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KAPITEL 3 Der Tenby-Bär
ОглавлениеWales, 2. Oktober 2003
Erst nachdem ich zwei Meilen gelaufen bin, fällt mir wieder ein, dass heute mein Geburtstag ist. Ich habe den Kuchen nie gegessen, den ich gestern Abend hinten im Kühlschrank versteckt gefunden habe, oder auf den Champagner gewartet.
Es ist so seltsam, den Hügel hoch nach New Hedges und Pentlepoir zu laufen, das erhabene und wunderschöne Meer zu sehen und die Klippen und den Küstenpfad, auf dem meine Freunde und ich so oft gelaufen sind, bei stürmischem Wetter an verregneten Tagen oder an magischen voller Sonnenschein, so wie heute Morgen. Wehmütig betrachte ich alles um mich herum, da ich weiß, dass es vielleicht für viele Jahre das letzte Mal sein wird. Alles sieht plötzlich viel intensiver aus, wenn man es zum Abschied betrachtet.
Ich denke zurück an mein Haus, wo mein Sohn James und mein Bruder Nicolas sich zum Aufbruch bereit machen, da sie selbst bald nach Hause zurückkehren müssen. Ich will noch einmal Abschied nehmen. Und doch ist das hier zum Teil genau der Zweck dieses Laufs; vorwärts zu gehen und nicht auf einem einfachen Weg zurück, wenn man sich einsam fühlt.
Ein schüchternes kleines Mädchen stürzt mit ihrer Mutter aus dem Haus, um mir ein Bild, das sie für mich gemalt hat, und ein paar Süßigkeiten zu geben. Eine lebhafte Dame mit funkelnden Augen und einem Sonnenbrand auf den Wangen macht mir frische Sandwiches und ruft: »Oh, ich bin ja so stolz auf Sie! Laufen Sie weiter, immer weiter!«
Die Gefühle von Tag eins sind ummantelt von dem ungeheuren Ausmaß dessen, was vor mir liegt. Eingefangen in Gedanken an brennende Füße, Schmerzen und Momente der Freude und des Glücks und liebenswerte Menschen. Wie Darwin einst in einem seiner Tagebücher schrieb: »Ein Reisender zu sein heißt, überall das Gute zu sehen.«
Am ersten Tag schaffe ich 25 Meilen, bis knapp hinter Carmarthen, aber ich muss mich oft an den Straßenrand setzen, um meine Füße zu reiben, die von dem Druck, mit sehr schwerem Gepäck auf Asphalt zu laufen, brennen. Ich brauche einen Feuerlöscher.
Mir schwirrt der Kopf vor Emotionen über das, was ich zurückgelassen habe, und vor Aufregung über das, was vor mir liegt. Es ist das erste Mal, dass ich zu erschöpft bin, um in die Stadt zu gehen und Menschen aufzusuchen, die so freundlich waren, mir einen Schlafplatz anzubieten. Daher schlage ich das Biwakzelt zwischen hohem Gras und Gebüsch inmitten eines Stücks Brachland auf und schlafe sofort ein. Mitten in der Nacht wache ich auf; mein Kopf ragt aus dem Biwakzelt und ich sehe zu den Sternen hoch und frage mich, wo in aller Welt ich bin. Dann wird es mir bewusst – ich bin unterwegs. Ich bin überwältigt von Freude und Traurigkeit zugleich …
Ich bete, dass ich erreichen kann, was ich tun muss. Ich fühle mich nicht besonders stark, aber sehr entschlossen, mit einer Mischung aus physischer und mentaler Entschlossenheit, wie zu Beginn meiner Atlantiküberquerung, die jetzt meine »Seereise auf zwei Beinen« geworden ist. Die Flut läuft mit mir und es gibt kein Zurück. Der erste Schritt, ich habe den ersten Schritt getan und das ist der längste Schritt von allen.
Ich kann nicht mehr zurück; ich muss Verletzungen vermeiden. All das sorgt dafür, dass sich die ersten paar Meilen nervenaufreibend anfühlen, überwältigend. Ich denke an die ungeheure Weite dessen, was vor mir liegt, und sage mir: Du musst nur eine Stunde laufen … und danach noch eine Stunde … Sieh es nicht als eine einzige riesige Aufgabe, die auf einmal erledigt werden muss … Ich sehe sie in Schritten … ich kann einen Schritt tun … und dann den nächsten … und den nächsten …
Wie immer auf Abenteuern – ob auf See oder an Land – ist auch diese Reise eine Mischung von Träumen: etwas, das mir einen Schauder über den Rücken jagt, etwas, das ich tun muss, und praktische Realität. Es ist nichts Versponnenes, sondern es sind Fakten, die Träume wahr werden lassen. In den letzten paar Monaten habe ich bereits dafür trainiert, nachts unter freiem Himmel zu schlafen; der Unterschied jetzt ist, dass ich tatsächlich unterwegs bin. Ich muss selbst auf mich aufpassen und ich werde es sehr, sehr lange tun müssen.
Schwere Bleigewichte scheinen irgendwie in meinen Rucksack gelangt zu sein. Vergessen sind die ganzen Trainingsläufe, die ich mit Fünf- oder Zehn-Kilo-Säcken mit Kartoffeln unternommen habe, um zu lernen, mit Gewicht zu laufen. Vergessen sind mit Ausrüstung beladene Übungseinheiten; man nimmt nie wirklich die ganze Ausrüstung mit, wenn man weiß, dass zu Hause ein schönes warmes Bett auf einen wartet. Ich trage Zeug für den Winter bei mir, das ich nicht vorausschicken wollte, da ich Angst habe, es zu verlieren – und außerdem habe ich einen Bären.
Es ist der Tenby-Bär, der mitkommt, um mich zu beschützen. Er trägt sogar ein kleines grünes Strickjäckchen, auf dem »Tenby-Bär« steht. Die Kinder einer unserer hiesigen Schulen wollen, dass er auf mich aufpasst, und er ist mein Talisman. Am nächsten Tag, während ich nach Cross Hands laufe, fühle ich mich besser; ich habe es geschafft, ein paar Sachen meiner Ausrüstung, die ich nicht unbedingt brauche, zurückzuschicken. Aber der Tenby-Bär bleibt. Er ist nicht schwer, er ist mein Bruder.
Ich habe sieben Tage in Wales: wunderschöne Hügel, wildes Meer in der Carmarthen Bay, herrliche Herbstfarben in den Wäldern von Wentworth. Ich laufe durch Cross Hands und werde von ein paar freundlich aussehenden Damen eingeladen, einem Mord beizuwohnen. Ich frage mich, was für eine niederträchtige Gemeinheit hier geplant wird, aber es ist nur eine Theateraufführung im Gemeindesaal mit dem Titel Der Mord.
Mit einem schweren Rucksack zu laufen, ist besser als ein Wiegenlied. Ich verbringe einen wundervollen Tag mit Freunden in Newport und treffe mich mit Mike Rowland, einem Marathoncoach und einem der besten Künstler in Wales. Ich bin so müde, dass ich mich in einem anderen Klassenzimmer schlafen lege, während er unterrichtet. Ich wache nicht einmal auf, als sie den Feueralarm proben. Er findet mich tief schlafend, zusammengerollt, im Begriff, versehentlich über Nacht eingeschlossen zu werden.
Am 8. Oktober laufe ich über die Severn Bridge, nachdem ich ein paar walisische Eichenblätter eingesammelt habe, um sie für immer bei mir zu behalten.
Das war’s. Ich habe Wales hinter mir. Und jetzt auf zum Rest der Welt.