Читать книгу Küsse am Meer - Rosita Hoppe - Страница 6

Оглавление

2. Kapitel

Drei Tage später stand Pauline an der Reling der Fähre, die sie von Dagebüll nach Amrum brachte. Gut fünfeinhalb Stunden Bahnfahrt und fast eineinhalb Stunden auf dem Schiff lagen hinter ihr. Das Schiff hatte bereits die Nachbarinsel Föhr passiert, die rechts der Fahrrinne lag. Wenn Pauline nach links blickte, konnte sie am Horizont die kleinen Erhebungen der Halligen erkennen. Vor ihr kam die Silhouette ihres Ziels langsam näher. Die Fähre steuerte schon die Hafeneinfahrt von Wittdün an. Obwohl ein heftiger Wind wehte und die Sonne nur ab und an zwischen dicken weißgrauen Wolken hervorlugte, hatte Pauline die ganze Zeit an Deck verbracht. Tief sog sie die salzige Meeresluft ein. Herrlich, wie gut das tat. Es machte ihr nichts aus, wenn ihr der Nordseewind um die Nase wehte und die Frisur zerzauste. Unwillkürlich griff sie sich an den Kopf und stutzte. Sie hatte Jules Rat befolgt und sich eine neue Frisur gegönnt. Nicht einen Moment hatte sie den langen Strähnen nachgeweint, die sich mit jedem „Schnipp“ mehr und mehr auf den Boden rund um den Friseurstuhl häuften. Mit jedem Schnitt, mit jeder fallenden Strähne fiel ein Stück Vergangenheit – ein Stück Ralf – von ihr ab. Das hatte sie jedenfalls in diesem Augenblick geglaubt. Leider hielt dieses Gefühl nicht lange an. Zwar hatte die Friseurin ihr einen flotten Kurzhaarschnitt verpasst, mit dem sich Pauline jünger und rundum erneuert fühlte, aber der Kummer über Ralfs Verrat nagte schon bald nach Verlassen des Friseurgeschäfts erneut an ihrem Herzen.

Ein Ruck und ein Poltern verrieten Pauline, dass die Fähre gerade anlegte. Ob Jule am Hafen stand und auf sie wartete? Suchend ließ Pauline ihren Blick über die Menschen schweifen, die entweder auf Ankömmlinge warteten oder darauf, an Bord gehen zu dürfen. In mehreren Reihen standen etliche Autos auf der Hafenanlage. Ob die alle einen Platz auf diesem Fährschiff finden würden? Aber erst einmal mussten die ankommenden Passagiere und Pkws von Bord. Pauline bedauerte, dass auf Amrum Autoverkehr erlaubt war. Sie war schon einmal während der Sommersaison auf Urlaub hier gewesen und hatte die vielen Pkws als störend und luftverschmutzend empfunden. Ach ja, als Jules Mann gestorben war, war sie zu Jan-Eriks Beerdigung ebenfalls hier gewesen.

Jule stand abseits vom Menschenpulk. Pauline erkannte sie sofort an ihrem leuchtend orangeroten Haarschopf, naturrot wohlgemerkt. Pauline winkte ihr mit beiden Armen zu. Zögernd hob Jule ihren Arm, so, als hätte sie Pauline nicht richtig gesehen oder erkannt. Hatte sie vielleicht auch nicht. Pauline schmunzelte. Die würde Augen machen, wenn sie sich gleich gegenüberstanden. Pauline freute sich auf das Wiedersehen mit ihrer besten Freundin und schon jetzt stand für sie fest, dass ihre Entscheidung, Jule in der Pension zu helfen, die vermutlich beste war, die sie in den vergangenen Monaten getroffen hatte.

Wenig später schob sich Pauline, ihren dicken übergroßen Koffer hinter sich herziehend und mit einer prall gefüllten Tasche über der Schulter, mit all den anderen Passagieren von Bord. Die kleinen Rollen ihres Trolleys klackerten mit denen anderer Gepäckstücke um die Wette. Zielstrebig steuerte sie auf Jule zu. Sie sah, wie sich Jules Gesicht erhellte und die Freundin mit ausgebreiteten Armen auf sie zustürmte.

„Da bist du ja endlich!“ Sie lagen sich in den Armen. Freudentränen flossen bei ihnen beiden, schließlich hatten sie sich zwei Jahre nicht mehr gesehen. Jule grinste und strubbelte durch Paulines Haare. „Sind die schon länger so kurz? Ich hätte dich fast nicht erkannt. Ähm … jedenfalls von Weitem nicht.“

Pauline hakte sich bei Jule ein. „Ich hab mir deinen Ratschlag zu Herzen genommen und mir trotz meiner mageren Finanzen einen Friseurtermin gegönnt. Ich bin echt froh darüber.“

„Komm, wir sollten los. Ich habe vorn an der Straße geparkt, damit wir schneller verschwinden können, bevor sich die anderen Ankömmlinge auf den Weg machen.“

Kurz darauf hievten sie Paulines Koffer und Tasche in Jules betagtes Gefährt und nahmen im Wagen Platz. Während der Fahrt gen Norddorf informierte Jule Pauline darüber, welche Aufgaben sie in der Pension übernehmen sollte. Paulines Arbeit bestand hauptsächlich in der Reinigung der Zimmer. „Oder hast du damit ein Problem?“, fragte Jule. „Wir könnten auch tauschen. Ich sorge für Sauberkeit und Ordnung und du machst den Bürokram.“

„Nee, schon in Ordnung. In deine Büroarbeit will ich lieber nicht reinpfuschen.“ Pauline genoss die Fahrt über die Insel und die Tatsache, neben Jule zu sitzen. Süddorf hatten sie bereits passiert und näherten sich ihrem Lieblingsdorf Nebel. Wann sie wohl Zeit für einen Besuch dieses zauberhaften Friesendorfes finden würde? So bald wohl nicht. Schließlich war sie hier, um zu arbeiten. Zum einen in Jules Pension, zum anderen an einem neuen Manuskript. Den Gedanken daran schob Pauline weit von sich und hörte viel lieber Jule zu, die allerlei Tratsch von der Insel zum Besten gab. Eine Viertelstunde später bog Jule von der Landstraße in den Dünemwai ein. Nach wenigen Grundstücken erreichten sie die Pension Jule. Das reetgedeckte Häuschen aus rotem Backstein lag ruhig am Ende der Straße auf der linken Seite. Eine Findlingsmauer begrenzte das Grundstück zur Straße hin. Im Vorgarten blühten üppig die verschiedensten Stauden. Neben dem Haus befand sich ein Parkplatz, auf dem Jule ihren Wagen abstellte. Sie drehte sich zu Pauline um und lachte sie an. „Willkommen im Haus Jule. Danke, dass du mir aus der Patsche hilfst.“

Pauline zuckte nur mit den Schultern. „Ich hab sowieso gerade nicht viel vor.“ Mit Schwung öffnete sie die Beifahrertür, stieg aus dem Wagen und streckte sich. „Endlich angekommen.“ Sie sah sich um. „O Jule, ich hatte gar nicht mehr in Erinnerung, wie schön du es hier hast.“

Jule hatte inzwischen Paulines Gepäck aus dem Kofferraum gezerrt. „Komm, ich zeig dir dein Zimmer. Sicher möchtest du dich frisch machen. Ich brüh uns derweil einen Kaffee auf. Mit dem setzen wir uns später in den Wintergarten.“

„Du hast einen Wintergarten? Davon hast du mir gar nichts erzählt.“ Pauline staunte nicht schlecht. Jule schien auch ohne ihren Jan-Erik alles im Griff zu haben.

„Davon erzähl ich dir später.“ Jule hakte sich bei Pauline ein und zog mit der anderen Hand den Trolley hinter sich her. Gemeinsam betraten sie Jules Heim.

Pauline bezog ein kleines Zimmer im obersten Geschoss, das Jule als Privatbereich nutzte. „Ich hätte dir gern eines meiner Gästezimmer gegeben. Die sind größer“, sagte Jule entschuldigend. „Aber die sind in nächster Zeit belegt.“

„Ich bin ja auch nicht zum Urlaub hier. Außerdem ist es hier sehr gemütlich.“ Sie trat an das kleine Erkerfenster, öffnete es weit und beugte sich hinaus. „Der Ausblick auf Norddorf ist auch nicht zu verachten.“ Sie drehte sich wieder um, eilte zu Jule und umarmte sie. „Ach Jule, ich kann gar nicht sagen, wie schön ich es finde, bei dir zu sein.“

„Dann lass es.“ Jule löste sich lachend aus Paulines Umarmung. „Beeil dich lieber. Ich setz inzwischen den Kaffee auf. Dann machen wir es uns ein Stündchen gemütlich.“

Zwanzig Minuten später hatte Pauline geduscht und sich umgezogen. Ausgepackt hatte sie ebenfalls schon. Sie machte sich auf die Suche nach Jule. Da die Freundin in der oberen Etage nicht zu finden war, eilte Pauline die Treppe hinunter und zielstrebig auf den Aufenthaltsraum zu, der morgens als Frühstücksraum genutzt wurde. Den Wintergarten vermutete sie dahinter. Sie hatte recht, wie sie feststellte. Die Tür, durch die man früher auf die Terrasse gelangte, führte nun in den Wintergarten. Neugierig trat Pauline näher.

„Da bist du ja“, rief Jule, die Tassen auf einen kleinen runden Glastisch stellte. Eine Thermoskanne stand auch schon bereit.

Beeindruckt sah sich Pauline um. Jeweils vier Korbsessel, bestückt mit gemusterten Kissen, umrahmten kleine Glastische. Etliche Grünpflanzen standen an der Hauswand und vor der Glasfront, durch die man in den Garten blicken konnte. Überall hatte Jule hübsche Dekoartikel verteilt. Auf den Tischen standen frische Blumensträuße. Um die Vasen herum hatte sie hauchdünnen orangefarbenen Organzastoff drapiert.

„Schön sieht es hier aus. Richtig gemütlich.“ Pauline setzte sich in einen der Sessel. „Erzähl mal, seit wann es dieses Plätzchen gibt.“

„Gleich. Erst muss ich noch den Rest holen.“ Jule eilte hinaus und kam wenig später mit einem Tablett zurück. Sie grinste. „Ich kenn dich Leckermäulchen doch. Du lechzt bestimmt schon seit Stunden nach deiner Lieblingsspeise.“ Mit den Worten stellte Jule das Tablett ab und Pauline entdeckte zwei großzügig gefüllte Schälchen mit Eis und einer dicken Haube Sahne, dekoriert mit Schokoraspeln.

Pauline lachte laut auf. „Du kennst mich.“ Sie griff nach der Schale, die ihr Jule reichte, und löffelte sogleich.

„Mmh, Himbeere und Schoko. Himmlisch.“ Sie seufzte genießerisch.

Mit einem Schmunzeln setzte sich auch Jule. Sie zwinkerte Pauline zu und nahm sich das andere Schälchen.

„Alles Berechnung. Man muss seine Angestellten hegen und pflegen, sage ich immer.“

„Scherzkeks“, murmelte Pauline mit vollem Mund.

„Wahrheit.“

Es tat so gut, bei Jule zu sein. Erst jetzt wurde Pauline bewusst, wie sehr sie die kleinen Neckereien zwischen ihnen vermisst hatte. Eine Weile schwiegen die beiden und genossen das Eis und das Beisammensein.

„Jan-Erik wollte unbedingt einen Wintergarten bauen“, nahm Jule das Gespräch auf. „Davon träumte er, seit wir die Pension eröffnet hatten. Er hatte die Zeichnung angefertigt und Angebote verschiedener Firmen eingeholt.“ Jule seufzte tief. „Leider kam er nicht mehr dazu, seine Pläne zu verwirklichen.“

Pauline spürte, wie schwer es Jule fiel, über dieses Thema zu sprechen, und bedauerte, davon angefangen zu haben. Wieso hatte Jule nie am Telefon von diesen Plänen gesprochen?

„Ich wollte – ich musste Jan-Eriks Traum verwirklichen.“ Eindringlich sah Jule zu Pauline. „Verstehst du das?“ Pauline beugte sich zu Jule hinüber und tätschelte deren Arm. „Natürlich verstehe ich das.“

Jule wandte ihren Blick von Pauline ab und sah hinaus in den Garten. Nein, sie blickte eher in die Ferne, fand Pauline. Irgendwohin, ganz weit weg. Vielleicht dorthin, wo sie Jan-Erik vermutete.

„Die Finanzierung ist mir nicht leichtgefallen. Damals, bei der Beerdigung habe ich ihm aber geschworen, dass ich ihm seinen Traum erfüllen werde. Da konnte ich doch nicht einfach aufgeben, oder? Nur, weil nicht so viel Geld in die Kasse kam, wie ich mir erhofft hatte …“

„Warum hast du mir nie etwas davon erzählt?“

Jule zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Vielleicht wollte ich dich damit nicht belasten. Hab mir über die Gründe nie Gedanken gemacht.“

Pauline konnte Jules Haltung nicht fassen. „Wozu sind wir gute Freundinnen, wenn wir uns unsere Probleme und Sorgen nicht anvertrauen?“

Jule war über Paulines Tonfall sichtlich erschrocken.

„Bitte schimpf nicht mit mir. Das hatte keinen besonderen Grund. Ich stand ziemlich neben mir, als ich so plötzlich alles allein managen musste. Der Sörens, der Mann meiner erkrankten Mitarbeiterin, übernahm die Verhandlungen mit den Firmen. Er ist handwerklich sehr begabt, im Gegensatz zu mir. Ich war sehr froh darüber, dass er mir in der Zeit zur Seite stand, und bin es noch heute. Alle paar Tage ruft er an oder kommt vorbei und fragt nach, ob es etwas auszubessern gibt. Du wirst ihn sicher noch kennenlernen. Er taucht bestimmt in den nächsten Tagen hier auf. Er ist Rentner und ich schätze, ihm ist ziemlich langweilig. Jetzt, wo seine Frau im Krankenhaus liegt, glaubt er sicherlich, dass hier noch mehr zu tun ist. Dabei hatte ich ihm erzählt, dass meine beste Freundin einspringt, solange seine Frau krankgeschrieben ist.“

Obwohl Pauline versuchte, sich in Jule hineinzuversetzen, und darüber nachdachte, wie sie sich in einer solchen Situation verhalten hätte, verletzte sie Jules Vorgehensweise. Dabei wusste sie, wie schlimm es für Jule gewesen war, als Jan-Erik so plötzlich tot war. Reagierte sie selbst so empfindlich, weil in ihrem Leben momentan alles drunter und drüber ging? Irgendwie befand sie sich gerade in einer ähnlichen Ausnahmesituation wie Jule damals. Ihr Leben war ebenfalls gerade Knall auf Fall zusammengebrochen. Allerdings weilte Ralf noch unter den Lebenden – irgendwie. Für sie war er jedenfalls gestorben. Für immer und ewig. Wenn sich dieser Mistkerl bloß nicht immer in ihre Gedanken schleichen würde. Warum tat er das? Es schien ihm eine geradezu diebische Freude zu bereiten. Pauline verfluchte ihn und wünschte ihn dahin, wo der Pfeffer wächst, und sie wünschte ihm, dass er irgendwann in seinem Leben die gleichen Qualen durchlitt, die er ihr zugefügt hatte.

„Pauline?“

„Ähm … was?“ Pauline schrak aus ihren Gedanken auf.

„Alles in Ordnung? Ich hatte den Eindruck, dass du mit deinen Gedanken weit weg warst.“

„War ich auch. In meinem Kopf herrscht gerade ein ziemliches Durcheinander.“ Sie rümpfte die Nase. „Du kennst den Grund. Mir fiel auf, dass in unser beider Leben von einer auf die andere Sekunde alles zusammengebrochen ist – wenn es bei dir auch bedeutend schlimmer war.“ Pauline nahm einen Schluck von dem Kaffee, den Jule ihr, ohne dass sie es bemerkt hatte, eingeschenkt haben musste.

„Ich brauche vermutlich noch einige Zeit, bis ich das Thema Ralf innerlich abgearbeitet habe. Mal ehrlich, wie konnte ich auch noch so dämlich sein und meinen Job hinschmeißen?“

„Ja, das war wirklich selten dämlich.“ Jule nahm die Thermoskanne und schenkte ihnen beiden Kaffee nach.

„Warst du noch mal bei deinem Chef?“

Pauline schüttelte den Kopf. „Nee, das wäre mir zu peinlich gewesen. Es war schon schlimm genug, dass ich dem Typ vom Arbeitsamt erklären musste, wieso ich das gemacht habe. Ich hab auch noch angefangen zu heulen.“

„Ach du Schande. Wie geht’s weiter?“

„Erst einmal bearbeiten sie die Akte. Dann bekomme ich Bescheid, ab wann ich Arbeitslosengeld zu erwarten habe. Vermutlich bekomme ich zwei Monate nichts, hat er gesagt. So was Blödes aber auch.“ Pauline atmete tief durch. „Ich habe übrigens angegeben, dass ich eine Zeit lang hier wohne und sie die Post hierher schicken sollen. Jobangebote bekomme ich natürlich auch. Allerdings muss ich auch selbst auf Arbeitssuche gehen. Aber das ist kein Problem. Meinen Laptop habe ich sowieso dabei.“

„Hoffentlich finden die nicht so schnell eine neue Stelle für dich“, sagte Jule und schlug sich gleich darauf mit der Hand vor die Stirn. „Ich meine, damit ich dich nicht so schnell wieder ziehen lassen muss.“

Pauline grinste. „Ich hab’s schon richtig verstanden. Du willst, dass ich die Saison über hier schufte und du dir nicht noch eine andere Aushilfskraft suchen musst.“

„Genau!“ Jule grinste ebenfalls. „Du hast mich durchschaut. Aber mal ehrlich. Das wäre doch wirklich blöd, wenn du gleich wieder wegmüsstest.“

„Ja, stimmt. Ich habe mich schon darauf eingestellt, für längere Zeit hierzubleiben. Zu Hause würde mir sowieso die Decke auf den Kopf fallen. Hier lerne ich neue Leute kennen, und verdiene ein bisschen Geld. Vielleicht kommt mir hier auch eine Idee für meinen neuen Roman. Meine Lektorin drängelt schon.“

„Das wird schon. Magst du noch Kaffee?“

Pauline schüttelte den Kopf. „Viel lieber würde ich mit dir einen Spaziergang durch den Ort oder zum Strand machen.“

„Das ist eine gute Idee. Sieh dich um, erneuere deine Eindrücke von der Insel. Aber ich muss passen. Hab noch dringende Büroarbeiten zu erledigen.“

„Schade. Kannst du das nicht verschieben?“

Jule zuckte mit den Schultern, stand auf und räumte das Geschirr auf das Tablett. „Leider nicht. Weil ich Frau Sörens Arbeit mit übernehmen musste, habe ich den Bürokram bis zu deiner Ankunft aufgeschoben. Ich muss ran, bevor sich noch mehr anhäuft. Wir holen den Spaziergang nach, versprochen.“

„Ich nehme dich beim Wort.“ Pauline streckte ihre Glieder und erhob sich ebenfalls. „Sehen wir uns später noch?“

„Na klar, wir essen natürlich zusammen.“ Gemeinsam verließen die Freundinnen den Wintergarten. Jule verschwand mit dem Tablett in der Küche.

Pauline holte ihre Windjacke und die Sonnenbrille aus ihrem Zimmer. Kurz darauf verließ sie das Haus. Vor dem Grundstück blieb sie stehen, unschlüssig, welchen Weg sie einschlagen sollte. Zum Strand! Der Ort konnte warten, entschied sie. Gleich am Ende des Dünemwai begann einer der Wege, die durch die Dünen hinunter zum weiten Strand führten. Pauline fühlte sich, als würde der Strand sie wie ein Magnet anziehen. Sie schob ihre Sonnenbrille auf die Nase, fuhr sich durch die Haare und hielt überrascht inne. Mit einem Mal war die Erinnerung an die vergangenen Tage wieder real und damit auch der Schmerz. Sie hätte wissen müssen, dass sie mit einem Haarschnitt und einem Ortswechsel nicht automatisch alles vergessen würde. Pauline kniff ihre Augen zusammen, atmete tief durch und versuchte mit all ihrer Kraft, die Gedanken an Ralf beiseitezuschieben. Das war jedoch nicht so einfach. Immer wieder schlich sich Ralf in ihre Gedanken. Wann würde das endlich aufhören?

Sie konzentrierte sich auf die Umgebung, auf die Dünen aus feinstem Sand, übersät mit Büscheln von Strandhafer. Dieses Naturwunder hatte sie schon bei ihrem ersten Amrumbesuch bestaunt. Auf einmal war sie voller Vorfreude auf den unendlichen Strand und beeilte sich, ihr Ziel zu erreichen. Die Spaziergänger und Radfahrer, die sie auf dem Weg traf, nahm sie kaum wahr. Sie passierte das Naturzentrum, zwei Restaurants und erreichte einen Holzsteg, an dessen Ende eine Treppe zum Strand hinunterführte. Diesen Strandzugang kannte Pauline nicht, er war vermutlich erst nach ihrem vergangenen Aufenthalt gebaut worden. Damals führte ein einfacher Pfad auf den Strand. Auch an die Strandbar, an der sie eben vorbeigegangen war, konnte sie sich nicht erinnern.

Am Ende des Stegs blieb Pauline stehen und schob die Sonnenbrille auf die Stirn. Endlich! Sie ließ den Blick über den in der Sonne gleißenden Sand streifen. Möwen zogen ihre Kreise über dem Strand oder stritten sich mit Austernfischern um appetitliche Happen. Wie bunte Farbkleckse nahm Pauline Strandkörbe, andere Strandbesucher und im Sand buddelnde Kinder wahr. Zwischen Himmel und Strand glitzerte die Nordsee. Segelboote kreuzten am Horizont. Eine Aussicht wie auf Postkarten und viel schöner, als sie es in Erinnerung hatte. Hastig zog sie Schuhe und Strümpfe von den Füßen und krempelte sich die Jeans bis zu den Knien hoch. Sie eilte die Stufen hinunter und stand endlich im Sand. Sie wackelte mit den Zehen und spürte dieses leichte Kitzeln, wenn Sand zwischen den Zehen emporquillt. Hach, das hatte sie vermisst. Nach einem tiefen Atemzug schnappte sich Pauline die Strümpfe und stopfte sie in die Schuhe. Die Schnürbänder knotete sie an der Gürtelschlaufe ihrer Hose fest und rannte laut lachend und mit ausgebreiteten Armen dem Meer entgegen. Erst, als sie bis zu den Waden im Wasser stand, blieb sie stehen. Huch, war das kalt. Dennoch planschte sie mit den Füßen gut gelaunt im Wasser umher. Jules Vorschlag war eindeutig das Beste, was ihr in vergangener Zeit passiert war und Pauline war froh, dass sie sich hatte überreden lassen, hierher zu kommen. Es war einfach traumhaft hier. Langsam watete sie durch die leichte Brandung und allmählich gewöhnten sich ihre Füße an die Wassertemperatur. Ab und an hob sie eine besonders schöne Muschel auf und legte sie in die Schuhe. Es dauerte nicht lange, da quollen die Schuhe fast über mit Herz- und Miesmuscheln. Sogar eine Austernschale hatte sie gefunden. Halt! Schon am ersten Tag war sie prompt ihrer Sammelleidenschaft verfallen. Wenn sie so weitermachte, würde sie für ihre Heimreise ein zusätzliches Gepäckstück für gesammeltes Strandgut einplanen müssen.

Ein paar Hundert Meter weiter ließ sie sich im Sand nieder. Kaum zu glauben, dass sie heute erst angekommen war. Die Anreise schien ewig her zu sein. Dazu der Wetterumschwung. Während es auf der Fähre noch reichlich kühl gewesen war und die Sonne nur ab und an zwischen den Wolken hervorgelugt hatte, hatte sich der Nachmittag zu einem herrlichen Sonnentag entwickelt. Pauline zog die Windjacke aus, breitete sie auf dem Sand aus und legte sich darauf. Sie schloss die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen. Nach einer Weile spürte sie, wie ihre Haut heißer wurde und ihr fiel ein, dass sie keine Sonnencreme benutzt hatte. Daran würde sie in Zukunft denken müssen. Um die Haut nicht unnötig zu strapazieren, entschied sich Pauline schweren Herzens, zurückzugehen. Aber sie würde jeden Tag, wenigstens für einen kurzen Moment, den Strand aufsuchen, nahm sie sich vor. Vor dem Strand setzte sie sich auf eine Bank. Die Muscheln füllte Pauline vorsichtig in die Socken, rieb sich den Sand von den Füßen und schlüpfte barfuß in die Schuhe. Der Spaziergang hatte ihr gutgetan und sie fühlte sich fast wie im Urlaub. Was sich in den nächsten Tagen allerdings ändern würde, wie sie vermutete. Denn schließlich war sie nicht zum Faulenzen hergekommen.

Spontan entschied sich Pauline für einen kurzen Bummel durch den Ort. Ein Eis wäre genau das Richtige. Während sie den Strunwai entlang der Ortsmitte zustrebte, kam auch die Erinnerung an ihre vorherigen Aufenthalte zurück. Sie passierte das Kurmittelhaus und die Kurheime, erste Geschäfte und Lokalitäten. Durch die Geschäfte wollte sie ein anderes Mal schlendern und hielt nur am nächstgelegenen Eiscafé an. Genüsslich die Eiskugeln schleckend machte sie sich auf den Weg zu Jule. Die würde sicher schon warten.

Küsse am Meer

Подняться наверх