schlage das Biwakzelt auf, krieche in meinen großen Doppelschlafsack und bin im nächsten Moment eingeschlafen, völlig weggetreten.

Eines Nachts fahre ich mit einem fürchterlichen Schrecken aus dem Schlaf hoch. Irgendetwas ist gegen das Biwakzelt gekracht. Von draußen höre ich ein lautes Quieksen und schweres Keuchen. Ich spreche viele Gebete, alle auf einmal. Ich zittere am ganzen Körper und versuche, meine fünf Sinne zusammenzunehmen, während ich mir meine Taschenlampe schnappe.

Mein längster Lauf

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