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KAPITEL 10 Die Welt besonderer sogenannter gewöhnlicher Leute

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Litauen, Januar 2004

Mädchen mit hohen Wangenknochen und leuchtend scharlachrot oder grün gefärbten Haaren. Häuser, die sich zur Seite neigen, nachdem sie jahrelang von Stürmen gepeitscht wurden. Tannen, vom Eis gebeugt, Winde wie Mon­sunstürme und Menschen so voller Leben, dass sie, ob jung oder alt, zu tänzeln scheinen, während sie sich über die gefährlich vereisten Gehsteige in den kleinen Städten vorwärtsbewegen. Das sind meine ersten Eindrücke von Litauen.

Unter dem ganzen Trubel scheint das Leben hart zu sein. Wie in Polen kommt es mir auch hier so vor, als besitze jeder eine leidenschaftliche Entschlossenheit, sich nicht verbiegen zu lassen wie die Bäume in den Stürmen. Ich bin an einer Landstraße parallel zur Fernstraße unterwegs, um die erste Stadt, Marijampolė, 19 Kilometer nördlich der polnischen Grenze, zu erreichen. Ich laufe auf vielen kleinen Straßen, die nach Norden führen, weiter, wenn auch jeden Tag eingeschneiter. An Silvester werde ich von einer entzückenden Familie eingeladen, die ich in einem kleinen Dorfladen in der Nähe von Kazlų Rūda kennenlerne. Es sind Lena, die Russin ist, Artur, ein Litauer, Elzbieta und Iwan, ihre Kinder, und Babai, die Katze. Die Wohnung hat keine Türen. Ich glaube, sie sind zu beschäftigt, um welche einzubauen, da beide drei Jobs haben. Ein Lehrer verdient umgerechnet nur dreißig US-Dollar im Monat. Lena sieht aus wie eine Balletttänzerin. Sie ist hochgewachsen, schlank und sehr schön, mit langen Haaren, und sie scheint sich eher tanzend fortzubewegen und herumzuwirbeln, anstatt einfach nur zu gehen. Der kostbarste Gegenstand in ihrer Wohnung ist die Waschmaschine, die ihr Mann gekauft hat, nachdem er von einem Auswärtsjob zurück war. Es gibt Geschenke und eine zusätzliche Feier, erklärt Lena, weil Artur soeben zum ersten Mal seit einem Jahr bezahlt wurde, da sein Arbeitgeber die Löhne seiner Arbeiter einbehalten musste, um im Geschäft zu bleiben.

Lena wird imitiert von ihrer dreijährigen Tochter, die Rollerblades geschenkt bekommen hat und das Tänzeln auf ihren Skates versucht. Sie fällt immer wieder hin, aber sie lacht und steht wieder auf, hält sich jedes Mal ein bisschen länger. Es ist ein fröhliches Chaos und viel Spaß. Die Katze springt aus dem Weg, als wünschte sie, sie hätte auch Rollerskates, und übt schnelle Fluchten in dem kleinen Wohnzimmer, das zugleich als Schlafzimmer dient. Lena leert meinen Rucksack aus und steckt Kleidungsstücke, an denen noch immer Teile aus den Wäldern mehrerer verschiedener Länder zu hängen scheinen, in die Waschmaschine.

Danach essen wir ohne Ende. Ich bin so froh, dass ich in dem kleinen Dorfladen Würste, Kuchen und Schokolade gekauft habe, aber es ist nicht viel verglichen mit dem, was sie für mich auffahren. Wir sehen uns die Neujahrsfeierlichkeiten im litauischen Fernsehen an. Artur sagt, dass es, trotz des aufgesetzten Optimismus im Fernsehen, heutzutage schwer ist, Arbeit zu finden. Ein Reisevisum ist für fast alle Länder Europas nicht leicht zu bekommen und jetzt brauchen sie auch noch ein Visum für Russland, was früher nicht erforderlich war. Sie sind stolz, dass Litauen 1991 das erste Land der ehemaligen Sowjetrepubliken war, das unabhängig wurde, nach jahrelangem Blutvergießen, aber sie fühlen sich auch auf eine neue Art und Weise eingeengt.

Als es auf Mitternacht zugeht, gehen wir fröhlich mit all den anderen Menschen hinaus, die aus den Wohnblocks strömen, um das neue Jahr zu begrüßen. Es wird viel gesungen und Feuerwerkskörper ziehen ihre leuchtenden Bahnen unter dem Halbmond.

Jenseits von hier gibt es einen gefährlichen Fluss. Ich bin einem Mann aus dem Nachbardorf dankbar, der mir sagt, dass der Fluss Nemunas im Winter keinen Fährbetrieb hat, das Eis aber noch nicht fest genug ist, um darüber laufen zu können. Er erspart mir eine Menge Rückwärtsschritte. Stattdessen nehme ich den Weg über einen kleinen Ort namens Geariliavi. Es ist kalt, aber ich lenke mich ab, indem ich Lenas Pasteten esse, die sie mir im Überfluss eingepackt hat, um mich bei Kräften zu halten.

Ich versinke bis zur Taille im Schnee. Hier wird er nicht geräumt. Der Wind heult und bis zum Abend ist das Biwakzelt, im Rucksack zusammengerollt, so hart gefroren, dass alles aneinanderklebt. Ich habe Angst, dass ich die Öffnung nicht weit genug aufstemmen kann, um hineinzuklettern und Schutz zu finden. Es ist mühsam und langwierig, es aufzubrechen, aber es gelingt mir, hineinzukriechen. Es wird zu einem seltsam geformten gefrorenen Iglu, kleiner als je zuvor, da es zusammengeschrumpft und vereist ist. Ich muss alles mit ins Bett nehmen, vor allem die Schuhe. Es genügt jedoch nicht, sie ins Biwakzelt zu bringen. Sie gefrieren so hart, dass ich die Schnürsenkel nicht öffnen kann, um meine Füße hineinzustecken.

Ich versuche, Kaunas zu umgehen, da die Hauptstraße durch die Stadt voller Lastwagen ist, die mich mit Schnee und Matsch bespritzen, aber ich verlaufe mich, finde mich schließlich nach Mitternacht im Stadtzentrum wieder und laufe weiter in die Seitenstraßen. Alles ist dunkel und scheint zu schlafen. Ein Hotel, an dem ich vorbeikomme, sieht teuer aus, die Tür für die Nacht verschlossen. Ich laufe nicht, ich gehe – um genau zu sein, schleiche ich sehr müde und mit gesenktem Kopf vor mich hin, als ich auf einmal um ein Haar mit einem Rollstuhl zusammenstoße, der umgekippt ist.

Ein Mann sitzt noch immer darin. Er weint, aber niemand hat ihn gehört. Er scheint verängstigt, als er mich sieht. Er kann den Rollstuhl nicht wieder aufrichten, da er keine Beine hat. Er liegt einfach nur da, in Lumpen gehüllt, klammert sich an den Rollstuhl und versucht, darin zu bleiben, während er auf der Seite im Schnee liegt. Er versucht, ein paar Münzen einzusammeln, die aus einer kleinen Pappschachtel für Spenden gekullert sind. Ich habe keine Angst vor ihm; er ist es, der Angst hat. Er zuckt vor mir zurück. Er nimmt mir meine helle Taschenlampe aus der Hand und richtet sie auf mich. Ich kann nur seine Augen sehen und einen kleinen Teil seines Gesichts, da er einen langen Schal trägt, aber sein Blick ist sanft. Ich weiß ganz sicher, dass er keine bösen Absichten hat; vielmehr hat er Angst, ich könnte ihn angreifen oder ausrauben. Dann lächelt er auf einmal, obwohl sein schmales Gesicht und sein zotteliger Bart noch immer vor Kälte, oder vor Angst und Emotion, zittern. Er sieht mich noch immer an, als ob ich nicht echt wäre. Es kostet ungeheure Anstrengung, den Rollstuhl aufzurichten, während er noch immer darin sitzt. Wenn er ihn verlassen würde, würde keiner von uns es schaffen. Er fängt an zu reden und ich hole mein Wörterbuch heraus. Er will auf gar keinen Fall ins Krankenhaus, versucht er mir zu sagen, aber er hat einen Ort, an den er gehen kann, so scheint es zumindest mithilfe des Sprachführers und anhand der Zeichen, die er macht.

Ich schiebe ihn diese grauenhaften, leeren, dunklen Straßen hinunter wie durch die Labyrinthe der Hölle. Es ist sehr anstrengend, kleine, rostige Räder durch den Schnee zu schieben. Ich weiß nicht, wie er das normalerweise macht. Schließlich zeigt er in diese und jene Richtung und wir erreichen einen Teil der Stadt, wo Menschen in einem kleinen Café noch immer draußen sitzen und trinken und essen.

Die Managerin des Cafés, die wie eine Figur aus einem Film aussieht, breit und glamourös, mit großen Schals und Halsketten, drückt mir die Hand und bedankt sich bei mir dafür, dass ich ihn zurückgebracht habe, da er bereits vermisst wurde. Wenig später erfahre ich, dass der Mann, den ich hergebracht habe, ein Kriegsheld ist, der als Wladimir bekannt und schwer heruntergekommen ist. Wladimir wird von Freunden zu einem Waschraum gebracht, um ihn nach dem Sturz sauber zu machen. Ein Schwarm Mädchen, hübsch und warmherzig, die meisten in silbernen Miniröcken und praktischen dicken Leggings, wie Tänzerinnen sie tragen, umringt ihn, küsst ihn, sagt Dinge wie: »Mach schnell. Dein Drink wartet auf dich.« Sie lachen und sagen mir, dass sie ihn lieben. Er ist ihr Großvater. Ich bekomme ein heißes Getränk und eine Suppe mit Würstchen. Ein paar der Leute hängen die ganze Nacht in dem Café herum, da sie auch kein Zuhause haben. Die Managerin zeigt mir ein Sofa in einem Nebenzimmer, wo ich schlafen kann. Ich will schlafen und von all den Gesichtern träumen, all den hohläugigen Büroangestellten, die nie nach Hause kommen, Tramps, umherziehenden Gelegenheitsarbeitern, Fabrikschichtarbeitern und Frauen, die mich bitten, sie zu fotografieren, damit ich ihnen einen Ehemann aus England schicken kann.

Menschen, die nichts haben, wollen mir auf jede nur erdenkliche Weise helfen. Ich brauche keine Hilfe, aber sie schon. Und so geht es weiter, während ich in Litauen bin. Ich lerne etwas über die heldenhafte, tragische litauische Geschichte und ich begreife zum ersten Mal, dass mein Lauf um die Welt mehr Überraschungen und unvergessliche, eindringliche Lektionen bereithalten wird, als ich je gedacht hätte; und dass das Denkwürdigste von alledem nicht die Gefahren, die Kälte, die Begegnungen mit dem Tod, die vor mir liegen, sein werden, sondern die Tatsache, dass es ein lebendiger Kreis ist, der Zeugnis ablegt von Gemeinschaft und Menschlichkeit, und dass es tatsächlich eine vereinte Welt gibt. Die Welt besonderer sogenannter gewöhnlicher Leute.

Mein längster Lauf

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