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Prolog

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Sibirien, Januar 2005

In den tiefen Wäldern Sibiriens gibt es hundert verschiedene Arten von Stille. Die Atmosphäre wird ein Teil von dir. Gerade nachts lässt sich die Kraft der Stille daran messen, dass jedes noch so kleine Geräusch dein Herz sofort einen Schlag aussetzen lassen kann. Irgendetwas ist dort draußen.

Die Nachtvögel – vielleicht sind es Häher – beginnen auf einmal alarmiert zu kreischen. Vorbei ist ihre lautlose Nachtwache. Es sind scharfe Warnrufe. Dann höre ich das Heulen.

Wenige Augenblicke später steckt ein Wolf seinen Kopf durch die Öffnung meines Zeltes. Im ersten Moment empfinde ich weder Angst noch Gefahr, sondern absolute Bewunderung für die Schönheit des wilden Tieres.

Es ist ein großer, kräftiger Mackenzie-Wolf. Sein gelbbrauner Kopf und seine langen Vorderbeine mit den riesigen pelzigen Pfoten sind mit Tropfen von halb gefrorenem Schnee bedeckt, die auf seinem dichten Fell wie Diamanten funkeln. Er sieht sich gründlich um, denn schließlich ist das hier seine Welt.

Mein Herz hämmert in meiner Brust. Und doch sagt mir mein Instinkt, dass er mich nicht angreifen wird. Ich habe gelernt, meinem Instinkt zu vertrauen. Er ist alles, was ich habe. Ich verharre völlig bewegungslos, doch der Wolf spürt, dass ich aufgewühlt bin. Einem Tier kann man nichts vormachen. Dann zieht er sich zurück und ist wieder verschwunden.

Ich muss hinaus in die eisige Nacht und die zerrissene Zelttür mit Klebeband ausbessern. Der Mond ist aufgegangen und wirft sein Licht auf den Wald und das Rudel Wölfe, das zwischen den Bäumen verharrt.

Am nächsten Morgen sind sie verschwunden. Ich bin auf einer einsamen Straße unterwegs, die sich meilenweit durch den Wald erstreckt. In den letzten paar Tagen habe ich nicht mehr als ein oder zwei Fahrzeuge gesehen, die unterwegs zu den Bergwerken im fernen Osten Russlands waren. Hier gibt es auf Hunderten von Meilen keine Häuser und ich frage mich, ob diese Wölfe je zuvor einen Menschen gesehen haben.

Im Laufe der nächsten Tage taucht das Rudel immer wieder auf, wenn ich mein Nachtlager errichte, um bei Tagesanbruch erneut zu verschwinden. Durch die Anwesenheit der wilden Tiere fühle ich mich unbehaglich – und doch tröstet mich ihre Nähe zugleich auf eine Art, die ich nicht ganz verstehe. Es ist, als ob sie mit mir zusammen laufen. Nach ungefähr einer Woche verschwinden sie ganz. Ich glaube, sie tun es, weil ich ihr Revier verlassen habe; ich habe eine unsichtbare Grenze überschritten.

Diese wunderschönen Tiere mit ihren uralten Instinkten und seltsamen Gewohnheiten gaben mir Kraft, die schmerzlichen Erinnerungen wieder hervorzuholen, warum ich meinen Lauf überhaupt angetreten bin.

Am 12. Juni 2002 starb mein Ehemann Clive in meinen Armen. Wenn wir uns früher überlegt hätten, zum Arzt zu gehen, dann wäre er jetzt vielleicht noch bei mir, denn Clive hatte Prostatakrebs. Nach seinem Tod wusste ich, dass ich etwas tun musste. Die Menschen überzeugen, sie ermahnen und bitten, zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen. Ich musste eine Möglichkeit finden, andere aufzurütteln, egal, wie sehr sie es hassten, zum Arzt zu gehen oder über intime Dinge zu sprechen. Der Krebs kennt keine gesellschaftlichen Tabus.

Ich bin nur eine gewöhnliche Frau, aber wenn ich einfach zu Hause geblieben wäre und in meinem Garten Unkraut gejätet hätte, dann hätte sich nichts verändert – das ist der Grund, weshalb ich um die Welt laufe und in kalten Wäldern zusammen mit Wölfen schlafe.

Wenn meine Botschaft auch nur ein einziges Leben rettet – dann war es das alles wert.

Mein längster Lauf

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