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Kapitel 5

Sophie hatte sich schnell wieder in Zürich eingelebt. Sie freute sich, nach dem Londonabenteuer wieder zu Martina zurückzufinden. Diese empfing die Ausreisserin mit offenen Armen und machte ihr keine Vorwürfe. Klar war Martina neugierig, wie es Sophie ergangen war, doch sie liess ihr Zeit, von Schadenfreude jedenfalls war nichts zu erkennen, vielleicht eine gewisse Genugtuung, dass Sophie wieder im Büro war. Wie wenn sie nie weg gewesen wäre, nahm Sophie ihre Arbeit bei Maruc Travel wieder auf und war ganz glücklich, wieder in Zürich zu sein. Die beiden Frauen verstanden sich wie Schwestern, wenn auch Martina ab und zu den Kopf schüttelte, weil die quirlige Sophie zuweilen ungeduldig wurde, wenn sie etwas nicht begriff.

Nach dem tollen Skiwochenende mit Jakob fühlte sich Sophie wie neu geboren. Die alte Vertrautheit blieb unverändert, und sie war froh, Jakob die Geschichte von Max erzählt zu haben. Aber was hatte sie denn über Jakob erfahren? Es war einfach zu wenig Zeit geblieben, um über seine Projekte zu reden. Das schlechte Gewissen regte sich in Sophie. Ahnte sie, wie und was Jakob fühlte? Oder war er bloss ihr Zuhörer? «Ach was, wenn er mir etwas erzählen will, wird er dies auch tun», schnitt Sophie die Gedanken ab.

Auf dem Arbeitsweg am Montagmorgen ging sie nochmals die kurze Zeit in Toss durch: Das Wochenende war so schnell verflogen, dass sie nicht einmal Zeit gefunden hatte, um Gian zu treffen. Wie es ihm wohl ging? Gerne wäre sie mit ihm im Hirschen zusammengesessen, aber die Zeit war einfach zu knapp geworden; bestimmt ein andermal. Sie würde gewiss wieder nach Toss reisen und sich dann Zeit für ihn reservieren. Vielleicht würden sie es schaffen, gemeinsam in die Scherzlihütte zu wandern.

«Hattest du ein gutes Wochenende?», begrüsste sie Martina fröhlich, als sie das Reisebüro aufschlossen.

«Ja, es war toll, die Skitour, das Picknick im Schnee, das schöne Wetter, die Aussicht. Es war einfach traumhaft.» Sie schwärmte in den höchsten Tönen vom Wochenende.

«Du warst doch mit Jakob zusammen?»

«Ja, das war ich.» Für einen kurzen Moment betrachtete sie Martina verblüfft.

«Wieso fragst du mich?»

«Weil du so aufgestellt und glücklich bist. Bist du in ihn verliebt?» Für einmal war ihr strenger Zug um den Mund verschwunden.

«Ach was, ich bin doch nicht verliebt. Jakob ist ein alter Kumpel und mein Sandkastenfreund. Ich mag ihn, aber als Mann? Kann ich mir nicht vorstellen.»

Martina warf Sophie einen kritischen Blick zu. Sie schien nicht ganz überzeugt.

«Und du, hattest du auch ein gemütliches Wochenende?», wich Sophie aus. Sie verspürte absolut keine Lust, mit Martina über Jakob zu sprechen, das war für einmal etwas, das sie für sich behalten wollte.

«Ach, wie immer. Ich habe gearbeitet, und das ist in Ordnung so», meinte Martina etwas betrübt. Sie mochte Sophie das schöne Wochenende von Herzen gönnen, aber irgendwie spürte sie einen Anflug von Neid auf Sophies unbekümmerten Lebensstil. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und sah die Morgenpost durch.

Der Arbeitstag schien unendlich lang und wollte nie enden. Immer wieder dachte Sophie an Jakob. Dabei war sie absolut nicht verliebt, wenigstens redete sie sich das ein. Jakob war ein guter Freund und ein herrlicher Zuhörer. Basta! In der Mittagspause schrieb sie ihm eine Postkarte und bedankte sich für das wundervolle Wochenende, und damit war für sie dieser Ausflug erledigt. Als sie die Karte einwarf, fühlte sie sich erleichtert.

Der Alltag hielt Einzug, die Erinnerung an das angenehme Skiwochenende verblasste immer mehr. Sophie und Martina hatten genug zu tun, auch ohne sich mit störenden Männergeschichten beschäftigen zu müssen. Zwischendurch erkundigte sich Martina nach den Tosser Freunden. «Hast du wieder einmal etwas von Jakob gehört?», fragte Martina eines Tages unvermittelt.

Sophie, die gerade Reisepapiere ausfertigte, sah Martina völlig perplex an.

«Wieso fragst du?»

«Kam mir einfach so in den Sinn.» Martina wies auf einen Prospekt für Winterferien hin, der heute mit der Post gekommen war.

Sophie schaute verwundert auf: «Du magst Wintersport? Das wusste ich gar nicht!»

•••••

Die Tage, Wochen und Monate plätscherten dahin. Eigentlich wäre Sophie im Frühjahr gerne nochmals nach Toss gefahren, aber irgendwie hatte es sich nicht ergeben, es war immer so viel los. Im Sommer nutzte sie eine günstige Gelegenheit, für zwei Wochen nach Teneriffa zu fliegen; wieder verschob sie den Gedanken an Toss. Im Herbst war sie für eine Studienreise nach Lanzarote eingeschrieben, und so blieb erneut keine freie Zeit mehr, um nach Toss zu reisen. Zu selten besuchte sie ihre Eltern. Ihr Leben war ihr schon wieder langweilig geworden. Manchmal schrieb sie Jakob und Gian eine Postkarte. In der hektischen Zeit der Reisesaison, die Sophie genau wegen des Trubels mochte, gestand sie sich endlich ein, dass sie Toss vermisste. Die Ruhe und die Abgeschiedenheit fehlten ihr öfter, als ihr lieb war. Allerdings würde sie dies nie zugeben.

Die flippige und quirlige Sophie brauchte doch keine Ruhe! Es erinnerte sie an damals in Bern, als sie in der Bar arbeitete. Trotz aller Betriebsamkeit wurde sie stiller und stiller. Sie wusste genau, dass es wieder Zeit war, aufzubrechen. Eine Veränderung stand bevor. Aber was? Eine neue Frisur, eine neue Haarfarbe? Sie wusste es nicht.

Sophie wurde immer mürrischer und unzufriedener. Die Arbeit machte ihr nach wie vor Freude, sie arbeitete auch mehr. «Ich bin beinahe schon wie Martina», schoss es ihr durch den Kopf. Aber in ihrem Leben ausserhalb des Reisebüros war es ihr einfach zu öde. Auch Martina fiel auf, dass Sophie immer durchsichtiger wurde.

Einige Tage nach Sophies Rückkehr aus Lanzarote hatte Martina sie genug leiden gesehen: «Was ist eigentlich mit dir los?»

Sophie zuckte zusammen. «Nichts. Wieso fragst du?»

«Etwas stimmt nicht mit dir», hakte Martina nach.

Sophie war den Tränen nahe. Sie wusste ja selber, dass etwas nicht stimmte. Sie wusste nicht so genau, was es war, das sie dermassen bedrückte, und jetzt hatte sie keine Lust, mit Martina darüber zu reden.

«Ich weiss es selbst nicht, bitte, lass mich in Ruhe», meinte Sophie eine Spur zu energisch. Martina erschrak, schwieg betroffen.

Nach einem quälenden Schweigen brach es aus Sophie heraus.

«Mein Leben ist langweilig. Alle haben den Eindruck, dass ich ein ausgeflipptes Huhn bin. Eine, die immer einen Spruch auf den Lippen hat. Eine, die keine Probleme hat. So ein Mist. Verdammt noch mal, irgendetwas läuft schief in meinem Leben. Meine ehemaligen Schulkolleginnen sind verheiratet und haben Kinder und führen ein stinknormales Leben mit Haus, Hund, Mann und Geissen hinter dem Haus.» Sophie redete sich in Rage.

«Dabei warst du doch in diesem Jahr bereits zweimal im Urlaub, davon können andere nur träumen. Keinen feurigen Spanier auf Lanzarote kennen gelernt?», schmunzelte Martina trotz der ernsten Situation.

«Ach, die können mir gestohlen bleiben, die sind doch nicht für den Alltag.»

Sophie sass mit hochrotem Kopf und zerzaustem Haar hinter dem Schreibtisch. Martina musste lachen, denn Sophie sah trotz aller Tragik einfach zu komisch aus. Schliesslich lagen sich die beiden Frauen mitten im Büro in den Armen und lachten befreiende Tränen. «Triff dich doch wieder einmal mit Jakob, der tut dir gut», meinte Martina, als sie die Sprache wiederfand.

«Ach was, das hat doch nichts mit Jakob zu tun. Da bin ich mir sicher.»

Aber gerade deshalb wohl dachte Sophie immer wieder an ihn.

Es war immerhin schon über ein Jahr, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Genau, rechnete Sophie nach, damals, als sie gemeinsam zur Scherzlihütte gewandert waren. Damals hatte sie ihm von Max erzählt. Damals waren sie sich so nahe. Ja, damals.

«Ach übrigens, Martina, ich überlege, ob ich im nächsten Frühling für ein Jahr nach Lanzarote will», lenkte sich Sophie von den Gedanken an Jakob ab.

Martina war nicht weiter überrascht, denn sie ahnte, dass Sophie immer wieder ausbrechen und nach einer gewissen Zeit wieder zurückkehren würde. Der Job bei Maruc Travel jedenfalls war ihr sicher.

«Du wirst hier immer einen Arbeitsplatz finden, wenn du zurückkommst, Sophie. Wann wirst du fliegen? Heute, morgen oder erst in einem Monat? Und was willst du dort machen? Millionäre angeln? Einen Liebhaber suchen? Als Sängerin auftreten?»

«Behüte mich vor Sängerinnenkarrieren, aber einen Millionär angeln tönt doch gut. Eigentlich habe ich keine Ahnung. Ich werde mich treiben lassen, Spanisch lernen und die Insel erforschen. Es wird sich bestimmt etwas ergeben. Da habe ich keine Angst, und wenn ich wieder in einer Bar arbeiten muss. Feurige Ferien-Spanier gibt's sicher genug, hast du ja selber gesagt», meinte sie lächelnd.

Damit war das Thema abgehakt. Martina würde sich einmal mehr nach einer Ersatzanstellung umsehen müssen, aber das hatte noch Zeit.

«Wirst du Jakob vor deiner Abreise nach Lanzarote noch treffen?»

«Das wäre schön, aber ich weiss nicht so recht. Sag mal ehrlich, Martina, wieso interessierst du dich dermassen dafür, ob ich Jakob treffe oder nicht? Gib zu, er gefällt dir!»

«Nein, einfach so, ich kenne ihn ja gar nicht.» Ihre Augen bekamen einen eigenartigen Glanz, doch das sah Sophie nicht mehr. Sie war mit ihren Gedanken schon in Lanzarote und weit weg von Toss.

«So, nun ist aber genug für heute. Feierabend! Morgen ist auch noch ein Tag. Komm, wir gönnen uns einen Feierabenddrink.» Martina nahm ihren Stapel Reiseunterlagen und schmiss ihn in ihre Schublade. Sophie tat es ihr gleich, und so verliessen sie nach einem kurzen Blick in den Spiegel und auf den aufgeräumten Tisch das Büro und spazierten Richtung Carltonbar.

•••••

In Sophies Gedanken spielte Toss, ihr Dorf, eine immer grössere Rolle. Seltsam, früher war es ihr zuwider, ins enge Dorfleben zurückzukehren. Aber seit sie oft im Ausland oder in der Stadt lebte, zog es sie stärker nach Toss zurück. Jakobs Eltern, die Erlers, hielten ihr das alte Zimmer in der Casa Anderegg frei, und sie konnte ein- und ausgehen, wie es ihr beliebte. Irgendwie gelang es Sophie aber nicht, Jakob im Dorf anzutreffen, entweder war er auf Geschäftsreise, oder wichtige Termine hielten ihn andernorts fest. Doch jetzt, kurz vor der Abreise und dem langen Aufenthalt in Lanzarote, wollte sie Jakob und Gian mit ihrem Besuch überraschen und Abschied von ihren Männern nehmen. Aber es war wie verhext. Sophie hatte sich ein paar Tage früher als geplant aus dem Geschäft verabschiedet und war mit Martinas Wagen nach Toss gefahren. Jakob war nicht im Dorf, stellte sie fest. Ihre Enttäuschung überraschte sie selber am meisten. Auch Gian war nirgends.

«Die beiden sind heute ans Sechseläuten nach Zürich gereist. Gian hat ein paar Reisechecks gewonnen, und den Böögg wollten sie schon lange einmal explodieren sehen», bedauerte Mutter Erler. «Sie übernachten bei einem Studienfreund von Jakob. Es reicht nicht mehr auf das letzte Postauto, und mit dem Auto nach Zürich, lieber nicht!»

Sophie zuckte die Schultern. Dann halt nicht.

«Ich verspreche dir, ich werde Gian und Jakob deine Abschiedsgrüsse übergeben», tröstete sie Jakobs Mutter. «Du kannst aber bis morgen warten, dein Zimmer steht immer für dich bereit! Sie kommen mit dem Elfuhr-Postauto, bleib doch zum Nachtessen hier.»

Doch Sophie hatte keine Lust, in Toss auszuharren, und fuhr schon bald wieder zurück. Nachdenklich betrachtete sie sich im Rückspiegel, bevor sie losfuhr. «Es muss wohl eben nicht sein», stellte sie enttäuscht fest.

•••••

Einmal mehr war es Sophie nicht gelungen, Jakob zu treffen. Auch Gian hätte sie gerne noch vor ihrer Abreise nach Lanzarote gesehen. Der eigenwillige Gian mit seiner Bauernschläue fehlte ihr. Oft war sie mit Gian vor der Scherzlihütte auf der Bank gesessen, sie hatten ins Tal hinuntergeschaut und über Gott und die Welt philosophiert. Er erzählte ihr jeweils die neuesten Dorfgeschichten, und so war sie stets auf dem Laufenden, was in Toss geschah. «Immer weniger bleiben im Dorf, viele gehen weg, und junge Leute kommen keine mehr nach», hatte Gian beim letzten Besuch geklagt.

Das Leben in Toss und die Liebe zum Dorf verband die beiden, von Kind auf hatte Gian sie durch das Leben begleitet. Geheiratet hatte er nie, erinnerte sich Sophie. «Ich mag alle Frauen», pflegte er jeweils zu sagen. Er spürte, dass zwischen Sophie und Jakob mehr war, doch dies hätte sie nie zugegeben, und er sprach sie auch nicht darauf an.

Sophies Gedanken schweiften nach Zürich. In der Reiseagentur wich sie dem Thema Jakob aus. Auf bohrende Fragen hatte sie keine Lust. Obwohl Martina neugierig war, respektierte sie Sophies Schweigen. Für Sophie war Jakob einfach ein guter Freund, auch wenn sie sich selten sahen, mehr nicht, basta!

Das Datum der Abreise nach Lanzarote kam viel zu schnell. Wie immer waren die letzten Tage davor hektisch, Tausende Sachen mussten noch erledigt werden und wurden immer dringender. Im Büro herrschte eine gereizte Stimmung, denn für Martina und Sophie nahte ein weiterer Abschied, und beide mochten keine grossen Szenen. So erledigte Sophie ihre letzten Pendenzen, so gut es eben ging. Martina verzichtete darauf, einen Ersatz für Sophie einzustellen, sie rechnete fest damit, dass Sophie bald einmal zurückkehren würde. Bis dahin würde sie es bestimmt alleine schaffen.

«Wir bleiben in Kontakt», äusserte Sophie aufrichtig, als sie das Büro am letzten Arbeitstag verliess.

«Klar doch. Melde dich, wenn du Zeit hast.» Die beiden Frauen umarmten sich freundschaftlich. Schliesslich riss sich Sophie los, behielt das Klingeln der Türglocke als Erinnerung im Ohr.

Sie eilte leichtfüssig nach Hause, ein neues Abenteuer konnte beginnen. Noch blieb ein wenig Zeit, um zu packen und den neuen Mietern, zwei Psychologie-Studentinnen, den Schlüssel zur Wohnung zu überreichen. Sophie war froh, ihre Wohnung im Niederdorf behalten zu können, und die Studentinnen waren begeistert, eine Übergangslösung gefunden zu haben. Zumal die Wohnung in der Nähe der Uni lag und mitten in der Ausgehmeile der Stadt. In einem Jahr würden sie ihr Studium abschliessen, und dann wollte auch Sophie wieder zurückkehren.

Es war ihr letzter Abend in Zürich. Aufgeregt und voller Vorfreude auf ihren neuen Lebensabschnitt ging sie aussergewöhnlich früh ins Bett. Sophie schlief schlecht und schreckte oft auf, denn keinesfalls wollte sie ihren Flug verpassen. Ein Blick auf den Wecker liess sie jeweils zurücksinken. Viel zu früh stand sie mit Sack und Pack am Flughafen und freute sich auf die feurige Energie der Insel. Sophie schien wie ausgewechselt. Die trübe Stimmung aus dem Reisebüro war verflogen: «Lanzarote, ich komme», schrie sie innerlich.

•••••

«Das Flugzeug nach Arrecife steht zum Einsteigen bereit», hörte sie endlich eine verzerrte Stimme aus der Lautsprecheranlage plärren. Kurze Zeit später schaute Sophie zum kleinen Fenster hinaus. Hoch über den Wolken flog sie der Sonne entgegen.

Während des Fluges holte Sophie etwas Schlaf nach, sie erwachte erst kurz vor der Landung. Nach der Zollkontrolle nahm sie ihr Mietauto in Empfang und fuhr an den Touristenort Costa Teguise. Das Appartement hatte sie bereits von der Schweiz aus gebucht. Sollte es ihr nicht gefallen, würde sie etwas anderes suchen. Wie lange sie den Mietwagen behalten würde, wusste sie noch nicht. In den ersten Wochen waren Faulenzen, Lesen und Ruhe angesagt. Wenn auch Costa Teguise für ihren Geschmack etwas gar touristisch war, gewöhnte sie sich doch rasch an die unbeschwerte Ferienstimmung in diesem Dorf. Nach drei Wochen langweilte sie sich und beschloss, sich nach einer Arbeit umzusehen.

Die kleine, praktisch eingerichtete Wohnung passte Sophie. Ein Gästebett stand ebenfalls zur Verfügung. «Vielleicht bekomme ich Besuch», mutmasste sie. «Jakob vielleicht oder Gian?» Mal sehen, sie liess sich überraschen.

In der Carasbar mitten im Dorf trafen sich die Einheimischen, aber auch die Saisonangestellten, und Sophie fühlte sich mittendrin gut aufgehoben. César, ein etwas älterer, runder und gemütlicher Besitzer eines Busunternehmens, war oft Gast in der Carasbar.

«He Juan, wer ist die junge Dame dort drüben?», rief César zum Barmann hinüber.

«Meinst du die schöne Sophia? Sie kommt aus Suiza», gab Juan bereitwillig Auskunft.

«Tuschelt ihr über mich?» Sophie kam zur Theke.

«César will dich kennen lernen», lachte Juan.

«So, so. Hier bin ich.»

«Ich suche jemanden, der die Ausflüge durch die Vulkanlandschaft begleitet, und du sprichst deutsch?»

«Ja, ich spreche deutsch, aber schlecht spanisch, und die Landschaft kenne ich auch noch nicht auswendig.»

«Ist nicht ein Problem, andere sprechen gut spanisch und kennen die Landschaft», lachte César laut.

«Sophia wird die Leute um den Finger wickeln», schäkerte Juan und strahlte Sophie an.

César und Sophie wurden sich schnell einig, und so begleitete sie schon einige Tage später ihre ersten deutschen Reisegruppen durch Lanzarote.

Es war Juni. Die Tage wurden länger, und Scharen von Feriengästen belagerten die Insel. Sophie gefiel es, Gäste durch die Vulkanlandschaft zu führen. Sie war beliebt, und dank ihrer charmanten und aufgestellten Art erhielt sie viele Komplimente und grosszügige Trinkgelder für ihre Arbeit.

Ab und zu schrieb sie Martina eine Karte und schwärmte von der Insel. Keine Zeit für heissblütige Spanier. Keine Zeit, um Trübsal zu blasen. Sie hätte Martina gerne mehr geschrieben. Aber nachdem sie den Job bei César angenommen hatte, wurde ihre Arbeit ständig mehr, und sie kam nicht dazu, Martina ausführlicher zu schreiben. Am Anfang war es zweimal pro Woche, dass sie eine Rundfahrt begleitete. Aber es wurden immer mehr Fahrten, und so war sie bald öfter im Einsatz, als ihr lieb war. Martina vermittelte ihr ab und zu Gäste, sodass Sophie oft einen Gruss aus der Schweiz erhielt. Einmal brachte ihr eine ältere Dame, die bei Maruc Travel ihre Reise buchte, eine grosse Tafel Nussschokolade mit. Sophie war gerührt.

Die Tage wurden kürzer. Es war noch warm, aber der Sommer war vorbei, die Aufträge gingen zurück, es wurde ruhiger auf der Insel. Die Feriengäste weilten längst wieder in ihrem Alltag.

So blieb Sophie endlich Zeit für ihre fotografischen Streifzüge quer über die Insel. Die Sujets flogen ihr nur so zu. Zudem fand Sophie endlich wieder etwas Musse, um sich auszuruhen und ihren Gedanken nachzuhängen.

Oft sass sie auf ihrer Lieblingsbank auf dem kleinen Platz vor dem Appartement, genoss den angenehmen Herbstabend. Sie freute sich auf die Winterzeit, denn der Winter in Lanzarote war wesentlich milder als in der Schweiz. Die Temperaturen betrugen rund 20 Grad am Tag, und der Regen hielt sich in Grenzen. In Toss würde schon bald der erste Schnee fallen. «Wie es wohl Jakob, Gian und meinen Eltern gehen mag?», sinnierte Sophie.

«Ich bin Helga Adhira Hell. Ihre neue Nachbarin. Darf ich mich zu Ihnen setzen?»

Sophie schrak aus ihren Gedanken auf. Ehe sie etwas sagen konnte, sass Helga Adhira Hell bereits neben ihr. Helga sprudelte wie ein Wasserfall. Sie liess Sophie keine Chance, etwas zu erwidern. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie die seltsame Frau, die sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt hatte. Das war im Moment wohl nicht von Interesse.

«Wissen Sie, ich komme im Winter immer auf diese Insel, weil es so angenehm ist, jedes Jahr, um mich von meinem Alltag zu erholen. Ab Oktober leite ich Kurse hier in Lanzarote. Die spirituellen Menschen wollen mit geistiger Nahrung erfüllt werden. Besuchen Sie mich doch im Zentrum Adhira. Ich habe mir das Zentrum für spirituelle Lebensberatung vor einigen Jahren hier in Costa Teguise aufgebaut. Ein Kurs in Reiki würde Ihnen gut tun», sprudelte Helga Adhira Hell weiter.

Das Zentrum war Sophie kein Begriff, und von Reiki hatte sie ebenso wenig Ahnung wie vom Geistheilen. Sophie lächelte und schwieg höflich.

Sie betrachtete die grosse, blonde Helga aus den Augenwinkeln, während sie mit ihren Gedanken weit weg war. Helga Adhira Hell war ihr nicht geheuer, und eine innere Stimme mahnte sie, vorsichtig zu sein. Jedenfalls gelang es ihr nicht, den Wasserfall an Worten zu unterbrechen. Jedes Mal, wenn sie einen Anlauf nahm, etwas zu sagen, sprach Helga Adhira Hell schnell und laut weiter. Sie erzählte von ihren Kursen, von ihren Kunden, von ihrer Arbeit. Sie erzählte von ihrem Alltag in Hamburg. Sophie erfuhr, ohne es zu wollen, dass sie geschieden war und wohlhabend. Ihre beiden Kinder waren längst erwachsen und aus dem Haus, nur so konnte sie es sich leisten, ihre Zeit hier in Lanzarote zu verbringen, nie würde sie ihre Kinder alleine lassen! Sophie hörte nicht mehr zu, die vielen Worte schienen ihr belanglos und leer. Eigentlich hätte sie diesen Abend gerne für sich alleine verbracht.

«Wenn doch diese aufgeblähte Schnepfe nur endlich verschwinden würde. Ich möchte endlich meinen Feierabend geniessen», dachte Sophie. Normalerweise würde sie so jemanden einfach vor die Türe setzen, aber es gelang ihr nicht. Zu tief war sie in ihren Gedanken verloren gewesen, bevor sich diese Frau ihr aufdrängte.

Nach rund zwei Stunden konnte Sophie ein Gähnen nicht mehr unterdrücken.

«Oh, ich habe Sie doch nicht gelangweilt?» Pikiert sah Helga Adhira Hell Sophie an.

«Nein, nein», erwiderte Sophie viel zu schnell.

«Ich wollte sie nicht belästigen. Nun habe ich Ihre Zeit lange genug in Anspruch genommen. Ich bin müde, muss noch ein bisschen vorbereiten, und dann will ich noch lesen. Machen Sie auch nicht mehr zu lange, Kindchen, denn Sie müssen wohl morgen wieder früh raus.»

«Ja, das stimmt, aber …», schwindelte Sophie.

«Sehen Sie, ich wusste es doch, mir kann man nichts verbergen. Also schlafen Sie gut.» Helga Adhira Hell stand auf und verschwand in ihrem Appartement. Sophie stand ebenfalls auf und spazierte dem Meer entlang. Sie liess sich erschöpft in den Sand gleiten und bestaunte den wunderbaren Sternenhimmel, genoss die Wohltat, nur noch das Rauschen des Meeres zu hören.

Wieso musste sie genau jetzt an Jakob denken? Plötzlich verspürte sie das Bedürfnis, sich mitzuteilen. Sie eilte ins Appartement zurück, suchte eine hübsche Karte aus ihrer grossen Sammlung und schrieb ein paar Zeilen an Jakob.

Da sie schon dabei war, schrieb sie einen langen Brief an Martina, dafür nahm sie sich mehr Zeit:


Liebe Martina

Die Tage vergehen wie im Flug, und gemeldet habe ich mich schon lange nicht mehr. Ich habe schon beinahe ein schlechtes Gewissen, aber nur beinahe. Zuerst bedanke ich mich herzlich für die Gäste von dir, die auf die Inselrundfahrten mitkamen, und die vielen Grüsse, die du mir übermittelt hast. Besonders herzlichen Dank für die grosse Nussschokolade, die mir ein Gast mitbrachte. War köstlich und im Nu aufgegessen.

Es ist Herbst geworden. Die Tage werden kürzer, und die Temperaturen sind angenehm mild geworden. In den Hotels wird bereits auf Winterbetrieb umgestellt. Einen feurigen Spanier habe ich nicht gefunden, auch keinen Touristen. Stell dir vor, ich hatte kaum Zeit, mich in den Bars rumzutreiben, und leider hat mir auch keiner wirklich gut gefallen. Mal ein kleiner Flirt mit dem Handwerker, der bei mir im Appartement eine defekte Stromleitung reparieren musste, aber nichts Ernstes. Oder mit Lars, dem blonden, gut aussehenden Schweden, einem jungen Kellner, der hier in einem gut gehenden Hotel arbeitet. Er gefällt mir, ist aber viel zu jung für mich. Es ist mir nicht langweilig geworden, und trotzdem vermisse ich unser Leben in Zürich, unsere Absacker in der Carltonbar. Manchmal treffe ich mich mit den Saisonangestellten und den Einheimischen in der Carasbar, aber das ist tatsächlich nicht dasselbe wie mit dir in der Carltonbar, es ist einfach anders. Ich denke auch viel an die Berge, an Toss und Jakob und Gian. Nein, ich glaube nicht, dass ich Heimweh verspüre. Ab und zu fühle ich mich etwas einsam. In den letzten Tagen ist Helga Adhira Hell ins Appartement nebenan gezogen. Ihr Alter ist schwer einzuschätzen, um die fünfzig. Sie erzählte mir von irgendwelchen spirituellen Kursen, die sie hier auf Lanzarote geben wird. Frag mich nicht, was sie darunter versteht. Sie kommt mir etwas verrückt vor. Von Geistheilen hat sie gesprochen, von Astrologie und Tarot. Ich habe kaum etwas begriffen und auch nicht mehr zugehört, denn wenn sie mit Sprechen beginnt, redet die wie ein Wasserfall, dann schalte ich einfach ab. Kannst du dir das vorstellen?

Sie fasziniert mich und andererseits bin ich froh, sie auf Distanz zu halten. Ich finde, sie ist nicht ehrlich.

Aber glücklicherweise gibt es nicht nur seltsame Gestalten hier. Die Landschaft, die Krater, die Lava – es ist wirklich eine spezielle und energetisch aufgeladene Insel. Meine Kamera habe ich immer mit dabei, denn es gibt so viele Motive hier, wenn man von den touristischen Trampelpfaden abweicht. Ich könnte dauernd auf den Auslöser drücken. Wenn das Fotografieren nur nicht so teuer wäre. Jetzt wird die Arbeit etwas weniger, und so werde ich wohl vermehrt auf Fotopirsch gehen können.

Die Bus-Chauffeure sind nett, und ich verstehe mich ausgezeichnet mit ihnen, nein, nicht was du denkst. Sie sind alle verheiratet und haben Familie. Auch César ist nicht zu haben und zudem wäre er zu alt für mich. Ich habe recht gut spanisch gelernt. Übrigens trage ich nun die Haare ganz kurz und knallrot, so sehen mich die Reisenden immer.

Ich freue mich, von dir zu lesen, und bin gespannt, was es bei dir Neues gibt.

Mit lieben Grüssen – Sophie


Als sie fertig war, verpackte sie den Brief liebevoll, und morgen würde sie ihn als Erstes auf die Post bringen.

Sophie suchte sich eine bunte Postkarte aus mit einer Badenixe. Sie dachte an Gian und stellte sich vor, wie er im Hirschen sitzen und ihre Karte stolz herumzeigen würde:


Lieber Gian, mir geht es gut. Ich hoffe, dir geht’s auch gut. Lanzarote würde dir sehr gefallen. Hast du keine Lust, mich zu besuchen? Du hättest ein Bett zur Verfügung in meinem kleinen Appartement, und Martina könnte dir die Reise zusammenstellen. Ist das nicht eine gute Idee?

Mit lieben Grüssen – Sophie

Zufrieden stand sie vor ihrem Appartement und betrachtete den Sternenhimmel. Für einen kurzen Moment hatte sie die Begegnung mit Helga Adhira Hell vergessen.

Es war Spätherbst geworden. Die Tage waren nach wie vor angenehm, und die Nächte waren kühler geworden. Im Briefkasten lagen eine Postkarte von Martina und ein Umschlag mit dem Absender Gian. Neugierig riss sie den Brief auf und las noch im Stehen:


Hallo Mädchen

Deine Einladung hat mich sehr gefreut. Ich habe es mir lange überlegt, ob ich sie annehmen will. Jakob hat mich überredet, und so habe ich mich dazu entschlossen, dich zu besuchen. Wird ja höchste Zeit, dass ich das Meer sehe, wenn es alle so rühmen. Da es meine erste grosse Reise ist, habe ich lange gezögert. Jakob schaut zu meinem Haus und zur Scherzlihütte. Stell dir vor, ich fuhr zu Martina nach Zürich ins Reisebüro, und sie hat mich hervorragend beraten. Martina wäre auch gerne mitgekommen, ich hätte nichts dagegen gehabt. Sie ist eine patente Frau und sehr nett. Am liebsten wäre wohl auch Jakob mit nach Lanzarote mitgekommen, aber du weisst, er hat Verpflichtungen, und so wird er nun in Toss zum Rechten schauen, sodass ich am 25. November um 11.30 am Flughafen in Arrecife ankommen werde. Ich werde drei Wochen bleiben können, denn auf Weihnachten will ich wieder zu Hause sein und die Feiertage hier in Toss verbringen. Ich hoffe, dass ich dich nicht störe, sonst schlafe ich dann am Strand. Bis bald und liebe Grüsse

Gian

PS: Was muss ich zum Anziehen mitnehmen?


Sophie las die handgeschriebenen Zeilen mehrmals. Sie freute sich wie ein kleines Kind auf Gian. Gian, der noch nie aus seinem geliebten Toss weiter als bis Zürich gekommen war, der noch nie mehr als zwei Tage von zu Hause weg war, würde sie besuchen. Der Gedanke liess Sophie wie ein kleines Kind herumhüpfen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie malte sich aus, was sie mit ihm in diesen drei Wochen alles anstellen würde. Sie würde ihm die Insel zeigen. Sie würden gemütlich vor dem Appartement sitzen und ein Glas Wein trinken. Sie würde ihm von ihren Erlebnissen erzählen. Vielleicht würde sie ihn mit in ihre Stammbar, die Carasbar, zu ihren Kollegen mitnehmen. Sie musste Gian unbedingt mitteilen, dass er eine warme Jacke mitnehmen sollte, denn am Abend war es oft sehr kühl.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie Helga Adhira Hell gar nicht kommen hörte. «Schönen guten Mittag. Sie strahlen wie die magische Sonne. Gibt's etwas Neues, gute Nachrichten, ich spüre es?»

«Ja, ich freue mich, weil …»

«Es ist so ein wunderschöner Tag heute, und ich muss noch in mein Zentrum. Heute kommt Carlos Ramon zu mir in die Sprechstunde.»

«Der Schauspieler?»

Helga Adhira war es für einmal peinlich, dass sie den Namen eines Kunden bekannt gab.

«Ist es der Carlos Ramon …»

«Ach, vergessen Sie's. Es ist mir einfach rausgerutscht.»

«Aber der Carlos …»

«Hacken Sie doch nicht darauf herum. Ist es denn so wichtig? Kennen Sie ihn?»

«Eigentlich würde es mich …»

«Machen Sie sich einen gemütlichen Nachmittag am Strand, das wird Ihnen gut tun.»

«Ja, das werde …»

«Also Kindchen, dann muss ich mal. Meine Kunden warten.»

«Ja, ich freue mich auf …»

«Ich wünsche Ihnen einen schönen Nachmittag.»


Sophie hatte keine Chance, Helga Adhira Hell ihre Freude über den bevorstehenden Besuch von Gian mitzuteilen. Nun, sie wird es wohl schon wissen, als Hellseherin, grinste Sophie vor sich hin.

Aber dennoch, langsam aber sicher ging ihr diese Schnepfe wirklich auf den Geist. Und so was nannte sich Heilerin und Beraterin, die interessierte sich ja überhaupt nicht für andere. Sophie zog sich ärgerlich in ihr Appartement zurück. Sie verscheuchte die Gedanken an ihre ohne Punkt und Komma quasselnde Nachbarin und dachte wieder an den bevorstehenden Besuch von Gian.

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