Читать книгу Sieben Berge - Rosmarie Bernasconi und Peter Maibach - Страница 3
ОглавлениеKapitel 1
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Sieben Berge liegen vor mir. Bloss, wie manchen schaffe ich noch? Sieben Berge, überlege ich, einen nach dem andern. Bei unserem Stein, hoch oben auf der Pläni, bleibe ich ein paar Augenblicke stehen, verschnaufe. Hier, bei diesem Felsbrocken, haben wir jeweils Halt gemacht, wenn wir vom Dorf her aufgestiegen sind: Sophie, Gian, Martina, Gran, Rebekka. Doch heute bin ich alleine unterwegs und habe wenig Lust auf eine einsame Rast. Der Weg, der vor mir liegt, zieht mich vorwärts.
«Komm, was hast du dort unten noch verloren? Komm endlich», ruft die Ungeduld. Sie will mich wegziehen, weg von Toss, das so lange mein Dorf gewesen ist. Ich gehe zaudernd ein paar unentschlossene Schritte, schaue hinunter ins Tal.
«Nur noch diese eine Geschichte, die letzte, ich verspreche es dir, die will ich noch zu Ende erzählen.»
«Ich kenne sie bereits», murrt die Ungeduld. «Komm, komm mit mir, ich bin deine Zukunft!»
«Erinnerungen sind meine Zukunft», erwidere ich.
«Erinnerungen sind trügerische Spiegel. Sie halten die unerwünschten Bilder verborgen, und es scheinen nur die schönen, hellen Tage im Album des Vergangenen eingeklebt zu sein», argumentiert die Ungeduld.
Tatsächlich, soweit ich mich auch zurückerinnere, im Sommer regnete es nie. Wenn ich zur Schule musste, ja sogar wenn ich krank war, strahlte die Sonne. Die Winter versanken blitzweiss im Schnee, die Sommer glänzten wie Postkarten. Es war nie zu heiss und nie zu kalt. Ich wurde nie müde, ich hatte immer gute Laune. Alle waren fröhlich.
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Die Sommerferien in der Stadt dauerten ewige sechs Wochen, da blieb sogar für einen Schulbuben mit tausend Flausen im Kopf noch Zeit für Trödelei oder gar Langeweile. Doch schon bald würden wir den Stadtmief gegen die gute Bergluft vertauschen, schwärmte Mutter, und das würde uns allen gut tun.
Wohin in die Ferien, war vorgegeben. Wie jedes Jahr ging es in die Berge, in ein verträumtes Bergdorf in den Alpen, nach Toss. Dort mietete Vater beim alten Anderegg eine bescheidene Ferienwohnung. Sie war klein, mit viel dunklem Holz, niederen Räumen, einem schlichten Holzkreuz über der Türe, schmalen Fenstern, Geranienrot vor blitzenden Fensterscheiben, rot-weiss karierten Vorhängen, rot-weiss kariertem Bettzeug, soliden Möbeln, in Toss sahen alle Häuser so aus. Die Andereggs, eine Bergbauernfamilie, die aus starken, schweigsamen Männern bestand, die sich nur sonntags rasierten, die dunkel waren wie die von der Sonne verbrannten Holzhäuser und die mit kantigen, energischen Frauen mit harten, kräftigen Händen zusammen lebten. Wie eine Uniform trugen die alten Frauen schwarze Kleidung, ihre Männer klammerten sich an einen kräftigen Stock. Alle, Jung oder Alt, trugen klobige solide Bergschuhe, die Männer oft Militärstiefel.
Sophie! Sie war ein Jahr jünger als ich. Blaue Augen, meistens mit fliegenden Zöpfen und einer spitzen Zunge. Etwas lebendig Buntes umgab sie, schwirrte aufgeregt wie Schmetterlinge um ihre drahtige Gestalt. Ein Halstuch, eine Schleife, eine Blume setzten Farbtupfer auf ihre schlichte Arbeitskleidung. «Sie ist mein Schatz in Toss», erzählte ich der Mutter.
Die Anreise ins Dorf verlief umständlich. Die Packrituale in unserer kleinen Familie glichen denjenigen der Arche Noah, von der ich in der Sonntagsschule hörte.
«In Toss gibt es nichts!», verkündete die Mutter wie jedes Jahr. Und so kam Stück um Stück zusammen, das unverzichtbar zur Alltagsausrüstung in den rauen Bergen gehören musste. Der Gepäckberg entlockte dem Vater einen Seufzer. Ob wir in die Ferien fahren wollten oder nach Toss auswandern, war seine alljährliche Frage. Mutter quittierte wie immer mit einem schmalen Lächeln; sie sei so stolz auf ihre beiden starken Männer. Nach einer langen Zugfahrt, die wir hauptsächlich bei ausgedehnten Picknicks im Abteil verbrachten, und etlichem Umsteigen ging’s weiter mit dem Postauto, einem riesigen, heissen, gelbschwarzen Ungetüm. Gegen ein Trinkgeld, dem jedes Mal einiges Getuschel und Gezischel zwischen Vater und Mutter vorausging, war der Fahrer gerne bereit, ausserplanmässig einen Halt einzulegen, im Rank, dort, wo der Weg vom Dorf in die Kantonsstrasse einmündete.
Meistens wartete der alte Anderegg bereits, schweigend und rauchend an seinen Trecker gelehnt. Vater und der Chauffeur wuchteten das Gepäck aus dem kleinen Anhänger des Postautos und luden es auf Andereggs angehängten Heuwagen. Dann zurrten sie die Bagage fest, als ginge es auf eine mehrtägige Reise. Behütet von tausend Ermahnungen der Mutter, kletterte ich auf die Ladefläche, setzte mich artig zwischen Vater und Mutter hinten auf den Heuwagen. Die Einheimischen schauten wie Masken durch die Wagenfenster zu. Am Abend, am Stammtisch im Hirschen, würden sie von den Verrückten aus der Stadt erzählen, mit ihrem Gepäckberg, wo ihnen doch ein Rucksack für die Besorgungen im Tal längstens ausreichte.
Anderegg liess den Motor anspringen, gab Gas, der nagelnde Lärm steigerte sich, bis er jedes Gespräch übertönte, glücklicherweise auch Mutters ständige Ermahnungen, ja aufzupassen, auf die Beine, auf die Räder und wer weiss was noch für Schicksalsschläge, die rundherum auf uns lauerten.
«Obacht», rief Anderegg über die Schulter. Mit einem Ruck setzte sich unsere Fuhre in Bewegung. Gleich nach der ersten Biegung holperten wir über die untere Brücke. Steil unter den Bohlen rauschte der Tossbach. Mutter nahm meinen Arm, verstärkte ihren Griff, damit wir nicht ins Tobel stürzten. Das Rauschen des Baches verklang hinter uns, als die schmale Strasse steiler wurde und sich in Serpentinen durch den Wald hoch quälte. Hoch oben, weit über der Kantonsstrasse, nach einer dunkelgrünen, feuchtkühlen Wegstrecke durch die Schlucht, überquerten wir den Tossbach ein zweites Mal. Die Mutter fröstelte. Kurz nach der Stahlbrücke, der oberen Brücke, wie die Einheimischen sie bezeichneten, flachte die Steigung ab. Der Wald trat zurück, und eine milde Feriensonne liess die Kühle schnell vergessen. Anderegg konnte jetzt bereits das Dorf vor sich sehen. Ich wollte aufstehen, Ausschau halten, denn bald mussten wir am Seeli vorbeikommen. Eine breite und tiefe Stelle im Tossbach, kurz vor dem Dorf, ersetzte im Sommer das Schwimmbad für uns Kinder. Es brauchte schon einiges an Überwindung, in das eiskalte Gletscherwasser einzutauchen. Sophie schwamm wie ein Otter durch das Eiswasser, braun gebrannt, in einem knallroten Badeanzug. «Fräulein Jakob, ist es euch zu kalt?», spottete sie und tauchte ab in die grüne Tiefe.
Mutter riss mich aus meinen Träumereien: «Pass auf, Bub.» Artig setzte ich mich wieder hin. Ich hatte das Seeli erspäht und einen ersten Blick auf das Dorf geworfen, das auf der Hochebene in einer sanften Mulde vor dem Oberwald vor uns lag. Von unseren Sitzplätzen auf der hinteren Wagenkante aus sahen wir weit in das breite Tal hinein, das in der blauen Ferne sanft mit dem Himmel verschmolz. Die Mutter entspannte sich, lockerte ihren strengen Griff. Vater schaute sich nach Anderegg um, winkte ihm vergnügt zu. Anderegg schaltete den Trecker in einen höheren Gang, ein Ruck, und die Sommerferien in Toss begannen.
Das Dorf wirkte wie ausgestorben. Der Sommer war kurz hier oben, und es galt, die wenigen guten Tage auf den Feldern zu nutzen. Anderegg bog auf den Dorfplatz ein. Im schmalen Gässchen zwischen dem Hirschen und der Kirche hämmerte der Motorenlärm des Treckers auf uns ein, Mutter hielt sich die Ohren zu. Mit einem Ruck stoppte Anderegg unser Gefährt beim Chalet Anderegg.
«Viel zu tun heute», wandte sich Anderegg nach hinten, ohne den Motor abzustellen. Die Männer luden flink das Gepäck ab, und mit einem kurzen «bis heute Abend» ratterte Anderegg schon wieder davon, zum Heuen, wie Mutter mir ausführlich erklärte, wie jedes Jahr. Als wir Sack und Pack in das Ferienlogis im zweiten Stock bugsiert hatten, scheuchte sie uns aus der Ferienwohnung. Mutter wollte ungestört ihr Reich in Besitz nehmen.
«Komm», grinste Vater, «wir drehen eine Runde durch das Dorf.» Ich ahnte es bereits, Vaters Runde würde im Hirschen beginnen und auch dort enden. Brav ging ich mit, trank meinen Sirup aus dem riesigen, schweren Glas. Ich luchste auf eine günstige Gelegenheit, mich davonzuschleichen, ich musste unbedingt Sophie sehen. Als Vater sich in ein endloses Palaver mit den anderen Beizenhockern verwickelte, die nichts zu tun hatten, schlich ich zur Tür. Ausserhalb Vaters Sichtweite sauste ich los. Ich vermutete, dass die Andereggs am oberen Hang am Heuen waren. Ich wählte sicherheitshalber den Weg dem Bach entlang, der auf der andern Seite des Dorfes durchführte, ausser Sichtweite der Casa Anderegg. Die Mutter schien über einen siebten Sinn für meine Eskapaden zu verfügen und würde mich bestimmt zurückrufen, wenn sie mich sähe, und mich mit irgendetwas Langweiligem beschäftigen.
Von der alten Sägerei aus entdeckte ich hoch oben im Hang Andereggs Trecker. Ich rannte los. Ich erkannte Sophie schon von weitem. Sie zog einen breiten Rechen hinter sich her, der mir viel zu gross für das zierliche Mädchen schien. Sophie verrichtete diese Arbeit gerne und voller Ernst, wie ich mich erinnerte. Sie liess es erst gut sein, wenn sie den letzten getrockneten Grashalm auf der kurz geschnittenen Wiese erwischt hatte. Für die Kühe, damit sie im Winter genug zu fressen hätten. Die Winter hier oben waren hart und das Dorf oft abgeschnitten von der Talstrasse. Manchmal verschütteten sogar Lawinen und Erdrutsche die Strasse. Da mussten die Vorräte für die kalte Jahreszeit reichlich und klug angelegt werden, das hatte mir der Vater erzählt.
«Hallo», keuchte ich, als ich mit rotem Kopf vor Sophie stand. Sie war zwar jünger, nur wenig kleiner, aber viel stärker als ich. Ihre Augen leuchteten in einem Blau, wie ich es später in meinem ganzen Leben bei niemand anderem mehr fand. Sophies Lachen riss jeden wehrlos mit, niemand konnte ihr böse sein. Unter dem hellblauen, streng geknoteten Kopftuch suchten übermütige Haarsträhnen einen fliessenden Weg über Schultern und Rücken. Ein paar Heuhalme lockten mich, sie aus der kastanienbraunen Haarflut zu zupfen. Sophie legte sorgfältig den Rechen hin, Zacken nach unten, und richtete sich mit einer geschmeidigen Bewegung auf. Sie trat einen Schritt auf mich zu. Feine Schweissperlen, lächelnd wischte Sophie sich mit dem Handrücken die Stirne trocken. «Jakob, wir haben euch erwartet.» Ordentlich gab sie mir die Hand, eine trockene, harte Anderegghand. Ich wusste, was jetzt kommen würde. Sie drückte kräftig zu, ich erwiderte den Druck, so gut es eben ging. Aber ich wusste bereits, ich würde keine Chance haben. Ich wand mich im festen Griff, dem ich nichts entgegenzusetzen hatte. Sophie lachte, als sie merkte, wie schnell sie den kleinen Kampf gewann. «Bist nicht stärker geworden seit dem letzten Jahr!»
Die Hupe des Treckers mahnte vorwurfsvoll. Sophie nahm den Rechen wieder auf: «Ich muss weitermachen, morgen kannst du mir ja helfen, wenn du nicht zu schwach dazu bist.»
Ich spazierte zurück, hinunter ins Dorf, gelangte von der Post her wieder auf den Dorfplatz. Als wenn ich nie weg gewesen wäre, trödelte ich vor dem Dorfladen herum, der geschlossen war. Ich wartete. Ich schaute durch das spiegelnde Schaufenster in den dunklen Laden. Es gab alles zu kaufen, was das Dorf brauchte. Mutter lag falsch, wenn sie behauptete, es gebe in Toss nichts. Links vom Eingang stapelten sich Konservenbüchsen, Teigwaren, Zucker, Mehl. Hinter der Ladentheke mit der Registrierkasse erkannte ich die leeren Gestelle, in denen morgen frisches Brot liegen würde. Daneben hingen Dauerwürste, und ausserhalb der Reichweite von Kinderhänden war Schokolade aufgebaut, zwei Sorten bloss, Milchschokolade und dunkle Kochschokolade, steinhart. Im Kühlschrank im Hintergrund, einem weissen Ungeheuer mit Türen schwer wie ein Kassenschrank, lagen frische Butter und Käse. Die Milch holten wir abends beim Bauern, nach dem Melken. Die rechte Ladenseite war den Haushaltartikeln vorbehalten, Schnur, Besen, Werkzeug, Streichhölzer, Taschenmesser, Putzmittel, Lappen, einfaches Geschirr, rot mit weissen Tupfen. Ein paar Literflaschen Wein, Dôle, Kalterersee und Veltliner, rundeten das Sortiment ab. Daneben ein zwei Schnapsflaschen und eine offene Kiste mit billigeren Stumpen und den gängigsten Zigarettenmarken. Eine Schachtel mit Postkarten, Schwarz-Weiss-Aufnahmen von Toss, von der Kirche, von früher. Mir schien es ein Paradies, das einen viel verlockenderen Reiz ausübte als die eleganten Läden, die ich aus der Stadt kannte. Alles war eng und zusammengepfercht, und ich vermutete, dass es Tage dauern würde, um das ganze Sortiment durchzugehen.
Vater plauderte vor dem Hirschen mit einem hoch gewachsenen jungen Mann mit einer strengen Brille und langen, zurückgekämmten Haaren. Der war zu elegant angezogen für hier oben, das war bestimmt kein Einheimischer, aber auch kein Tourist. Der gehört doch nicht hierher, dachte ich, der hat sich wahrscheinlich verlaufen und fragt nach dem Weg. Vater winkte mich herüber.
«Das ist Gran Whools, unser neuer Nachbar. Er studiert in Zürich. Ein begabter junger Student, der einmal die Kanzlei seines Vaters übernehmen wird.»
Gran Whools hob abwehrend die Hände: «Ihr Sohn, Herr Erler?» Er beugte sich leicht zu mir: «Du musst deinem Vater nicht alles glauben!»
Er reichte mir eine schmale, gepflegte Hand. Definitiv keiner aus dem Dorf. «Ich werde jetzt öfter in den Ferien hier oben sein, gleich gegenüber von der Casa Anderegg. Ich wohne aber sonst im Tal unten. Ich habe ein Büro, fast wie dein Vater.»
Überrascht war ich von Grans ruhiger, tiefer Stimme. Ich hatte eine dünne Stimme erwartet, die zu der hoch aufgeschossenen Gestalt passen würde. Der könnte gut den Nikolaus spielen mit dieser Stimme, dachte ich, denn natürlich glaubte ich schon lange nicht mehr an den Nikolaus.
«Und, wie geht es deiner Sophie?», grinste Vater schelmisch.
«Gut», antwortete ich eifrig, «sie ist am Heuen, morgen gehe ich mit zum Helfen.»
Gran Whools und Vater tauschten Blicke.
«Wenn ich darf?», fügte ich an.
«Ich bin sicher, Sophie kann etwas Hilfe gut gebrauchen», unterstützte mich Whools, der mir heimlich zuzwinkerte.
Vater lachte und zuckte die Schultern. «Mir soll's recht sein. Wir müssen weiter», verabschiedete er uns, «das Abendessen wartet.»
Vater und ich kehrten zur Ferienwohnung zurück, wo es Spaghetti an Tomatensosse geben würde, wie jedes Jahr am ersten Ferientag.
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Gut zehn Jahre waren seither vergangen. Seit einigen Monaten hauste ich in einer kleinen Studentenbude in der Berner Altstadt, zusammen mit ein paar Freunden. Zu Hause war es mir zu eng geworden. Der Vater verbündete sich mit mir und beschwichtigte Mutter, das gehöre halt zum Jungsein, ich sei ja nicht ab der Welt. Mutter hatte angerufen, sie rief beinahe jeden Tag an. Irgendwann im Geplauder erwähnte sie, Sophie lebe jetzt in der Stadt, die Andereggs hätten ihr neulich geschrieben. Nächsten Samstag käme Sophie sie zu Hause besuchen, und ob ich auch zum Tee kommen wolle, bat Mutter.
Ich erinnere mich, wie ich den Nachmittag als peinlich empfand. Mutter schwärmte von früher, als wir noch so herzige Buben und Mädchen waren, in den Sommerferien in Toss. Nur mit Mühe konnte ich sie davon abhalten, die alten Familienfotos hervorzukramen. Sophie lächelte höflich und zwinkerte mir verstohlen zu. Als wir uns endlich loseisen konnten und wieder auf der Strasse standen und zum Küchenfenster zurückwinkten, fragte Sophie: «Gehen wir noch irgendwohin?»
Wir bummelten durch das stille Wohnquartier mit den gepflegten Gärten und den aufgeräumten Vorplätzen, Richtung Stadtzentrum. Ab und zu rollte ein Auto vorbei. «Hier ging ich zur Schule, das war mein Schulweg. Wir konnten auf der Strasse Fussball spielen.»
Sophie lachte: «Das konnten wir auch, im Dorf. Aber ich habe mich immer nach der Stadt gesehnt, wenn du mir davon erzählt hast. Und jetzt, wo ich hier bin, fehlt mir das Dorf.»
«Erinnerst du dich an Gian, Gian Piatt?»
«Gian, natürlich erinnere ich mich an Gian. Irgendwie schien er mir nicht wie die anderen Dörfler zu sein? Ein listiger Kobold, so nannte ihn Vater.»
«Gian ist ein Schatz, er hat es mit uns Kindern immer gut gemeint. Im Winter, wenn der Schneepflug noch lange nicht bei uns im Dorf oben war, schaufelte er uns den Weg zum Schulhaus frei. Neuerdings erteilt er den Feriengästen Skiunterricht. Am liebsten den Frauen, und die gehen gerne mit ihm auf eine einsame Tour durch die verschneiten Wälder.»
«Toss wird ja richtig eine mondäne Destination», lachte ich, «und du, Sophie, willst du nicht auch Skilehrerin werden?»
«Gian würde sich bestimmt darüber freuen», sagte sie, «trotz der Konkurrenz.» Sophie schwieg lange. Unten an der Aare, mitten auf dem Schönausteg standen wir uns gegenüber. Sophie nahm meine Hand, spielte mit meinen Fingern. Ihre Augen leuchteten schelmisch.
«Nein, Jakob, niemals! Toss ist für mich weit weg. Obwohl, wenn ich so überlege, dir könnte ich wohl noch einiges beibringen, damit du es auch einmal ins Tal schaffst, ohne Badewannen in die Piste zu drücken.»
Ein kalter Wind liess die Herbstblätter über die Bohlen rascheln. Eine Ente schnatterte, ein Velofahrer schob sein Rad über die Brücke. Sophies brave Zöpfe, deren Bild ich als Erinnerung in mir trug, waren einer wilden Strubbelfrisur gewichen. Ich verspürte Lust, mit den Händen durch die Haare zu fahren wie der Wind durch das Herbstlaub, nach längst vergessenen Heuhalmen zu suchen.
«Du bist gross geworden, und schön!», erwiderte ich stattdessen mit einer Stimme, die mir rau und fremd vorkam.
«Fang du jetzt nicht auch noch damit an!» Sophie gab sachte Druck auf die Hand. Ich erwiderte ihn, so gut es ging. Doch Sophie hatte nichts von ihrer Kraft eingebüsst und gewann unser kleines, vertrautes Spiel.
Sophie hakte sich bei mir unter, lehnte sich an meine Schulter. Wir nahmen unseren Weg wieder auf.
«Was machst du hier in der Stadt?»
«Ich musste einfach weg aus Toss. Das Dorf wurde mir zu eng, die Leute schienen mir zu alt. Jeden Weg war ich bereits hundertmal gegangen, ich kannte jeden Stein. Jede Woche sah gleich aus, jedes neue Jahr war eine genaue Kopie des vergangenen. In die Stadt, eine Ausbildung machen, Sprachen lernen, Reisebüro, reisen, die Welt sehen, ich wollte alles auf einmal. Pluff, alles ist zerplatzt wie eine Seifenblase. Bis ich weiss, wie 's weitergeht, jobbe ich hier und dort, um mich über Wasser zu halten.»
Sophie schien nicht im Geringsten verlegen. «Der Vater weiss noch nichts davon, es war schon ein Krampf, bis er mich ziehen liess. Gian hat mir geholfen, den Vater umzustimmen. Er hat gesagt: Anderegg, lass die Jungen ziehen, was kannst denn noch bieten, hier oben? Die müssen in die Welt, sonst bleiben sie ewig hier oben hocken.
Für uns war's immer noch gut genug, brummelte der Vater, nickte aber schlussendlich: Geh halt, Söfel, wenn's sein muss. Aber der Mutter habe ich es gebeichtet. Die Brüder werden mich auslachen, sie haben's ja schon immer besser gewusst. Sollen sie.»
Sophies Augen blitzten trotzig. «Und du?»
«Meine Eltern möchten, dass ich Ingenieur werde, und später soll ich das Büro vom Vater übernehmen. Transportanlagen aller Art. Wir bewegen alles, Ihr Transportproblem wird garantiert gelöst, Erlerwort. So einfach ist das.»
«Und willst du das?»
«Ich weiss nicht. Nein, eigentlich nicht. Ist egal.»
Wir bummelten schweigend dem Fluss entlang, immer den vertrauten Turm des Berner Münsters vor uns. In einem herbsttrüben, leeren Restaurant am Ufer des Flusses tranken wir einen lauwarmen Kaffee. Die Nussgipfel in der Kunststoffbox schienen ebenso missmutig trocken wie die Bedienung. Draussen lag alles grau in grau, und es dunkelte früh.
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Sophie blickte auf bewegte Jahre zurück. Sie würde Jakob viel zu erzählen haben von ihrem Weg aus Toss hinein ins Leben. Sophie freute sich auf das lang ersehnte Skiwochenende, endlich wieder einmal dem Stadtalltag entfliehen und in die Berge abhauen, in den Schnee eintauchen, viel Schnee.
«Wie es wohl Jakob gehen mag?» Hoffentlich würde sie ihm in Toss begegnen. Es war wie verflixt: Je näher man wohnte, desto seltener sah man sich. Sophie würde seine Mutter anrufen, um sicher zu sein, dass Jakob ebenfalls in Toss war.
Ihr Verlangen, Jakob zu sehen, war in den letzten Monaten stets grösser geworden.
Während der Dauer, die sie mit Max zusammen verbrachte, hatte sie für nichts und niemanden anderen mehr Zeit gefunden. Sie verschwendete kaum einen Gedanken an Toss und an Jakob. Ja, sie war glücklich, und ihr Job in Zürich beim Reisebüro Maruc Travel füllte sie vollständig aus.
Als Sophie von Toss nach Bern zog, wusste sie nicht, was sie alles erwarten würde. Sie begann eine Lehre als Schuhverkäuferin. Bereits nach einem halben Jahr gab sie diese wieder auf, denn das Herumstehen im Laden und die geheuchelte Freundlichkeit waren nicht nach ihrem Geschmack. Es war definitiv nicht ihr Metier und nur als Notlösung geplant gewesen. Eigentlich hätte sie gerne ihrer Leidenschaft nachgelebt und wäre lieber Fotografin oder Reiseleiterin geworden, aber eine Lehrstelle war nicht zu finden, und so gab sie ihren Traum bald einmal enttäuscht auf. Vater Anderegg war nicht gerade begeistert, als sie ihm stockend mitteilte, dass sie ihre Lehre abbrechen würde. Die Familie Anderegg war nicht auf Rosen gebettet, und die Unterstützung für Sophie fiel bescheiden aus. Kari Anderegg gab nach dem Lehrabbruch seiner Tochter unmissverständlich zu verstehen, dass sie von jetzt an selber für sich zu sorgen hatte. Immerhin wusste Kari, dass seiner Sophie bei Familie Erler für den Notfall ein Zimmer zur Verfügung stand. Sollte aus Sophie nichts Rechtes werden, würde dies Kari wohl nur schlecht verkraften. Und hätte er geahnt, dass seine Tochter nach dem Lehrabbruch in einer Bar arbeitete, wäre er nicht gerade begeistert gewesen. Klar betrachtete Kari wie alle im Dorf die hübschen, langen Beine der Serviertochter im Hirschen, allerdings war das selbstverständlich ganz etwas anderes. Und seine Tochter war für Besseres geboren, als sich von Männern in Kneipen anmachen zu lassen.
Sophies erster Barjob führte sie als Aushilfe in das Berner Mattequartier, in die Crazybar. Sie lernte, auf die Gäste einzugehen, Betrunkene abzuwimmeln, ein Auge auf den Umsatz zu halten, sie lernte sogar, geduldig zuzuhören.
Nach knapp einem Jahr wurde es ihr in der Crazybar zu langweilig. Sie wechselte in die elegantere Mugglibar an der Gerechtigkeitsgasse. Jeder mochte die schlagfertige und lebenslustige Sophie, die stets einen Spruch auf den Lippen hatte und wusste, was bei den Gästen ankam. Bern schien ihre zweite Heimat zu werden, es gefiel ihr ausgezeichnet. Sie fühlte sich wohl in dieser kleinen, behutsamen Stadt. Nach Toss würde sie bestimmt nicht mehr zurückkehren, nie mehr! Die Berge, die Leute, die Umgebung, ihr war dies alles zu eng geworden. «Wir haben es immer gesagt, Sophie ist ein Fegnest. Sie hält es nirgends lange aus und wird wohl an keinem Ort Sitzleder haben», tuschelten die Leute hinter ihrem Rücken. Vermutlich hatten sie mit ihrem Getuschel sogar Recht.
So lebte Sophie mehr oder weniger zufrieden in Bern. Ab und zu telefonierte sie mit ihrer Mutter. Die Gespräche waren meist sehr kurz. Hatte sie zufällig ihren Vater am Telefon, was selten genug vorkam, brummelte er etwas wie: «Hoffentlich geht's dir gut, Söfel – melde dich wieder.» Söfel durfte nur ihr Vater zu ihr sagen, das war sein Privileg. Kari Anderegg mochte eigentlich gar nicht so genau wissen, was seine Tochter arbeitete. Er liess sie gewähren. Oft teilte er seine Sorgen um Sophie Gian mit, und dieser lachte meist: «Was machst du dir für Sorgen, mit ihrem harten Tosserkopf wird sich Sophie überall durchsetzen. Hör auf zu grübeln und nachzudenken. Die wird es noch weit bringen.»
Sophies Arbeit in der Bar begann jeweils um siebzehn Uhr und dauerte meistens bis in die frühen Morgenstunden. Tagsüber schlief sie bis in den Nachmittag hinein. Dieser Rhythmus tat ihr gar nicht gut, sie wusste es. Der Alkohol wurde ihr ständiger Begleiter, der immer mehr Platz einnahm.
«So kann das nicht weitergehen mit mir», beschloss sie eines Tages, als sie mit einem Brummschädel erwachte. Sie fühlte sich elend und leer und kehrte bald einmal der Mugglibar und dem Nachtleben den Rücken zu. Ein neuer Job musste her, aber wo? Sophie fand einen als Kassiererin im Coop, aber auch hier würde sie es nicht lange aushalten. Dies wusste sie schon, als sie ihren ersten Arbeitstag beendete. Das stundenlange Sitzen in der engen, zügigen Kabine machte ihr wenig Spass, und die mürrischen Kunden nervten sie bald einmal. Im Grunde genommen war es wie im Schuhladen, nur dass ihr am Abend nicht die Beine wehtaten, sondern der Rücken. Sophie schien rastlos und ständig auf der Suche nach dem richtigen Job, auf der Suche nach dem Glück, nach dem richtigen Partner und gleichzeitig auch noch nach dem Sinn ihres Lebens zu sein. Jeder mochte sie, die Leute fassten gleich Zutrauen zu ihr. Mit ihrer humorvollen und quirligen Art fand sie sich jeweils schnell in einem Job zurecht, sie war sich für keine Aufgabe zu schade. Doch was nützte es ihr, wenn sie in ihrem Herzen unglücklich war? Ihre wahre Berufung hatte sie noch nicht gefunden. «Ich jage wohl ein Leben lang einem Traum nach», stellte Sophie immer wieder fest.
Als sie damals erwog, nach Bern zu ziehen, hatte sie Glück. Jakob vermittelte ihr ein einfaches Zimmer bei Bekannten im Breitenrainquartier. Zwar bot ihr Mutter Erler ein Zimmer in ihrem Haus in Wabern an, doch Sophie lehnte dankend ab. Es war ihr zu nahe bei Jakob, zu nahe bei den Erlers und damit zu nahe bei der Familie in Toss. «Du wirst immer ein Zimmer bei uns haben», äusserte sich Martha Erler damals. Sie sorgte sich um die junge Frau, behielt es aber für sich.
Doch Sophie entschied sich für die einfache Bleibe bei Frau Meister, die Jakob ihr empfohlen hatte. Das einfache Zimmer war mit einem breiten Bett, einem alten Bauernschrank, einem Stuhl und einem kleinen Tisch möbliert. Sophie kannte nichts anderes. Es war ein heller Wohnraum, und die Aussicht auf die Stadt liess Sophies Herz jedes Mal höher schlagen, wenn sie am Morgen zum Fenster hinausblickte. Bad und Küche durfte sie mitbenutzen. Die Schlummermutter, Rosina Meister, eine herzliche, ältere Dame, genoss es, mit jungen Menschen zusammen zu sein.
Sophie beglich die Miete pünktlich, es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich nach einem anderen, besseren Zimmer umzusehen. Es gefiel ihr bei Frau Meister, bei ihr fühlte sie sich geborgen, ohne zu viel Familienanschluss zu haben, der ihre Freiheiten einschränken würde. Manchmal sassen die beiden Frauen gemeinsam am Küchentisch, und Sophie erzählte Frau Meister von ihrem Alltag, von ihren Sorgen und Nöten.
Ab und zu traf sie sich mit Martha Erler zu einem Tee, dies wurde jedoch immer seltener, je besser sich Sophie in der Stadt zurechtfand. Zudem lebte die Familie Erler neuerdings immer öfter in Toss, wo sie im Hause Anderegg die Ferienwohnung mietete.
Eines Abends kam Sophie ziemlich müde und niedergeschlagen von ihrem freien Tag nach Hause. Sie war missmutig durch die Stadt gebummelt, hatte sich eine neue Frisur machen lassen und hatte sich Dinge gekauft, die sie gar nicht brauchte. «Frustshoppen», dachte sie, als sie ihre Einkäufe auspackte.
Sophies Gedanken wanderten immer öfter nach Toss, doch ihr Stolz würde es nicht zulassen, wieder ins Dorf zu ziehen. Sie war froh, als sie Frau Meister vor dem Haus begegnete.
«Guten Abend, Frau Meister, haben Sie einen Moment Zeit für mich?», rief sie ihrer Schlummermutter zu.
«Wohl viel Geld ausgegeben heute bei den vielen Tüten?», stellte Rosina Meister schmunzelnd fest.
«Klar habe ich Zeit für Sie. Was gibt's? Ärger im Geschäft? Schwierigkeiten mit den Männern? Weltuntergangsstimmung?»
«Nichts geht mehr, nicht vorwärts, nicht rückwärts. Ich habe den Eindruck, mich im Kreise zu drehen», gab Sophie zu.
«Wird wohl nicht so schlimm sein.»
«Das kann auf die Länge nicht so weitergehen. Ich jobbe herum, habe keinen Beruf, komme keinen Schritt weiter. Fühle mich unzufrieden, und es ist nur noch mühsam.»
«Das ewige Hin und Her ist tatsächlich nichts für Sie, da haben Sie Recht.»
«Aber Frau Meister, ich muss meinen Lebensunterhalt bestreiten, und in meinem Alter beginnt man nicht einfach mit einer Lehre.»
«Wieso nicht? Die Sophie Anderegg findet eine Lehrstelle, wenn sie das will.»
«Ich weiss nicht so recht.» Sie fuhr sich mit den Fingern durch die schwarzen Locken ihrer neuen Frisur. Ein Besuch beim Coiffeur gab ihr das Gefühl, jeweils den ersten Schritt zu einer Veränderung gemacht zu haben, auch wenn dies meist unbewusst geschah.
«Ach, kommen Sie, machen Sie nicht so ein griesgrämiges Gesicht, das passt eh nicht zu Ihnen und zu Ihrer neuen Frisur. Haben Sie Lust auf ein Glas Wein?»
«Aber nur, wenn es Ihnen keine Mühe macht.»
Frau Meister lachte abermals und zog sie in die Küche.
Die gemütliche Küche erinnerte Sophie an ihr Zuhause in Toss, und sie fühlte sich hier ausserordentlich wohl.
«Setzen Sie sich doch», forderte Rosina Meister sie auf.
Frau Meister entkorkte einen Weissen, stellte etwas Käse und Brot auf. Sie füllte die beiden Gläser. «Auf Ihr Wohl, Sophie.»
«Danke, Frau Meister, das ist wirklich lieb von Ihnen, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.»
«Ist doch selbstverständlich, Sophie.»
«Um ganz ehrlich zu sein, am liebsten würde ich in einem Reisebüro arbeiten oder eine Lehre als Fotografin absolvieren. Aber entweder gibt es keine Stelle oder ich bin sicher schon viel zu alt dafür.»
Frau Meister lachte nicht, betrachtete Sophie aufmerksam, während ihr Blick in die Ferne schweifte. Sophie mochte die Gespräche mit der kleinen, rundlichen Frau sehr. Sie war nicht aufdringlich und neugierig, sie war bescheiden und liess Sophie gewähren. «Aber Sophie», nahm sie das Gespräch wieder auf. «Man ist nie zu alt, um etwas zu lernen.» Wieder sah sie Sophie nachdenklich an.
«Hmm ...», erwiderte Sophie nur. Sie sassen nun schweigend am Tisch und genossen den süffigen Wein.
«Fragen Sie doch einfach mal in einem Reisebüro oder bei einem Fotografen nach, ob sie eine Stelle als Praktikantin frei hätten», sagte Frau Meister übergangslos.
«Wie stellen Sie sich das vor? In meinem Alter?»
«Wo sind nur Ihr Mut und Ihre Frechheit geblieben?»
«Stimmt, da haben Sie Recht. Nicht überlegen, einfach machen», erklärte sie wild entschlossen.
«Abgemacht, Frau Meister, gleich morgen mache ich mich auf die Suche nach einem Praktikum, und das Erstbeste, was mir begegnet, nehme ich.»
«Aber nicht den Erstbesten», scherzte Rosina Meister.
«Prost.»
Sophie fühlte sich schon wieder etwas besser. Ob es am guten Weissen lag oder an der guten Idee, etwas zu unternehmen, ein Praktikum zu suchen, wusste sie nicht. Egal. Sie fühlte sich lebendig und unbeschwert, das hatte sie lange vermisst. Sie wäre nicht Sophie Anderegg, wenn sie dies nicht packen würde. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann gab es für sie kein Halten mehr. Was würde Jakob dazu sagen, wenn er wüsste, wie sie jetzt voller Tatendrang war? In solchen Momenten vermisste sie Jakob.
Wie gerne hätte sie mit ihm geteilt, ihm erzählt, was sie im Moment bewegte und was sie plante.
«Danke, Frau Meister, für den guten Wein und Ihren Tipp», meinte Sophie aufgekratzt, bevor sie sich verabschiedete und in ihr Zimmer schwebte. Für einmal freute sie sich aufs Aufstehen am nächsten Morgen.
Früh zog sie los. Sie erinnerte sich an Alain Julmy, einen Gast aus der Mugglibar, der ein gut gehendes Reisebüro in der Länggasse führte. Nichts wie hin. Schon stand sie vor dem grossen Schild «Julmy Reisen, spezialisiert für Spanien und Europareisen».
Sophie fand sofort einen Draht zu Alain. Dieser erinnerte sich gerne an die aufgestellte und quirlige Sophie hinter dem Tresen. «Sie kann es gut mit Leuten», überlegte er, «sie kommt bei den Kunden bestimmt gut an.»
«Ich kann Ihnen eine Stelle als Praktikantin anbieten. Ich glaube, Sie haben etwas, auf das unsere Kunden ansprechen werden», sagte Alain Julmy beim Vorstellungsgespräch.
Eine strahlende Sophie wirbelte auf der Mittelstrasse heimwärts: Ein neues Abenteuer würde in wenigen Tagen beginnen.
Die Arbeit im Reisebüro gefiel Sophie. Die Abwechslung, neue Begegnungen, fremde Länder, die unterschiedlichen Menschen. Sophie schwelgte. Das fiel auch Julmy auf. Nach drei Monaten bot er ihr an, eine Lehre bei ihm zu absolvieren. Sophie war ausser sich vor Freude. Sie hätte die ganze Welt umarmen können.
Sophie nutzte ihre Chance, in der Schule war sie eine der Besten. Nebenbei besuchte sie einen Englischkurs. Sophie war mit ihrer wasserstoffblonden, frechen Kurzhaarfrisur nicht wiederzuerkennen. Sie, die nie eine Streberin war, die keine Lust hatte, sich festzulegen, die am liebsten mit Menschen redete und sich amüsierte, büffelte fleissig für den Abschluss.
Der Erfolg war ihr sicher, drei Jahre später schloss sie die Ausbildung mit Bestnoten ab. Danach suchte sie eine Stelle in Zürich. Alain Julmy schrieb ihr ein hervorragendes Arbeitszeugnis. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge nahm sie Abschied von Bern.
Die Trennung von Frau Meister fiel ihr schwer, Tränen flossen, als sie mit Sack und Pack reisebereit vor der Türe stand. Ein letztes Mal schloss Frau Meister Sophie in die Arme und strich ihr über ihre Haare. «Machen Sie’s gut, Sophie. Ich freue mich, wenn ich Sie gesund wieder sehe», sagte sie, mühsam um Fassung ringend. Sophie nahm den vollbepackten Rucksack und schwang ihn über ihre Schultern, nahm den Koffer, und ohne sich nochmals umzudrehen, marschierte sie hinaus in ihr neues Leben. Zurück in ihrer Küche wischte sich Frau Meister die Tränen weg. Sie hatte Sophie in all den Jahren lieb gewonnen wie eine eigene Tochter.