Читать книгу Küsse am Meer - Rosita Hoppe - Страница 9
Оглавление5. Kapitel
Die erste Woche war um. Obwohl die Pension inzwischen voll belegt war, konnte sich Pauline täglich Zeit für sich nehmen. Die nutzte sie für Spaziergänge, die sie meistens durch die Dünen zum Strand führten. Sie war ein zweites Mal joggen gewesen und hatte sich fest vorgenommen, ihre sportliche Aktivität beizubehalten. Es tat ihr gut und sie war stolz auf ihre Leistung, obwohl sie hinterher total ausgelaugt war.
Die Arbeit machte ihr Spaß, obwohl sie hauptsächlich aus Putzen und Aufräumen bestand. Wenn nur nicht das schlechte Gewissen ihrer Lektorin gegenüber gewesen wäre. Bislang hatte Pauline vermieden, sich bei Frau Mölder zu melden. Was hätte sie denn sagen können – außer, dass sie immer noch keinen blassen Schimmer hatte, was für eine Geschichte sie schreiben könnte? Trotz der vielen neuen Eindrücke, die sie in den vergangenen Tagen gesammelt hatte, blieb es in ihrem Kopf gähnend leer. Taugte sie nicht mehr zur Autorin? Sollte sie das Schreiben aufgeben?
Nein, das würde sie nicht tun. Sicher lag die Flaute nur an den Ereignissen, die so plötzlich auf sie eingestürmt waren. Auch Jules tröstende und aufmunternde Worte konnten den Schalter hinter Paulines Stirn nicht umlegen. Die wenigen Notizen in dem roten Buch mit den weißen Tupfen brachten sie auch nicht weiter. Es war zum Verrücktwerden.
Vielleicht half es, einen langen, wirklich langen Marsch über den Kniepsand zu machen. Vielleicht würde der Wind ihre Gehirnwindungen durchpusten.
Nach dem Mittagessen setzte sich Pauline in den Linienbus, der nach Wittdün fuhr. Jule hatte ihr für den Nachmittag freigegeben, weil keine neuen Gäste erwartet wurden. Sie selbst nahm einen Termin bei ihrem Steuerberater wahr und wollte anschließend kurz Frau Sörens besuchen. Für eventuelle Buchungsanfragen nutzte sie eine Anrufweiterleitung auf ihr Handy und hatte vorsichtshalber für die Hausgäste eine Notiz an der Pinnwand im Hausflur hinterlassen.
Schon nach zehn Minuten Fahrzeit stieg Pauline an der Haltestelle Leuchtturm aus. Rot-weiß gestreift und stolz ragte der Leuchtturm in den Himmel und lockte sie regelrecht an. Mehrere Touristen umrundeten das Amrumer Wahrzeichen.
Der Wind blies stärker und zerrte an Paulines Jacke und an ihren Haaren, je näher sie dem Leuchtturm kam. Bald stand er vor ihr: vierundsechzig Meter hoch, einschließlich der Düne, auf der er stand, und im Jahre 1875 in Betrieb genommen. Das las Pauline auf dem Hinweisschild. Ebenso erfuhr sie, dass man den Leuchtturm nur vormittags besteigen konnte. In puncto Besichtigungen hatte sie wirklich Pech. Sie hielt ihre Hand über die Augen und blickte rechts und links über die endlos erscheinenden Dünen. Die See war noch mindestens eineinhalb Kilometer von ihrem Standpunkt entfernt, schätzte sie. Vielleicht sogar mehr. Aber das machte nichts, sie würde trotzdem bis ganz nach vorn an die Brandung wandern und weiter bis nach Wittdün. Von dort aus würde sie den Bus zurück nach Norddorf nehmen.
Pauline zückte ihren Fotoapparat und knipste den Leuchtturm, die Dünen, den Strand, das ferne Wasser. Einfach alles, was sie von ihrem Aussichtspunkt aus vor die Linse bekam. Schließlich schob sie den Apparat in ihre Umhängetasche zurück und trank einen Schluck Apfelschorle aus der mitgenommenen Flasche. So, es konnte losgehen. Tief atmete sie die herrlich salzhaltige Seeluft ein und zog den Reißverschluss ihrer Windjacke zu. Fröhlich marschierte sie die Dünen hinab. Sie sank fast bis zu den Knöcheln in den Sand ein. Unten, am Fuß der Großdüne, war es relativ windstill. Doch sobald sie den Dünengürtel hinter sich ließ, blies ein heftiger Wind, der den losen Sand vor sich her in Richtung Wittdün trieb. Pauline setzte die Sonnenbrille auf, um ihre Augen vor umherfliegenden Sandkörnern zu schützen. Sie stapfte quer über den Kniepsand in Richtung Meer, wo die Wellen weiße Schaumkronen trugen und mächtig an Land rollten. Sie liebte dieses Bild, es bedeutete für sie so etwas wie Ungestümtheit und Freiheit. Je näher sie dem Wasser kam, umso heftiger zerrte der Wind an ihr. Sie zog die Kapuze über die Ohren, beugte sich nach vorn und kämpfte sich weiter voran. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so stürmisch sein würde. Aber egal, sie würde nicht aufgeben und wandte sich ein bisschen nach links, um auf ihrem Weg zum Wasser schon ein bisschen die Richtung nach Wittdün einzuschlagen. Ab und an bückte sie sich, hob eine Muschel auf und steckte sie in ihre Jackentasche. Sie keuchte vor Anstrengung, als sie endlich vor der stürmischen See stand. Schwer und laut tosend rollten graublaue Wellen an den Strand. Durch die getönten Brillengläser wirkten sie bedrohlich, fand Pauline. Sie schob die Brille auf die Stirn. Immer noch bedrohlich. Nicht nur die Wellen, sondern auch der Himmel. Blauschwarze Wolken hatten sich aufgetürmt. Wegen der Sonnenbrille und ihrer vornübergebeugten Haltung hatte sie das gar nicht bemerkt. Pauline fuhr zusammen, als plötzlich ein Blitz vom Himmel zuckte. Auweia! Sie hätte auf den Wetterbericht achten sollen. Hoffentlich näherte sich das Gewitter nicht so schnell. In welche Richtung wäre sie am schnellsten in Sicherheit? Eindeutig Wittdün. Die Häuserzeile der Promenade konnte sie deutlich erkennen, aber es würde trotzdem noch eine Weile dauern, bis sie den Ort erreichte. Erste Regentropfen fielen. Pauline zurrte die Kapuze enger und begann zu laufen. Sie musste so schnell wie möglich fort vom aufkommenden Gewitter. Wieder blitzte es aus dem blauschwarz verfärbten Wolkenturm. Trotz der lauten Brandung hörte sie den Donner grollen. So schnell sie konnte, rannte sie über den Strand. Doch an manchen Stellen sank sie knöcheltief ein und kam nur schwer vorwärts. Die Häuserzeile schien nicht näher zu kommen. Was sie noch mehr ängstigte, war die Tatsache, dass sie keinen Menschen entdeckte. Sie schien der einzige Mensch weit und breit zu sein, der sich bei diesem Wetter am Strand herumtrieb. Verdammt! Der Regen wurde stärker und peitschte gegen ihren Rücken. Nach einer Weile war die Jeans durchnässt und klebte an ihren Beinen. Die Jacke hielt auch nicht das, was der Verkäufer ihr versprochen hatte und nach kurzer Zeit spürte Pauline die Nässe auf ihrer Haut. Sie zitterte vor Kälte – und vor Angst. Wie lange würde es noch dauern, bis sie ein schützendes Dach erreichte? Noch ein paar Hundert Meter schätzte sie, dann hatte sie es geschafft. Doch ihre Beine waren schwer wie Blei. Den Blick auf den Boden gerichtet stolperte Pauline vorwärts.
Als sie nach einiger Zeit den Kopf hob, sah sie eine Person, die ihr entgegen kam. Noch so ein Wahnsinniger.
„Sind Sie verrückt geworden, bei dem Wetter am Strand herumzulaufen?“, rief die Gestalt, noch bevor sie Pauline erreichte, gegen den Sturm an.
„Es kam so plötzlich.“ Pauline versuchte zu erklären, froh, einen Menschen getroffen zu haben.
„Verdammte Touristen. Nichts als Ärger hat man mit denen!“
Warum musste er derart schimpfen? Pauline konnte von dem Mann außer einer schmalen Nase und einem energischen Kinn nichts erkennen, denn er trug die Kapuze seiner gelben Öljacke tief ins Gesicht gezogen.
„Kommen Sie! Ich bringe Sie in Sicherheit.“ Er griff nach Paulines Hand und zog sie hinter sich her. „Wir müssen uns beeilen.“
Mühsam versuchte Pauline, mit ihrem Retter Schritt zu halten, was gar nicht so einfach war, denn er war ein ganzes Stück größer als sie. Während sie hinter ihm herstolperte, starrte sie auf seine gelbe Rückseite. Mit so einer Jacke wäre sie sicherlich nicht so durchnässt, schoss ihr durch den Kopf. Aber nein, die hatte sie ja so unmodisch gefunden. Das hatte sie nun davon. Es donnerte wieder und Pauline zuckte zusammen. Hoffentlich waren sie bald in Sicherheit. Endlich hatten sie den Aufgang zur Promenade erreicht.
„Hier entlang! Ich wohne in der Nähe.“ Der Mann zog Pauline die Promenade entlang. Kurz darauf blieb er stehen und zeigte auf ein kleines, geducktes Haus mit großen Panoramafenstern. „Hier ist es. Kommen Sie schnell rein.“
Pauline fiel ein Stein vom Herzen, als sie nach Atem ringend endlich im Trockenen stand. „Danke.“ Sie japste und lehnte sich erschöpft gegen die Haustür.
Ihr Retter schnaubte nur und begutachtete sie von oben bis unten. „Ziehen Sie das besser aus.“
„Wie bitte?“ Pauline starrte ihn entgeistert an.
„Wollen Sie etwa eine saftige Erkältung riskieren? Ich gebe Ihnen ein paar Sachen von mir. Werden zwar nicht passen, sind aber wenigstens trocken.“ Er drehte sich um und verschwand im Nebenzimmer. Auf dem Boden hinterließ er eine nasse Spur, die von der Haustür bis in das Zimmer reichte, in dem er eben verschwunden war.
Pauline wusste, dass er recht hatte. Sie zitterte vor Kälte und wäre froh, endlich aus dem klatschnassen Zeug herauszukommen. Wenn es bloß nicht so unheimlich wäre, dass er immer noch seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte. Hatte er etwas zu verbergen? Pauline hörte eine Schranktür knarren. Zeit, zu verschwinden! Lieber wollte sie in einem anderen Hauseingang Schutz suchen. Vorsichtig drückte sie die Türklinke nach unten und zog die Tür einen Spalt auf. Gerade zuckte ein Blitz vom Himmel, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag. Ängstlich ließ Pauline die Tür wieder ins Schloss fallen.
„Wo wollen Sie denn hin?“, hörte sie in dem Moment die Stimme des Hausbewohners hinter sich. Zitternd drehte sich Pauline um und starrte ihr Gegenüber ungläubig an. „Paul? Du?“ Erst jetzt, wo er sich seiner triefenden Regenjacke entledigt hatte, erkannte sie ihn. Paul stand mit einem Stapel Kleidung vor ihr und machte ein ziemlich dummes Gesicht. Sie konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, während sie mit eiskalten Fingern versuchte, den Knoten des Kapuzenbandes zu lösen.
„Pauline! Ich glaub es nicht!“ Paul ließ den Stapel Klamotten fallen und war in zwei Schritten bei ihr. „Warte, ich helfe dir.“ Kopfschüttelnd löste er den Knoten und schob ihr die Kapuze vom Kopf. „Was machst du nur für Sachen?“, murmelte er und zog sie an sich.
Pauline war nicht fähig zu antworten. In dem Moment, als Paul sie an sich zog, lösten sich Ängste und Anspannung. Tränen der Erleichterung drängten sich in ihre Augen und sie hatte nicht die Kraft, sie zurückzuhalten. Ein heftiges Schluchzen übermannte sie.
„Pst, ist schon gut. Ich bin ja hier.“ Paul strich ihr beruhigend über den Rücken.
Es wirkte. Nach einer Weile hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie den Kopf heben konnte. „Moment, ich muss mal die Nase putzen.“ In den Jackentaschen wühlte sie nach einem Taschentuch. Sie fand zwar ein Papiertuch zwischen den Muscheln, das aber sandig und nass war. Energisch zurrte sie den Reißverschluss ihrer Umhängetasche auf. Die Tasche schien dem Wetter getrotzt zu haben, wie sie erleichtert feststellte. Die Packung Taschentücher war trocken, der Fotoapparat ebenso. Die Tasche landete auf dem Boden, nachdem sich Pauline die Nase geputzt hatte. Die Jacke ließ sie ebenfalls fallen und blickte Paul an. „Danke. Du hast mich gerettet.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Paul auf den Mund. „Ich hatte fürchterliche Angst“, murmelte sie an seinen Lippen.
„Wieso warst du eigentlich am Strand?“
Paul hob seine Augenbrauen und zog sie Millisekunden später drohend zusammen. Pauline interpretierte seine Mimik als eine Mischung aus Überraschung und Ärger.
„Es war eine verdammt blöde Idee, heute Nachmittag so einen Ausflug zu unternehmen.“ Er schimpfte auch schon los. „Hast du denn keinen Wetterbericht gehört?“
„Nö.“
„Das hätte böse enden können. Gewitter an der See sollte man nicht unterschätzen.“
Pauline wusste, dass Paul recht hatte. Sie atmete tief durch. „Ich weiß. Wenn ich vorher Radio gehört hätte, wäre ich bestimmt nicht aufgebrochen. Aber als ich los bin, schien die Sonne. Ich hatte mich so sehr auf die Strandwanderung gefreut.“
Pauls Blick wanderte von ihrem Gesicht an ihrem Körper entlang. „Du bist völlig durchnässt“, murmelte er. „Du musst unbedingt aus deinen Sachen raus, und zwar schnell.“ Er bückte sich, sammelte die Kleidungsstücke ein und drückte sie ihr in die Hand. Mit dem Kopf wies er den Flur entlang.
„Da hinten rechts ist das Bad. Du kannst auch duschen.“
Als Pauline zögerte, schob Paul sie in Richtung Badezimmer. „Nun mach schon, bevor du dir eine saftige Erkältung holst.“
Schnell schlüpfte Pauline ins Bad und schloss ab. Sie war so froh, dass Paul sie aufgesammelt hatte. Allerdings hatte er ihr nicht verraten, warum er am Strand gewesen war – wo es doch bei Gewitter angeblich so gefährlich war. Pauline zitterte. Sie fror erbärmlich. In Windeseile zog sie sich die nassen Sachen vom Körper und legte sie auf dem Waschbecken ab. Dabei fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild. Schwarze Spuren von verlaufener Wimperntusche unter ihren Augen und auf den Wangen ließen sie aussehen, als wäre sie einem Horrorfilm entsprungen. So hatte sie vor Paul gestanden. Wie peinlich. Mit dem Handrücken wischte sie sich übers Gesicht, aber es nützte nichts. Da würde nur ordentlich Seife helfen. Sie wandte sich ab und ging unter die Dusche. Minutenlang ließ sie das Wasser, so heiß sie es ertragen konnte, über Kopf und Körper rieseln. Doch warm wurde ihr davon nicht. Vermutlich war die Erkältung schon im Anmarsch. Das hatte sie nun davon.
Pauline beeilte sich. Nach dem Abtrocknen schlang sie sich ein Handtuch um die nassen Haare. Der Jogginganzug, den ihr Paul in die Hand gedrückt hatte, war viel zu groß. Die Ärmel musste sie umkrempeln und den Gürtel aus ihrer Jeans um den Hosenbund binden, damit ihr die Hose nicht über den Hintern rutschte. Aber die Sachen waren warm und vor allen Dingen trocken. Die nassen Teile legte sie zusammen. Vielleicht hatte Paul eine Plastiktüte übrig. Als sie aus dem Bad trat, kam Paul gerade mit zwei dampfenden Tassen aus einem der vorderen Zimmer.
„Komm ins Wohnzimmer. Ich hab uns einen Tee aufgebrüht.“ Er hielt ihr eine Tasse entgegen.
Dankend nahm ihm Pauline die Tasse aus der Hand. Eine heiße Wolke aus undefinierbaren Gerüchen stieg ihr in die Nase. „Was ist das für ein Tee?“
„Geheimrezept meiner Großmutter. Keine Ahnung, was da alles drin ist. Sehr gesund.“
Schmeckte vermutlich grässlich. Sie folgte Paul in einen Raum, der von einer riesigen Fensterfront dominiert wurde. An den Seitenwänden rechts und links des Fensters standen Regale, vollgestopft mit Büchern. Paul schien ein Bücherfreund zu sein. Das gefiel ihr. Eine Sitzecke aus grobem, schwarz-weiß meliertem Stoff lud zum Verweilen ein. Vor der Fensterfront stand ein altmodischer blaurot karierter Ohrensessel. Er passte so gar nicht zur übrigen Einrichtung, war aber dennoch ein schöner Platz zum Lesen oder Faulenzen. Auf dem kleinen dunklen Tisch mit geschnörkelten Beinen lag ein Fernglas.
„Trink, bevor der Tee kalt wird. Dann schmeckt er nämlich nicht mehr“, holte Paul sie aus ihren Betrachtungen in die Gegenwart zurück.
Vorsichtig trank Pauline einen Schluck. Gar nicht mal übel. Sie staunte und nahm noch einen Schluck. Im Nu war die Tasse leer und Pauline stellte sie auf dem Tisch ab.
„Geht es dir besser?“
„Danke, es geht schon wieder. Allerdings ist mir immer noch kalt.“
„Das können wir ändern.“ Paul beugte sich über die Lehne des Sofas und beförderte eine kuschlig aussehende Decke zutage. Die legte er Pauline über die Schultern.
„Wird gleich besser.“
Pauline hielt die Decke vor ihrem Brustkorb zusammen. Pauls Fürsorge rührte sie. „Danke.“
„Setz dich doch, ich hole noch einen Tee.“ Er wies lächelnd in Richtung Couch, nahm Paulines Tasse und schlenderte aus dem Zimmer.
Pauline entschied sich für den Sessel am Fenster. Immer noch regnete es stark und ab und an zuckten Blitze aus dunkelgrauen Wolken, worauf bedrohliches Donnergrollen folgte. Aber hier bei Paul fühlte sie sich sicher und geborgen. Von ihrem gemütlichen Platz am Fenster aus konnte sie das Geschehen am Himmel beobachten, ohne sich fürchten zu müssen.
Paul stutzte, als er zurückkam. Dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht. „Du hast dir meinen Lieblingsplatz ausgesucht.“
Rasch sprang Pauline auf. „Oh, das wusste ich nicht.“
„Ist in Ordnung, bleib sitzen. Hauptsache, du hast es bequem.“ Er stellte Paulines Teetasse auf den kleinen Beistelltisch und blieb neben dem Sessel stehen. „Ich sehe oft hinaus aufs Meer“, gestand er. „Dabei habe ich dich, beziehungsweise eine verrückte Person, die sich am Strand herumtrieb, durchs Fernglas entdeckt. Diese Unvernunft hat mich wütend gemacht, aber ich musste einfach helfen. Schließlich konnte ich nicht zusehen und abwarten, ob es diesem Menschen gelingen würde, heil in den Ort zu kommen.“ Schon wieder umwölkte sich Pauls Stirn, schon wieder schien er sich über ihre Unvernunft zu ärgern.
„Ich hab dir schon erklärt …“ Sie brach ab. „Entschuldige“, murmelte sie. „Ich wollte niemanden, besonders nicht dich, diesem Wetter aussetzen.“
„Ist ja nichts passiert.“ Seine Gesichtszüge glätteten sich. „Außerdem war es eine gelungene Überraschung, als du unter der Kapuze hervorkamst.“
„Wirklich?“
„Mmh.“
Pauline konnte Pauls Blick nicht deuten, aber ihr Herz raste plötzlich. Sie war ebenso überrascht gewesen, als er vor ihr gestanden hatte. Das war Schicksal. Eindeutig. Fast wie in einem Liebesroman … ähm … diese Szene musste sie sich merken. Unbedingt. Paul sah sie immer noch so komisch an. Wenn sie doch bloß hinter seine Stirn blicken könnte. Seine Gedanken lesen. Er beugte sich zu ihr herab und stützte sich auf den Sessellehnen ab. Himmel, seine graublauen Augen konnten einen ganz schön aus der Fassung bringen. Sie nagte an ihrer Unterlippe. Würde er sie küssen?
„Du hast mich versetzt“, murmelte Paul. „Ich habe jeden Tag im Rosencafé auf dich gewartet.“
„Wirklich?“ Pauline konnte es nicht fassen. „Ähm, ich dachte, das sei nur so dahingesagt gewesen.“
„Ich sage niemals etwas nur so dahin.“
Pauls Augen verdunkelten sich. War er verärgert? Mehrmals hatte Pauline in den vergangenen Tagen überlegt, ob sie auf gut Glück nach Nebel fahren sollte. Doch die Blöße, stundenlang vergeblich im Café auf ihn zu warten, hatte sie sich nicht geben wollen. „Wenn ich das geahnt hätte …“
„Halt den Mund“, flüsterte Paul. Mit dem Zeigefinger hob er ihr Kinn an. Erwartungsvoll schloss Pauline die Augen. Schon spürte sie seine Lippen auf ihren. Sie schmeckten nach Kräutertee und ein bisschen auch nach Meer. Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken, er zog sie vom Sessel und zu sich heran. Er hielt sie fest an seinen Brustkorb gedrückt. Sein Kuss wurde fordernder, seine Zungenspitze begehrte Einlass, glitt über ihre Lippen, über ihre Zahnreihe, und tänzelte schließlich mit ihrer um die Wette. Seine Hände glitten über ihren Rücken und eine wohlige Wärme erfüllte Pauline. Staunend registrierte sie seinen heftigen Herzschlag. Dann konnte Pauline nicht mehr denken. Die Gefühle, die Paul in ihr auslöste, zogen sie vollkommen in den Bann.