Читать книгу Die letzte Zuflucht - Rotraut Mielke - Страница 6

4.

Оглавление

Er fuhr los. Meduse starrte durch die Autoscheibe und versuchte, so viel wie möglich von ihrer neuen Umgebung in sich aufzunehmen. Es ging die Uferstraße entlang. Zum Meer hin stand eine Reihe kleiner Holzhütten, die in bunten Farben angestrichen waren. Wahrscheinlich gehörten sie den Fischern, die darin ihre Netze aufbewahrten. Ein paar Boote lagen festgepflockt im dunklen Schlick der Ebbe. Weiter draußen dümpelte eine Handvoll Kutter im Wasser.

Der Notar bog in eine Straße ein, die vom Meer weg führte. Kühl und abweisend säumten graue Steinhäuser die Straße. Die Grundstücke waren mit Mauern bewehrt, als müssten sie ihre Bewohner vor Angriffen schützen. Der Ort war wie ausgestorben, Meduse sah keine Fußgänger, auch keine anderen Autos fuhren herum. Schon nach kurzer Zeit hatten sie das Ende der Siedlung erreicht. Eine schmale Straße schlängelte sich einen Hügel hoch, auf dem nur noch ein paar halb verfallene, offensichtlich verlassene Häuser standen.

„Tante Antoinette hat wohl wirklich außerhalb gewohnt.“ Meduses Stimme klang dünn und hoch.

Der Notar warf ihr einen Seitenblick zu. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie dort nicht bleiben können. Aber Sie werden es gleich selbst feststellen. Das da ist es.“ Er deutete nach weit vorn, dorthin, wo die Straße zu Ende war.

Das Haus stand völlig allein auf einer Anhöhe, nur umgeben von flachen Felsen, Moos und Gräsern. Ein paar struppige Büsche mit spärlichen, kleinen Blättchen duckten sich am Boden. Einige Schritte weiter links fiel der Felsen steil ab zum Meer. Hier oben war die Sicht besser, der Nebel war zurückgeblieben. Der Himmel war hell, und ein kleiner Lichtstrahl stand genau über dem Haus. Meduse betrachtete die dicken, steinernen Mauern. Das Dach bestand aus dunklem Schiefer, und die Fenster waren mit stabilen Fensterläden verschlossen. Es gab keine anderen Farben an dem Haus, nur dieses Grau, das sich der eigentümlichen Landschaft vollkommen anpasste. Dies war wirklich ein einsamer Ort. Wenn ihre Großtante sich hier wohlgefühlt hatte, dann hatte sie wahrhaftig nicht viel Wert auf menschliche Gesellschaft gelegt.

Mit einem Ruckeln kam das Auto zum Stehen, und Maitre Legrand stellte den Motor ab. In der plötzlichen Stille war das Pfeifen des Windes zu hören, der die Gräser bog und wie mit einem groben Kamm die dünnen Zweige der Büsche striegelte. Eine Gänsehaut kroch Meduse über den Rücken. Sie stieg aus, und der Wind begrüßte sie sofort mit einer stürmischen Umarmung. Fest stemmte sie sich gegen die kalte Luft und näherte sich wie magisch angezogen Schritt für Schritt der Abbruchkante.

„Passen Sie auf, gehen Sie nicht zu nah ran. Die Fallwinde sind gefährlich“, rief der Notar ihr zu.

Er hatte den Kofferraum geöffnet, aber nun hielt er inne und beobachtete sie. Die Fremde kannte sich nicht aus mit dem tückischen Wind und der Strömung von Luft und Wasser. Auch den trügerisch fest erscheinenden Kanten der Felswände sah man nicht an, wie bröckelig sie in Wirklichkeit waren. Es gab Löcher im Boden, die, mit Gras überwuchert, nicht zu erkennen waren.

„He, warten Sie!“, rief er noch einmal, aber der Wind trieb seine Stimme weg.

Sie setzte wieder einen Fuß vor, um noch etwas näher an den Rand zu kommen. Plötzlich gab der Boden unter ihr nach, und sie verlor das Gleichgewicht. Wie erstarrt hing sie einen Moment in der Luft, den unausweichlichen Sturz vor Augen. Da wurde sie energisch an den Schultern gepackt und zurückgerissen. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie den Notar an.

„Man muss aufpassen, wohin man tritt. Der Boden ist brüchig. Hier ist es nicht ratsam, Löcher in die Luft zu starren.“

Er wischte mit dem Fuß ein Grasbüschel beiseite. Ein Hohlraum wurde sichtbar, der bis zur Abbruchkante verlief.

„Wenn Sie da reintreten, kann es passieren, dass Sie sich blitzschnell unten auf den Klippen wiederfinden.“

Entsetzt starrte Meduse auf den Boden. „Danke“, murmelte sie.

„Gehen wir lieber zum Haus.“ Er zog einen Schlüssel aus seiner Tasche. Mit einem unmelodischen Quietschen schwang die dicke Holztür auf.

Im Inneren war es stockfinster. Zu erkennen war nur ein winziger Vorraum, von dem zwei Türen abgingen. Der Notar zückte eine Taschenlampe und wandte sich der ersten Tür zu. „Wenn ich mich recht erinnere, ist hier die Küche.“

Im Schein der kleinen Lichtquelle durchquerte er den Raum, öffnete das Fenster und stieß die Fensterläden auf. Sofort wurde es hell.

Meduse schaute sich um. Ein wahres Ungetüm von Herd beherrschte den Raum. Einige Töpfe und Pfannen waren ordentlich darauf gestapelt. Darüber türmte sich ein Rauchabzug, der aus groben Steinen gebaut war. Er verjüngte sich nach oben und verschwand in der Zimmerdecke. Die kunstvoll gedrechselte Anrichte gegenüber hatte ihre beste Zeit schon lange hinter sich. Sie war verschrammt, und das Holz dunkel vom Alter. Neben dem Herd stand eine Art Kommode, in die ein großes, steinernes Spülbecken eingelassen war. Eine rostige Wasserpumpe thronte darauf. Die Mitte des Raumes nahm ein massiver Holztisch ein, um den ein paar ungleiche Stühle gruppiert waren.

Dem Notar war Meduses fassungsloses Gesicht nicht entgangen. „Strom gibt es hier nicht. Und der Ofen wird mit Kohle und Holz beheizt. Aber mit ein wenig Übung klappt das sehr gut“, erklärte er.

Sie drehte sich zum Fenster. Dort stand ein abgewetzter Ohrensessel. Der ehemals grün gemusterte Stoff war verblasst und fadenscheinig. Sie trat näher und schaute hinaus. Hier hatte ihre Großtante bestimmt oft gesessen und aufs Meer gesehen. Der Blick war spektakulär. Man konnte über den Klippenrand ein Stück weit in die Tiefe schauen. Unten brachen sich die Wellen in gischtigen Schaumkronen. Und dahinter breitete sich bis zum Horizont das Wasser aus. Gerne hätte Meduse sich hingesetzt und dem Spiel der Wellen zugeschaut. Aber der Notar ging zügig weiter. Offenbar wollte er die Besichtigung möglichst schnell hinter sich bringen.

Von der Küche führte eine Tür ins Wohnzimmer. Der Notar öffnete auch hier die Fensterläden, und Meduse schaute sich überrascht um. Unvermittelt fühlte sie sich in ein Museum versetzt. Die biederen, steifen Möbel mussten allesamt über hundert Jahre alt sein. Ein gewaltiger Schrank nahm fast die gesamte Längsseite ein. Das Möbelstück sah aus, als sei es für die Ewigkeit gebaut worden. Durch geschliffene Glasscheiben war eine Vielzahl von Gefäßen zu erkennen, die die Regale bedeckten, manche aus Porzellan, andere aus Glas oder Holz. Es gab kleinere und große, reich verzierte und bemalte und auch einfache, schlichte Dosen. Ordentlich aufgereiht standen sie da, und Meduse fragte sich, was wohl darin sein könnte. Ihr fiel ein, was Maman erzählt hatte. Verächtlich rümpfte sie die Nase. Diese Toinette hatte ihren Kräuterhokuspokus wohl auch hier auf der Insel vollführt.

Der Tisch auf der anderen Seite des Zimmers wirkte dagegen fast zierlich. Darüber hing von der Decke eine Art Kronleuchter, der mitsamt den Wachsresten abgebrannter Kerzen von Staubfäden eingesponnen war. Die Tischplatte bedeckte ein buntes, grob gewebtes Tuch, dessen ehemals leuchtende Farben ausgeblichen waren.

Meduse griff nach einem kleinen Päckchen, das auf dem Tisch lag. Vorsichtig wickelte sie das feine Seidentuch auf und schaute auf alte, abgegriffene Karten mit fremdartigen Bildern und Symbolen.

„Sind das Tarotkarten?“, fragte sie den Notar, der sie beobachtete.

Er nickte. „Toinette hatte eine besondere Gabe. Viele im Ort kamen hierher, um sich die Zukunft sagen zu lassen.“

Meduse schüttelte den Kopf. „Nicht zu fassen, dass jemand an so etwas glaubt. Sie hat Geld dafür genommen, oder?“

„Nein, sie hat nie etwas verlangt für ihre Kunst. Aber man hat gern etwas dagelassen, Geld, Brennholz oder auch ein paar Lebensmittel. Eier oder einen Schinken, was man gerade so hatte.“

„Sie waren also auch hier“, stellte sie fest.

Mit einem hilflosen Lächeln breitete der Maitre die Arme aus. „Die Leute geben viel auf die Zeichen. Wir sind weit weg von der Welt. Hier auf der Insel zählen andere Dinge.“

Von einem Notar hätte Meduse am allerwenigsten erwartet, dass er an Wahrsagerei glaubte. Sie zeigte auf den Schrank. „Das sind dann wohl die Zauberkräuter?“

Er ignorierte ihren ironischen Unterton. „Toinette hat vielen geholfen. Sie galt zwar als etwas seltsam, aber ihre Kenntnisse in der Heilkunst hat nie jemand angezweifelt. Sogar der Arzt kam manchmal her und hat sich von ihr Kräutersalben und Tinkturen geben lassen.“

Der Notar schien ihr genau anzusehen, was sie dachte. „Sie sind sehr jung und haben noch nicht viel erlebt. Glauben Sie mir, es gibt viele Dinge, die man nicht erklären kann, auch nicht mit allen Erkenntnissen der modernen Wissenschaft.“

Meduse ließ das auf sich beruhen. Es hatte wenig Sinn, sich in eine Grundsatzdiskussion über dieses Thema zu stürzen. Sie wickelte die Karten wieder in das Tuch und legte sie zurück auf den Tisch. Ihr Blick fiel auf die fest gepolsterte Couch und zwei Sessel, die den Tisch umrahmten. Sie strich mit der Hand über den Stoff. Er fühlte sich kratzig an. Kopfschüttelnd betrachtete sie das letzte Möbelstück im Zimmer, eine Anrichte. Helle Stellen auf dem Holz der Oberfläche deuteten darauf hin, dass Gegenstände entfernt worden waren.

„Ist hier noch alles, wie es zu Lebzeiten meiner Großtante war?“

Der Notar schaute sich um. „Es ist lange her, dass ich Toinette besucht habe. Aber ich erinnere mich an einige sehr schöne Glaskaraffen und Vasen, die alt und vielleicht sogar etwas wert waren“, sagte er nach einer Weile. „Das Haus ist abgelegen. Da wäre es schon fast ein Wunder, wenn sich hier niemand umgesehen hätte, ob etwas zu holen ist.“

Meduse schnaubte empört. „Aber das Haus war doch abgeschlossen.“

Sie inspizierte die zwei kleinen Fenster des Zimmers, die jedoch keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens aufwiesen.

„Die Häuser haben gläserne Mauern, wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will. Da gibt es immer Mittel und Wege, um sich das zu nehmen, was man haben will.“

„Geklaut wird hier also auch. Dazu ist dieser Platz wohl nicht zu abgelegen.“

„Ich will meine Leute nicht verteidigen, aber jeder muss sehen, wo er bleibt. Und die paar Sachen, die es hier gab und die etwas einbringen konnten, waren wohl eine zu große Verführung. Nehmen Sie es nicht allzu übel. Ich denke, dass Sie den Verlust verschmerzen können.“

Meduse schwieg. Sie wandte sich wieder den Gefäßen im Schrank zu und betrachte sie nachdenklich. „Wie ist sie eigentlich gestorben? War sie krank? Sie muss schon sehr alt gewesen sein, oder?“

Der Notar hatte sich schon halb zum Gehen gewandt, aber bei ihrer Frage blieb er stehen. „Krank? Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie war hoch betagt, das ist richtig. Aber sie war noch sehr rüstig.“

Er zögerte, als müsse er nach den richtigen Worten suchen. „Es ist nur so, dass sie eines Tages nicht mehr da war.“

Meduse fuhr herum. „Was soll das heißen, nicht mehr da?“

Der Notar rieb sich verlegen die Hände. „Früher oder später müssen Sie es ja erfahren. Es ist jetzt über ein Jahr her, als auffiel, dass man Toinette seit längerem nicht mehr gesehen hatte. Wir haben nach ihr gesucht, die ganze Insel durchgekämmt, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt.“

Meduse spürte, wie ihr heiß wurde. „Hat sie jemand umgebracht?“ Es war das erste, das ihr einfiel, ein entsetzlicher Gedanke.

„Nein, das ganz sicher nicht. Niemand hier hätte Toinette etwas zuleide getan. Sie war sehr geachtet bei allen.“

„Aber…“ Meduse war fassungslos. Dass ein Mensch einfach verschwand, konnte sie sich nicht vorstellen.

„Es gab natürlich eine Untersuchung. Mac, unser Polizist, hat alles genau protokolliert. Sie können die Unterlagen einsehen, wenn Sie wollen. Aber es war genauso, wie ich sage. Von einem Tag auf den anderen war sie weg, einfach nicht mehr da. Und glauben Sie mir, von dieser Insel kommt niemand herunter, ohne dass es bemerkt wird.“

„Und dann hat man sie einfach für tot erklärt.“ Nur mühsam brachte Meduse die Worte heraus. Sie spürte, wie ihr schwindlig wurde.

Der Mann stellte fest, dass sie totenblass war.

„Ist Ihnen nicht gut? Ich hole Ihnen einen Schluck Wasser.“

Meduse versuchte, den Schwindel abzuschütteln. Sie war aufgebrochen, um etwas zu erleben, aber das hier war zu krass. Dieses merkwürdige Haus, das mysteriöse Verschwinden ihrer Großtante, das abweisende Verhalten der Leute, es war alles ganz anders, als sie erwartet hatte.

„Hier, nehmen Sie.“ Der Notar hielt ihr ein Glas hin. Das Wasser war angenehm frisch. Sie konnte spüren, wie es durch ihre Kehle in den Magen rann. Ihr fiel ein, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Wahrscheinlich hatte sie nur Hunger. Sie stand auf und ging in die Küche, wo sie ihren Rucksack abgelegt hatte. Nach ein paar Bissen aus einer angebrochenen Packung Kekse fühlte sie sich besser.

Der Notar war erleichtert. „Na, jetzt kommt wieder Farbe in Ihr Gesicht. Für einen Moment haben Sie ausgesehen wie ein Geist.“

Die Kekse würden nicht lange vorhalten, Meduse brauchte eine vernünftige Mahlzeit. Aber erst wollte sie die Besichtigung dieses Hauses hinter sich bringen. Sie riss sich zusammen. „Gehen wir nach oben?“

Der Mann stieg vor ihr die schmale Treppe hinauf. Wieder kam die Taschenlampe zum Einsatz, allerdings gab es hier nicht viel zu sehen. In einem der beiden Zimmer standen ein schmales Bett, das ordentlich gemacht war, und ein Schrank mit ein paar Kleidungsstücken. Das zweite Zimmer war völlig leer, nur ein paar Staubpartikel tanzten im Licht, das durch die trüben Glasscheiben hereinfiel.

Vergeblich schaute sich Meduse nach einem Badezimmer um. Der Notar deutete ihren suchenden Blick richtig. Er beugte sich aus einem der Fenster und zeigte auf ein kleines, aus rohen Brettern zusammengezimmertes Häuschen.

„Wenn Sie die Toilette suchen, die ist draußen“, sagte er trocken.

Meduse schluckte. Ein klein wenig mehr Komfort hatte sie sich doch erhofft, aber irgendwie würde sie schon zurechtkommen.

„Wollen Sie wirklich hier bleiben? Wenn Sie inzwischen Ihre Meinung geändert haben, kann ich Ihnen im Ort ein Zimmer besorgen. Sogar mit eigenem Bad“, fügte er hinzu.

Das gab den Ausschlag. „Nein, mir gefällt es hier. Luxus brauche ich nicht. Und die Aussicht auf das Meer ist einfach phänomenal.“

Der Notar nahm ihre Entscheidung achselzuckend zur Kenntnis. Sie stiegen die Treppe wieder hinunter. Im Vorraum drückte er ihr den Hausschlüssel in die Hand. „Heute ist Sonntag, und dass ich Sie von der Fähre abgeholt habe, war eine Ausnahme. Normalerweise sind mir meine Wochenenden heilig. Den offiziellen Teil erledigen wir dann morgen Nachmittag, wenn es Ihnen recht ist.“

Mit schlechtem Gewissen nickte Meduse. Sie begleitete den Notar nach draußen. Dabei fiel ihr wieder ein, dass sie dringend etwas zu essen brauchte. „Gibt es im Ort ein Lokal, das geöffnet hat?“

„Jetzt hat alles zu. Aber so gegen sechs werden Sie sicher etwas finden.“

Er öffnete den Kofferraum seines Wagens und zerrte den Koffer heraus, den er genau auf der Türschwelle absetzte. „Bitte entschuldigen Sie mich jetzt, meine Familie erwartet mich.“ Ehe sie etwas erwidern konnte, hatte er sich hinter das Steuer gesetzt und ließ den Motor an.

Die letzte Zuflucht

Подняться наверх