Читать книгу Küsse am Meer - Rosita Hoppe - Страница 8
Оглавление4. Kapitel
„Es ist wirklich okay, wenn ich dich allein lasse?“, fragte Pauline zum wiederholten Mal und schwang sich auf eines der Leihfahrräder, die Jule aus dem Schuppen geschoben hatte. Sie drehte eine Proberunde auf dem Parkplatz und hielt vor Jule an.
Jule nickte und tätschelte Paulines Arm. „Natürlich. Mach dir einen schönen Tag.“
Nachdem sie den Sattel tiefer gestellt hatte, hängte sich Pauline ihre Tasche über die Schulter. „Bis nachher. Wenn es brenzlig wird, kannst du mich übers Handy erreichen. Ich komm dann sofort zurück.“
„Nun fahr schon. Ich komme klar.“
Nach den ersten Metern drehte sich Pauline noch einmal um und winkte. „Ich bin bald zurück. Versprochen!“ Sie atmete tief durch und freute sich darauf, durch die Straßen von Nebel zu spazieren, die Windmühle und die Kirche zu sehen. Später würde sie es sich in einem der Cafés ausruhen. Pauline genoss die Fahrt auf dem Radweg, der am Kiefernwäldchen hinter den Dünen entlangführte, und nach einer Viertelstunde kam sie in Nebel an. Sie radelte über den Strunwai bis zur Windmühle, wo das Heimatmuseum untergebracht war. Sie zückte ihren Fotoapparat und machte ein Erinnerungsfoto. Ins Museum ging sie nicht, es zog sie weiter zum Öömrang Hüs, für sie das interessanteste Gebäude der Insel. Schon bei ihrem ersten Amrumaufenthalt hatte sie gemeinsam mit Jule und Jan-Erik dieses historische Friesenhaus bewundert. Wenn sie sich recht erinnerte, standen Küche und Wohnstube zur Besichtigung offen. Ach ja, da gab es auch noch eine Stube, die früher nur zu besonderen Anlässen benutzt wurde. Die musste sie sich unbedingt noch einmal ansehen. Am Eingang stellte Pauline fest, dass das Haus nur nachmittags geöffnet war. Also würde sie später noch einmal zurückkommen müssen. Sie ließ ihr Rad hier stehen und schloss es ab. Zu Fuß würde sie die besondere Atmosphäre des Ortes mit seinen blumengeschmückten Friesenhäusern viel besser aufnehmen können.
Pauline fand es noch genauso schön, wie sie es in Erinnerung hatte. Zuerst steuerte sie einen kleinen Laden an, der eine Vielzahl an hübschen Accessoires und allerlei Kleinigkeiten anbot. Stundenlang konnte sie in solchen Geschäften stöbern und schon oft hatte sie ein Heidengeld für schöne, aber eigentlich unnütze Dinge ausgegeben. Tatsächlich musste sie sich auch dieses Mal zusammenreißen, um nicht schon das Geld auszugeben, das sie erst noch bei Jule verdienen musste. Aber bevor sie wieder nach Hause fuhr, würde sie sich hier ein Andenken aussuchen. Vielleicht, nein, ganz bestimmt, würde sie ein Dankeschöngeschenk für Jule kaufen. Bevor sie ihrem Vorsatz untreu wurde, verließ Pauline das Geschäft. Was nun? Zur Kirche und über den alten Friedhof spazieren? Oder sich in eines der gemütlichen Lokale setzen? Noch während sie grübelte, sah sie einige Meter entfernt einen blonden Lockenkopf. War das etwa …? Er war es und er kam in ihre Richtung. Er schien Pauline auch erkannt zu haben, denn seine Miene hellte sich auf, als er näher kam und er lächelte sie an. Paulines Herz pochte plötzlich heftiger. Sollte sie warten, ob er sie ansprach, oder sollte sie ihn ansprechen? Die Entscheidung wurde ihr abgenommen.
„Hallo. Schön, Sie wiederzusehen.“ Er reichte Pauline die Hand.
Graublau. Seine Augen sind graublau, bemerkte Pauline in dem Augenblick, als sie seine Hand ergriff. „Guten Tag. Schöner Tag heute, nicht? Was machen Sie denn hier?“
Ach du Schande, was für einen Blödsinn man manchmal von sich gibt.
„Vielen Dank noch mal für Ihren Büchertipp. Sie haben mich damit aus einer blöden Situation gerettet.“
Ach ja, er hatte ja eine Frau. So was Doofes aber auch.
Paulines Laune sank. „Ah ja?“
„Ich hätte vermutlich noch bis Ladenschluss vor dem Regal gestanden und nicht gewusst, was ich kaufen soll. Dank Ihrer Hilfe konnte ich die Bücher noch am gleichen Tag zu meiner Schwester schicken.“
„Ihre Schwester?“
„Ja, meine Schwester hat heute Geburtstag und ich brauchte unbedingt ein Geschenk, das ich ohne Weiteres per Post verschicken konnte.“
Pauline fiel ein Stein vom Herzen und fast wäre sie ihrem Gegenüber vor Freude um den Hals gefallen. Die Bücher waren für seine Schwester, jubelte sie im Innern. Aber halt! Das hieß noch lange nicht, dass er ungebunden war. Das Leben war aber auch kompliziert.
„Darf ich Sie zum Dank in ein Café einladen?“ Er strahlte Pauline an.
„Ähm, ja, also … ich weiß nicht.“ Ihr schoss die Hitze ins Gesicht.
„Wartet jemand auf Sie? Ihr Mann vielleicht?“
Pauline schüttelte den Kopf. „Es wartet niemand. Ich bin allein hier.“ Allein, weil mich ein Idiot betrogen hat, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie gab sich einen Ruck. Warum nicht? Selbst, wenn er eine Frau hatte, konnte sie sich von ihm einladen lassen. Da war doch nichts dabei. „Geht auch ein Eis?“
Er lachte. „Na klar. Nichts dagegen. Ich bin übrigens Paul.“ Pauline stutzte, prustete los und lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen kullerten. Paul! Das war doch wohl ein Witz.
Paul starrte sie irritiert an. „Was ist?“
„Sie … Sie heißen wirklich Paul?“
„Ja. Was ist so lächerlich daran?“
„Pauline. Ich heiße Pauline.“ Pauline kicherte immer noch.
„Ernsthaft?“ Paul stimmte in ihr Lachen ein. „Wenn das kein Grund ist. Darauf müssen wir anstoßen. Wir könnten da drüben hingehen.“ Er zeigte über die Straße auf ein Reetdachhaus mit kleinem Garten davor. Rosencafé stand in schwungvoller Schrift über dem Eingang. Über einem Holzzaun rankten sich rote und gelbe Rosenbüsche. Das sah sehr romantisch aus. „Da gibt es auch leckeres Eis.“
Das war natürlich ein Grund mehr, auf Pauls Einladung einzugehen, wenn auch nicht der Hauptgrund. Der war nämlich, dass er ihr Herz zum Rasen brachte, wenn er sie so anlächelte.
Paul fasste unter Paulines Arm und führte sie hinüber in den Rosengarten. Kleine Holztische und Klappstühle mit bunten Sitzkissen luden zum Verweilen ein. Auf jedem Tisch stand eine Vase mit einer roten und einer gelben Rose. Die stammten sicherlich von den Büschen, die den Zaun überwucherten. Sie nahmen am hinteren Tisch Platz.
„Es ist sehr nett hier.“
„Ich bin gern hier“, sagte Paul. „Ich mag dieses familiäre Ambiente. Außerdem backen sie den Kuchen selbst.“ Mit erhobener Hand winkte er die Bedienung heran.
„Das ist natürlich ein Grund.“ Pauline zog die Eiskarte heran. Sie entschied sich für einen großen Früchtebecher mit Sahne. Paul bestellte einen Pott Kaffee und ein Stück Brombeersahnetorte.
Er legte seine Arme auf dem Tisch ab und neigte seinen Kopf in Paulines Richtung. „Es freut mich, dass wir uns getroffen haben.“
Pauline überlegte, ob sie zugeben sollte, dass sie sich ebenso freute. Da trat die Bedienung schon mit dem Eis an ihren Tisch und so nickte Pauline nur.
„Essen Sie, bevor es schmilzt.“ Paul wartete noch auf Kaffee und Kuchen.
Das ließ sich Pauline nicht zweimal sagen. Es war schon eine gefühlte Ewigkeit her, seit sie am Ankunftstag ein Eis gegessen hatte. Es gab für sie in diesem Moment nichts Schöneres, als hier neben diesem Mann zu sitzen, den sie kaum kannte, und ihr Eis zu genießen.
Paul bekam seinen Kaffee und ein großes Stück Torte, garniert mit zwei dicken Brombeeren.
„Sieht sehr lecker aus“, sagte Pauline.
„Sieht nicht nur so aus.“ Er pikste mit der kleinen Gabel in die Spitze der Torte.
Zu Paulines Erstaunen hielt er ihr den ersten Happen hin. Pauline konnte nicht widerstehen und beugte sich mit leicht geöffnetem Mund dem Leckerbissen entgegen. Sie schloss die Augen, als sie die süße, cremige Masse auf der Zunge spürte. Es kam noch ein wenig die leichte Säure der Brombeere durch. „Mmh … herrlich.“
„Finde ich auch“, murmelte Paul mit belegter Stimme. Pauline öffnete die Augen. Den unergründlichen und leicht irritierten Gesichtsausdruck von Paul vermochte sie nicht wirklich zu deuten. Aber in ihrem Bauch flatterte es plötzlich ganz doll. Was geschah hier gerade? Paul probierte die Torte. Ganz langsam, ohne den Blick von ihr zu wenden, ließ er seine Lippen über die Kuchengabel gleiten. Fast so, als wollte er auskosten, dass Pauline sie zuvor mit ihren Lippen berührt hatte. Diese Version überkam jedenfalls Pauline. Einen winzigen Moment noch blickten sie sich an.
„Alles in Ordnung?“, fragte in dem Moment die junge Frau, die sie bedient hatte. Einen unpassenderen Augenblick hätte sie nicht erwischen können. Pauline fühlte sich unsanft in die Wirklichkeit zurückgeholt. Paul schien ebenso zu denken, denn er warf der Frau einen verärgerten Blick zu. Pauline lehnte sich zurück und konzentrierte sich wieder auf ihren Eisbecher. Zwischenzeitlich hatte ihre Lieblingsspeise eine leicht flüssige Konsistenz angenommen. Aber egal. Es schmeckte trotzdem. Sie schwiegen, während sie aßen, warfen sich nur ab und an verstohlene Blicke zu. Pauline überlegte fieberhaft, was sie Unverfängliches sagen konnte. Doch blöderweise fiel ihr überhaupt nichts ein.
„Wir müssen noch auf unsere tollen Namen anstoßen.“ Paul holte sie abrupt aus ihren Überlegungen zurück, als er plötzlich mit dem Stuhl zurückrückte und sich erhob.
„Ich hol uns rasch was.“
Pauline blickte ihm nach, bis er im Café verschwand. Sie konnte noch immer nicht fassen, was da eben zwischen ihnen passiert war.
Kurze Zeit später kam er mit zwei gefüllten Sektgläsern zurück. Eines reichte er ihr, bevor er sich setzte. „Das einzig richtige Getränk zum Anstoßen“, sagte er mit einem Lächeln.
Pauline warf einen Blick auf die aufsteigenden Perlen im Glas. „Nicht, dass ich nachher vom Fahrrad falle.“ Sie blickte auf. Paul hielt ihr sein Glas entgegen. Mit einem leichten Klingen stießen sie an.
„Auf uns und auf unsere besonderen Vornamen.“ Paul zwinkerte. „Ich heiße Paul – und du?“
Pauline konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. „Hallo, Paul, schön, dich kennenzulernen. Ich bin Pauline.“
„Hallo, Pauline.“ Ehe sich Pauline versah, beugte sich Paul vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. „Ich freue mich auch“, murmelte er, lehnte er sich zurück, schlug lässig ein Bein über das andere und nahm einen ersten Schluck aus seinem Glas.
Das Blut kochte in ihren Adern, so kam es Pauline jedenfalls vor. Das Herz hämmerte, als wollte es aus ihrer Brust springen. Die Gefühle, die Paul gerade in ihr auslöste, verwirrten Pauline. Schließlich kannte sie ihn kaum. Eigentlich gar nicht. Obwohl sie ihn schon von der ersten Begegnung an attraktiv gefunden hatte. Nervös drehte sie das Sektglas in ihrer Hand, nahm einen Schluck und drehte es weiter. Sie spürte Pauls Blick, der auf ihr ruhte und der sie völlig durcheinanderbrachte.
„Bist du schon länger auf der Insel?“, fragte Paul nach einer Weile. „Von hier scheinst du nicht zu stammen.“
„Wie kommst du darauf?“
„Du sprichst reines Hochdeutsch.“
„Ich besuche eine Freundin und bin zum dritten Mal hier. Ganz besonders mag ich Nebel. Hach, diese Reetdachhäuser sind einfach hinreißend. Der Ort hat ein ganz besonderes Flair. Trotz der Touristen. Ich hab nirgendwo einen schöneren Strand gesehen. Ich liebe diese Unendlichkeit, die der Kniepsand ausstrahlt. Außerdem wandere ich gern über die Bohlenwege durch die Dünen.“
Paul lachte. „Deine Begeisterung für die Insel kann ich dir an der Nasenspitze ansehen. Du solltest in die Werbung gehen oder dich von der Touristeninformation anstellen lassen.“ Er beugte sich interessiert vor. „Oder bist du in der Werbebranche?“
„Ähm, nee.“ Stimmte ja auch. Was gewesen ist, zählt nicht mehr.
„Wie lange wirst du bleiben?“
Pauline zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich noch nicht. Es hängt von gewissen Dingen ab.“ Glücklicherweise fragte Paul nicht weiter. Er trank sein Glas leer und Pauline ebenfalls. Sie seufzte leise. „Ich muss dann auch weiter. Meine Freundin wartet sicher schon. Ich habe versprochen, bald zurück zu sein.“
„Schade. Ich wäre gern noch ein bisschen länger mit dir hier geblieben.“ Pauls Gesicht drückte Enttäuschung aus.
„Vielleicht … vielleicht laufen wir uns noch einmal über den Weg. Ich komme bestimmt bald wieder nach Nebel.“ Pauline erhob sich, Paul ebenfalls. „Ich werde hier auf dich warten“, versprach er. „Jeden Tag.“
Pauline wagte nicht, ihn zu fragen, ob er das ernst meinte. Wenn das Schicksal es wollte, würde es dafür sorgen, dass sie sich wieder über den Weg liefen. Wo auch immer das sein würde. „Vielen Dank für die Einladung, das Eis, den Sekt …“
„Den Kuss?“
„Ja. Auch den.“ Meine Güte, war der direkt. Ehe sich Pauline versah, zog Paul sie in seine Arme. Der intensive Blick aus seinen graublauen Augen bescherte ihr eine Gänsehaut. Sie entdeckte ein paar winzige grüne Punkte in seiner Iris. Welch ungewöhnliche Kombination. Schon spürte sie Pauls Lippen auf ihren. Die Berührung war kurz und fest, und viel zu schnell vorüber.
„Für den danke ich dir“, raunte Paul an ihrem Ohr und ließ sie so plötzlich los, dass sie beinahe ins Schwanken geraten wäre. Er wandte sich von ihr ab und winkte die Bedienung heran. „Zahlen bitte“, rief er. Kurze Zeit später hatte er die Rechnung beglichen.
„Wo steht dein Fahrrad?“, fragte Paul, als sie auf der Straße standen.
„Gleich in der Nähe. Also dann. Machs gut, Paul.“
„Machs gut, Pauline. Wir sehen uns.“ Er zwinkerte ihr zu.
„Ganz bestimmt.“ Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und schlenderte davon. Pauline blickte ihm nachdenklich hinterher. Würden sie sich noch einmal über den Weg laufen? War sein Versprechen, täglich im Café auf sie zu warten, ernst gemeint? Vermutlich nicht. Sie wusste nichts über ihn, außer dass er eine Schwester hatte, die Liebesromane las. Er hatte ihr nicht einmal erzählt, ob und wie lange er auf Urlaub hier war. Vermutlich würde er ihre Begegnung in die Kategorie „flüchtige Urlaubsbekanntschaft“ stecken. Was war mit ihr? Worunter würde sie dieses kurze, intensive Intermezzo ablegen? Darüber sollte sie besser mit ein bisschen Abstand – vielleicht am Abend im Bett – nachdenken. Inzwischen war Paul nicht mehr zu sehen. Dummerweise war sie so in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht darauf geachtet hatte, wohin er verschwunden war.
Pauline gab sich einen Ruck und machte sich auf den Weg zum Öömrang Hüs. Die Besichtigung des Hauses ließ sie sausen, ihre Gedanken kreisten immer noch um Paul. Sie schwang sich auf ihren Drahtesel. Für ihren Rückweg nach Norddorf schlug sie einen anderen Weg ein. Erst außerhalb des Ortes bemerkte sie, wo der Weg sie entlangführte. Sie bremste scharf ab, als sie das Areal rechter Hand erkannte, und kam ein wenig ins Schlingern. Rasch stieg sie vom Rad und stellte es an einem Baum ab. Auch wenn sie den ganzen Tag nicht daran gedacht hatte, gab es für sie nur einen Weg. Nach wenigen Minuten hatte sie die gesuchte Stelle gefunden.
„Hallo, Jan-Erik.“ Ein einfaches Holzkreuz nur mit dem Namen und ohne Daten zeigte Besuchern, wer hier begraben war. Auf dem Grab blühten die verschiedensten Blumen, die sicher Jule auf liebevolle Weise gepflanzt hatte. Eine Weile blieb sie stehen und dachte an die wenigen Augenblicke, die sie vor Jahren zu dritt verbracht hatten. So richtig hatte sie Jan-Erik damals nicht kennenlernen können, er war viel beschäftigt gewesen. Nun war es zu spät. Im Stillen versprach Pauline, beim nächsten Besuch einen Blumenstrauß mitzubringen. Sie wandte sich ab und eilte zum Ausgang.
Während sie zurück nach Norddorf radelte, hatte Pauline wieder Pauls Antlitz vor dem inneren Auge. Sein Lächeln, beim Essen der Torte und wie er sich über sie beugte. Plötzlich riss sie das wilde Hupen eines Autos aus ihren Gedanken. Bremsen quietschten. Erschrocken starrte Pauline auf das schwarze Auto, das kurz vor ihr zum Stehen kam. Der Fahrer fuchtelte wild mit den Armen. Mit klopfendem Herzen stieg sie vom Rad. Mannomann, das war knapp gewesen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie, ohne nach rechts und links zu sehen, auf die Hauptstraße gefahren war. Ihre Knie schlotterten, als sie das Rad auf den gegenüberliegenden Bürgersteig schob.
„Sind Sie lebensmüde?“, rief der Fahrer aus dem geöffneten Seitenfenster.
„Entschuldigung! Ich war in Gedanken.“
„Das habe ich gemerkt. In Zukunft sollten Sie die Augen offen halten!“ Kopfschüttelnd fuhr er weiter.
Das wäre wirklich besser. Pauline atmete tief durch. Sie hatte gerade verdammt viel Glück gehabt.
Als Pauline ihr Fahrrad ausrollen ließ, herrschte vor der Pension reges Treiben. Jule dirigierte gerade einen grünen Kleinwagen in eine enge Parklücke. Ein älterer Herr schleppte zwei Reisetaschen in Richtung Haustür. Aus dem Haus kamen Sarah mit Lilli auf dem Arm und Andy, der einen Buggy schob. Pauline winkte ihnen zu, stieg vom Rad und schob es eilig zum Schuppen. Anschließend gesellte sie sich zu Jule. Die junge Familie spazierte inzwischen die Straße in Richtung Ortskern entlang.
„Hallo, Jule.“
„Da bist du ja schon wieder. War’s schön?“
Pauline nickte. Zu mehr blieb keine Zeit, denn der Herr, der eben die Taschen ins Haus getragen hatte, tauchte neben ihnen auf. „Haben Sie uns das gewünschte Zimmer fertig gemacht?“
„Natürlich, Herr Krämer.“ Jule lächelte ihren Gast an.
„Das Gleiche wie im vergangenen Jahr.“
„Dann ist es ja gut.“ Er wandte sich seiner Partnerin zu, die sich eben durch den schmalen Türspalt zwängte.
„Trude, pass auf, dass du die Tür nicht ans Nachbarauto rammst. Wieso parkst du ausgerechnet in so einer schmalen Lücke?“
Trude quittierte die Bemerkungen lediglich mit einem Augenrollen und kam schnellen Schrittes auf Pauline und Jule zu. „Frau Petersen, schön, wieder bei Ihnen zu sein. Sie haben ja keine Ahnung, wie lange ich schon nach der Seeluft lechze.“
„Herzlich willkommen, Frau Liebig. Hatten Sie eine gute Reise?“
„Ging so.“ Sie beugte sich zu Jule und warf einen raschen Seitenblick auf ihren Partner, der gerade eine Kühltasche aus dem Fond seines Wagens hob. „Seine Kommentare über die Fahrweise anderer Verkehrsteilnehmer gehen mir ziemlich auf den Geist“, raunte sie. „Aber ich kann ihm das einfach nicht abgewöhnen.“ Sie streckte sich und zuckte mit den Schultern. „Herbert, komm jetzt! Ich will endlich auf das Zimmer.“
Pauline sah dem Paar kopfschüttelnd nach. „Ich dachte, die beiden seien ein altes Ehepaar, so, wie sie miteinander reden.“
Jule lachte. „Ich kenne sie nicht anders. Frau Liebig erzählte mir im vorigen Jahr, dass sie bald Silberhochzeit feiern könnten, wenn sie verheiratet wären. Die beiden sind übrigens schon zum fünften Mal hier. Eigentlich sind sie ganz nett und ich bin froh, Stammgäste zu haben.“
Jule hakte sich bei Pauline ein und sie folgten dem resoluten Paar ins Haus. „Ich hatte schon die Befürchtung, dass die beiden dir Ärger bereiten könnten.“
„Glaub ich nicht. Bisher hatten wir ein gutes Verhältnis und sie haben noch nie gemeckert.“
„Hach, das beruhigt mich. Ich hoffe, dass es so bleibt.“
„Hast du Durst? Oder lieber ein Eis?“ Pauline grinste. „Beides.“
„Dann komm.“
Nachdem Jule die Neuankömmlinge versorgt hatte, machten es sich die Frauen am Küchentisch gemütlich. Pauline füllte zwei Glasschälchen mit je einer Kugel Vanille- und Walnusseis. „Eigentlich hatte ich schon eins“, gestand sie.
Jule lachte erneut. „Was dich aber nicht abhält.“
„Nö. Außerdem bin ich vorhin eingeladen worden. Na ja, eigentlich zu Kaffee und Kuchen. Aber ich hab gefragt, ob es auch ein Eis sein darf.“
Jule riss die Augen auf. „Im Ernst?“
Pauline berichtete von ihrer Begegnung mit Paul, wobei sie Jule das Gefühlschaos verschwieg, das Paul in ihr auslöste.
„Find ich ja nett von ihm. Du hast wohl mächtig Eindruck auf ihn gemacht.“
„Er wollte sich nur bedanken, weil ich ihm aus der Patsche geholfen habe.“
„Und? Werdet ihr euch wiedersehen?“ Jule knuffte Pauline in die Seite. „Vielleicht findest du hier eine neue Liebe.“
„Du spinnst wohl. Ich hab den letzten Kerl noch nicht verdaut.“ Pauline starrte konzentriert auf ihren Eisbecher. Sie spürte, wie ihre Wangen brannten. Sollte sie Jule gestehen, wie sehr ihr Paul gefiel? Aber was hätte das für einen Sinn? Vermutlich würde sie ihn nie wiedersehen. Egal, sie konnte es nicht für sich behalten. Sie hob den Kopf und sah Jule an. „Ich fand ihn nett. Sehr nett sogar. Außerdem sieht er gut aus.“
„Aha. Wusste ich es doch.“ Jule grinste. „Mir kannst du nichts vormachen. Ich hab es dir an deiner Nasenspitze angesehen. Erzähl, wie er aussieht. Groß, schlank, sportlich …?“
Ein Klopfen am Küchenfenster unterbrach die Frauen. Pauline sah einen mit einer Schiffermütze bedeckten Kopf hinter der Scheibe.
Jule erhob sich und ging zum Fenster. „Das ist Herr Sörens. Der meint bestimmt, er müsse mal wieder nach dem Rechten sehen.“ Sie öffnete einen Fensterflügel. „Moin, Herr Sörens.“
„Moin, men Deern.“ Der Besucher tippte sich an die Mütze. „Was zu tun? Ich könnte den Rasen mähen.“
„Es eilt nicht. Wie geht es Ihrer Frau?“
„Hat noch Schmerzen. Aber rumkommandieren kann se schon wieder.“
Jule lachte. „Bestellen Sie ihr einen schönen Gruß. Ich komme sie bald besuchen.“
Erst jetzt schien Herr Sörens Pauline wahrgenommen zu haben. „Besuch?“
„Kommen Sie rum. Ich stelle Ihnen meine Freundin vor. Ich hab auch ’nen Lütten für Sie.“ Jule schloss das Fenster. Aus dem Kühlschrank holte sie eine Flasche mit einer gelbgoldenen Flüssigkeit und stellte sie auf den Tisch.
Aquavit las Pauline. Brrr, grässlich. So was würde sie nie runterkriegen. Hinter ihr hörte sie eine Tür zuschlagen. Kurz darauf kam ein Mann, sie schätzte ihn auf mindestens siebzig Jahre, in die Küche gepoltert. Pauline stand auf und streckte dem Besucher die Hand entgegen.
„Guten Tag. Ich bin Pauline Weber.“
„Moin. Sörens, Hinrich.“ Er tippte sich wieder an seine Mütze.
„Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Jule erzählte, dass Sie ihr oft helfen.“
Sörens nickte und schielte an Pauline vorbei in Richtung Jule, die eben einen Aquavit in ein langstieliges Schnapsglas schenkte. Pauline verkniff sich ein Grinsen.
„Prost, Herr Sörens. Schön, dass Sie vorbeigekommen sind.“
Sörens griff sich das Glas und setzte es an die Lippen.
„Na denn, prost“, murmelte er und ließ die goldgelbe Flüssigkeit in seinen Rachen laufen. Er verzog nicht mal sein Gesicht, wie Pauline staunend feststellte.
Jule zwinkerte. „Noch einen?“
„Nee, lass mal, Deern. Erst die Arbeit.“ Sörens tippte sich wieder an die Mütze. Das schien eine Marotte von ihm zu sein. Er machte kehrt, nickte Pauline zum Abschied zu und stiefelte aus der Küche.
„Ist der immer so durstig?“
„So ’n Lütter muss meistens sein. Das scheint seinen Motor in Gang zu bringen. Der Mann ist ganz in Ordnung.“ Jule blickte aus dem Fenster. „Wenn ich ihn nicht gehabt hätte … was ist da schon ein Schnaps?“
Pauline stellte die beiden Eisschälchen zusammen und ging damit zur Spüle. Unter fließendem Wasser spülte sie das Geschirr sofort ab. „Ich war bei Jan-Erik“, sagte sie und nahm das Geschirrtuch.
„Danke, dass du daran gedacht hast.“ Jule kam näher und drückte Paulines Arm. In ihrem Gesicht spiegelten sich Dankbarkeit und Trauer gleichzeitig.
„Nächstes Mal nehme ich Blumen mit.“