Читать книгу Sieben Berge - Rosmarie Bernasconi und Peter Maibach - Страница 8

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Kapitel 6

Einen Tag, bevor Gian Piatt zum Flughafen fuhr, packte er seinen Koffer hundertmal ein und aus. Den warmen Pullover nahm er gleich aus dem Kasten und legte ihn bereit, nachdem er von Sophie eine weitere Postkarte erhalten hatte. Seine Nervosität war kaum auszuhalten, denn es war sein erstes grosses Reiseabenteuer. Immer wieder ging er seine Reiseunterlagen durch. Ein bisschen unsicher war er schon. Er war noch nie in einem Flughafen gewesen, geschweige denn geflogen. Würde er alles richtig machen? Und wenn er in Honolulu landete oder noch weiter weg, weil er ins falsche Flugzeug einstieg? Martina hatte ihm zwar genau erklärt, was er zu tun hatte. Sie bot ihm an, ihn an den Flughafen zu begleiten. «Nein, nein, das schaffe ich schon», meldete sich Gians Stolz. Damit war das Thema für ihn erledigt.

Als er mit viel Hüst und Hott seinen Koffer aufgegeben, eingecheckt und die Grenzkontrolle hinter sich gebracht hatte, liess er sich erschöpft auf einem Sessel im Wartebereich nieder. «Uff, ist das aufregend, bis man nur im Flugzeug sitzt», brummelte er zu einer netten älteren Dame, die nebenan sass.

«Wohin reisen Sie?»

«Nach Lanzarote», antwortete er knapp.

Auf eine längere Konversation mochte er sich nicht einlassen, er war viel zu aufgewühlt und aufgeregt, und seine Gedanken waren bereits bei Sophie. Mehr als ein Jahr hatten sie sich nicht mehr gesehen. Er und Jakob hatten Sophie verpasst, als sie just bei ihrem Besuch in Toss am Sechseläuten in Zürich waren. Wie wohl ihre Haarfarbe heute war?

«Ich reise nach London», hörte er die ältere Dame sagen.

«Ah, dann wünsche ich Ihnen eine gute Reise.»

«Ihr Flug nach Lanzarote steht zum Einsteigen bereit», wies ihn die Dame auf die blinkende Anzeigetafel hin.

Gian wühlte nach der Boardingkarte. Und weg war er.

Gian klebte am Fenster und schaute hinaus in die Wolken. Zehntausend Meter hoch flogen sie, mehr als doppelt so hoch wie der Tossberg. Alles war so erregend, Gian war wie elektrisiert. Er hätte es sich nie träumen lassen, in seinen späten Jahren so weit zu reisen. Der Flug verlief angenehm, und fast bedauerte es Gian, als er einige Stunden später auf dem Flughafen Arrecife stand und ihm zum ersten Mal im Leben der Geruch des nahen Meeres entgegenschlug.

Nach einigem Warten und der Einreiseprozedur trat Gian mit seinem grossen Koffer, den ihm Jakob geliehen hatte, in die Ankunftshalle. Er sah Sophie schon von weitem, sie hatte ihn noch nicht entdeckt. «Hübsch ist sie geworden», fiel Gian auf. Dann trafen sich ihre Blicke, und Sophie flog auf ihn zu, fiel ihm in die Arme, beinahe hätte sie ihn umgerannt, so heftig fiel ihre Umarmung aus. «He, he, junge Dame, nur nicht so stürmisch.» Gian genoss es sichtlich, mitten im Trubel der Halle Sophie zu umarmen. «Komm.» Sophie zog Gian mit sich. Sie gingen zu ihrem Auto, draussen, auf dem weitläufigen Parkplatz.

Behutsam rollte Sophie zur Ausfahrt, sie fuhren via Arrecife zum Appartement am Meer zurück.

«Hübsch hast du es hier», stellte Gian fest.

«Gefällt’s dir?»

«Hier kann ich es aushalten.» Gian ging spontan ans Meer und überprüfte, ob das Wasser tatsächlich salzig war. Sophie sah ihm lächelnd zu.

«Willst du gleich auspacken oder wollen wir los?»

Noch bevor Gian antworten konnte, schwebte bereits Helga Adhira Hell heran und nahm Gian in Beschlag. Sophie verdrehte die Augen und zuckte resigniert mit den Schultern. Sie stellte Gians Tasche zu Boden. «Das könnte länger gehen», befürchtete sie.

«Hallo, ich bin Helga Adhira Hell, die Nachbarin von Sophie.»

Gian sah sie neugierig an und musterte sie von oben bis unten. Sophie wandte sich ab und schnitt Grimassen.

Gian wollte den Mund öffnen.

«Sind Sie der Vater von Sophie?»

«Nein …»

«Ach, das sieht man doch. Sie haben die gleiche Nase, den gleichen Mund. Schön, dass Sie Ihre Tochter besuchen kommen.»

«Aber Sophie …»

«Sophie ist so eine liebenswerte Person.»

«Ja, Sophie …»

«Wie lange bleiben Sie hier?»

«Ich werde …»

«Ich freue mich auf Sie, und am Abend können wir jeweils zusammen plaudern.»

«Wir können …»

«Nun, ich muss gehen, habe noch eine Verabredung mit einem jungen Mann, war nett, mit Ihnen zu schwatzen.» Helga Adhira Hell verabschiedete sich eilig.

«Sag mal, Sophie, war das das Inselgespenst?» Gian schüttelte nur noch den Kopf. Er mochte diese Frau nicht.

«Das habe ich mich auch schon gefragt. Die Dame stammt aus Hamburg und ist seit gut einem Monat meine Nachbarin. Ich werde sie wohl noch bis im Februar erdulden müssen, sofern ich sie nicht vorher auf den Mond schiesse.» Sophie lachte laut. «Jedenfalls musst du dir nie lang überlegen, was du ihr sagen willst.»

«Das ist ja auch ganz praktisch», fand Gian.

«Ich habe mich daran gewöhnt, dass ich nie zu Wort kommen werde. Hoffentlich hat sie dich nicht genervt», entschuldigte sich Sophie.

«Die Deutschen sind halt überall», bemerkte Gian lakonisch, der als Skilehrer auch so seine Erfahrungen gesammelt hatte.

«Die Hell ist so auf sich bezogen, wie die das schafft, andere Leute zu beraten?», meinte Sophie nachdenklich.

«Tja, die einen kommen, ohne etwas zu studieren, durchs Leben, und die andern studieren nichts.»

«Komm, ich will dir das Dorf zeigen. Und am Abend gehen wir in eine Beiz. Ich kenne ein paar wenige, in denen man nicht gleich vergiftet wird. Aber Landjäger und Cervelat wirst du hier nicht finden.» Sophie lachte. «Dafür aber einen ausgezeichneten Roten.»

«Das ist schon mal was. Die Hirschenwirtin drohte mir, dass es nur Sangria geben würde.» Gian stimmte in ihr Lachen ein.

«Nach dem Dorfrundgang nehmen wir einen Apéro, denn vor neun wird man in einem Restaurant in Lanzarote nichts zu essen bekommen.»

«Die essen so spät?» Gian war ziemlich erstaunt.

«Ja, ich weiss, du bist es dir gewohnt, spätestens um sechs Uhr zu essen, aber hier ist die Küche um diese Zeit noch geschlossen.»

«Ich werde es sicher überleben. Und jeden Abend gehen wir wohl nicht auswärts essen.»

«Ich glaube kaum, ausser die Hell nervt uns und sitzt uns jeden Abend auf der Haube.» Sophie lachte verschmitzt.

Sophie genoss die Tage, die mit einem gemeinsamen Frühstück begannen. Gian war sichtlich zufrieden, die Zeit flog nur so dahin. Sophie führte Gian auf der Insel herum. Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Besonders der Nationalpark Timanfaya mit seiner urtümlichen Landschaft hatte es Gian angetan. Bei den zahlreichen Vulkankegeln und den vielen Lavasteinen blieb Gian immer wieder staunend stehen. Nach ihren Exkursionen blieben sie abends meistens zu Hause, sassen bei einer einfachen Mahlzeit zusammen. Gian mochte mit dem Essen nicht bis neun warten.

Oft war Gian vor Sophie auf den Beinen und machte seinen morgendlichen Spaziergang zum Bäcker.

«Hola Gian», begrüsste ihn Thea, die junge Verkäuferin mit einem Lächeln.

«Hola Thea.»

Er schenkte ihr sein strahlendes Lächeln, und die junge Frau packte ihm die gewünschten Brötchen ein.

«Lassen Sie Sophia grüssen», sagte sie noch.

«Mache ich. Hasta la vista Thea.»

Gian genoss den morgendlichen Spaziergang ins Dorf und freute sich auf das gemeinsame Frühstück mit Sophie. Meist war das Inselgespenst schon weg, sodass sie am Morgen ihre Ruhe hatten.

Denn Helga Adhira Hell entging nichts, was die beiden besprachen, wenn sie im Appartement waren. Sie musste wohl an der Wand lauschen. An einem Abend behauptete Helga Adhira Hell, als sie zu Gian und Sophie auf den Sitzplatz trat:

«Ich bin keine Wahrsagerin, ich bin Astrologin und Tarotfrau, und mit Wahrsagen habe ich nichts am Hut.»

«Aber …» Sie fiel Gian ins Wort.

«Ich bin eine seriöse Astrologin, die weiss, wovon sie spricht. Wollen wir Karten legen?»

«Nein …»

«Ach, ich hole sie gleich, warten Sie einen Moment.» Helga Adhira Hell verschwand in ihrem Appartement.

«Jetzt ist unser Abend dahin», warf Sophie ein.

«Ach was, komm, wir lassen uns die Karten legen.» Gian, der nicht viel von alledem hielt, kicherte wie ein kleiner Gnom.

Helga Adhira Hell kam mit ihrem Set zurück.

«Ziehen Sie eine Karte aus dem Haufen», forderte sie Sophie auf.

Sophie hatte keine Wahl, sie musste eine Karte aus dem Stapel der Tarotkarten ziehen. «Die Liebenden», erklärte Helga Adhira Hell wissend.

«Ach, das ist ja interessant. Sind Sie verliebt? Da gibt es einen Mann in Ihrem Leben, der auf Sie wartet, der Sie verehrt.»

Gian lachte laut. «Ja, ja, es gibt jemanden, der auf Sophie wartet, aber sie will es nicht wahrhaben.»

«Halt, halt, das ist gar nicht wahr.»

«Ach Kindchen, regen Sie sich doch nicht so auf.»

«Ich rege mich gar nicht auf.»

«Nein, nein, sie regt sich nicht auf.» Gian gefiel es, Sophie so in Rage zu sehen.

«Ziehen Sie noch eine Karte.»

Ehe sich Sophie versah, zog sie die nächste Karte – es war «Der Teufel».

«Ihre Gefühle sind verstrickt.»

Helga Adhira Hell sprach für einmal kurz und knapp, und sie sah Sophie einfach nur an. Auch Gian sagte nichts mehr.

«So meine Lieben, jetzt wird es höchste Zeit für mich, ins Bett zu gehen.»

«Gute Nacht», sagten Gian und Sophie wie aus einem Munde.

Sie waren glücklich, den Abend nun für sich zu haben und beschlossen, noch ein paar Schritte zu gehen.

Sie schlichen sich davon. «Man weiss nie», flüsterte Gian, und Sophie kicherte, wie ein kleines Mädchen.

Sophie hatte eine gute Flasche eingepackt und zwei Gläser, sie suchten sich «ihr» Plätzchen am Strand, um einen der letzten Sonnenuntergänge gemeinsam anzusehen. Es gab etwas, das Sophie mit Gian ohne die allgegenwärtigen Ohren von der Hell besprechen wollte.

«Sag mal Gian, wie geht es eigentlich Jakob?» Bis jetzt hatte sie es vermieden, nach Jakob zu fragen.

«Gut, wieso fragst du?» Gian sah Sophie aus seinen pfiffigen Augen an.

«Ach nur so.»

«Ach nur so», äffte er sie nach. Gian amüsierte sich, denn kurz bevor er von Toss abgereist war, hatte Jakob eine ähnliche Frage gestellt.

«Am besten fragst du ihn das selber, er wartet schon lange genug auf dich in seiner Casa. Am Ende kommt er noch auf dumme Gedanken.» Gian schaute Sophie ernst in die Augen, nahm ihre Hand.

«Die Hell zog dir die Karten. So ganz daneben lag sie nicht.»

«Ach hör auf, du glaubst doch nicht an diesen Humbug.»

«Etwas Wahres hat es vielleicht schon.» Gian lächelte verschmitzt.

«Übrigens, Sophie, das wollte ich dir schon lange sagen. Die Scherzlihütte kannst du gerne benutzen, auch wenn ich nicht da bin. Dann weisst du auch schon, wo du hin kannst. Du kannst mich natürlich jederzeit besuchen, wenn dir der Weg hinauf zu steil ist.» Wieder lachte er. Er wusste, wie Sophie die Ruhe und die gute Bergluft schätzte. Und er wusste, die Scherzlihütte erinnerte sie an die Zeit mit Jakob. Gian war klug genug, dies nicht auszusprechen.

Sophie fiel Gian um den Hals. «Du bist einfach ein Schatz!»

«Nicht so stürmisch, Mädchen, wenn die Hell uns erwischt!» Er verdrehte die Augen. Sophie schaute sich übertrieben sorgfältig um: «Niemand, hier am Strand sind wir sicher!»

So schön es war, so sehr es Sophie auch genoss, mit Gian zusammen zu sein und sich Toss nahe zu fühlen, bald würde Gian wieder abreisen müssen. Je näher der Abschied kam, desto stiller wurde sie. Gian begriff, wieso sich Sophie hier so wohl fühlte.

Es war kurz vor Weihnachten, als Gian die Insel verliess. Sophie würde ihn zum Flughafen fahren.

Schweigend fuhren sie über die Küstenstrasse nach Arrecife.

«Soll ich dich hinein begleiten?», brach Sophie das Schweigen, als sie sich dem Flughafen näherten. Doch Gian mochte keine grossen Abschiedsszenen und schon gar nicht in der Öffentlichkeit. «Nein, danke, das ist nicht nötig. Ich schaffe das schon alleine. Bin schliesslich auch alleine hierhergekommen, und weit ist es nicht bis zum Einchecken.»

Sophie sah zu, wie Gian seinen Koffer schwungvoll aus dem Auto hob. Er umarmte sie, drückte sie kurz an sich und schritt in das Flughafengebäude. Sie sah ihm nach, bis er hinter den Türen verschwand, die sich lautlos schlossen.

Sie blieb einen Moment stehen, bevor sie ins Auto stieg und wieder zurück in ihr Appartement fuhr.

Helga Adhira Hell sah kurz von ihrem Buch auf. «So, haben Sie ihn sicher zum Flughafen gebracht?»

Sophie erwiderte nichts und verschwand in ihren vier Wänden.

Sieben Berge

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