Читать книгу Die letzte Zuflucht - Rotraut Mielke - Страница 7

5.

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Meduse schaute dem Auto nach, das gemächlich den Hügel hinunterfuhr. Ein kühler Windstoß stieß sie unsanft aus ihrer Versunkenheit. Nun war sie also ganz auf sich gestellt. Sie atmete tief durch und wandte sich dem Meer zu. Der Anblick wirkte beruhigend auf sie, allerdings achtete sie darauf, der Klippe nicht zu nahe zu kommen. Der Himmel war jetzt klar und blau, nur noch vereinzelt zeigten sich hellgraue Wolken. Sie blinzelte in die Sonne und spielte mit dem Gedanken sich einfach für eine Weile ins Gras zu legen. Aber erst einmal musste sie sich einrichten und ihren Koffer auspacken.

Das Bett im ersten Stock war stabil. Vielleicht fand sie irgendwo sauberes Bettzeug oder zumindest eine Decke. Sie ging wieder hinunter und zerrte den Koffer in die Küche. Für den Anfang genügte es, Waschzeug und frische Kleidung herauszuholen. Probeweise betätigte sie den Pumpenschwengel. Er quietschte und ächzte, aber dann schoss ein Schwall Wasser in das Spülbecken. Sie spritzte sich eine Handvoll davon ins Gesicht. Es war eiskalt.

Auch im Haus war es kühl, und sie überlegte, ob sie versuchen sollte, ein Feuer zu machen. Aber nach einem skeptischen Blick auf den Ofen ließ sie es bleiben. Schnell schlüpfte sie in eine saubere Jeans und ein Sweatshirt. Es war gerade erst zwei Uhr mittags und würde somit noch dauern, bis die Lokale im Ort öffneten. Also machte sie es sich in dem grünen Sessel gemütlich. Während sie wieder an ihren Keksen knabberte, ging sie in Gedanken noch einmal alle Informationen durch, die sie über ihre Großtante bekommen hatte. Offenbar hatte die alte Frau hohes Ansehen bei den Bewohnern der Insel genossen. Sie hatte sehr zurückgezogen gelebt und nicht gerade den Kontakt zu anderen Menschen gesucht. Die waren stattdessen zu ihr gekommen.

Wie hatte es sie wohl ausgerechnet hierher verschlagen? Vielleicht steckte ja doch eine Liebesgeschichte dahinter. Der Notar hatte gesagt, dass auf den Inseln jeder über jeden alles wusste. Es würde nicht allzu schwer sein, Näheres herauszufinden. Während sie noch ihren Gedanken über die geheimnisvolle Toinette nachhing, fielen ihr die Augen zu.

Etwas weckte sie auf. War jemand im Haus? Sie blieb einen Moment lang regungslos sitzen und lauschte, aber da war nichts. Ihr Koffer und die ausgepackten Sachen lagen unberührt da. Sie stand auf und spähte durch die offene Tür ins Wohnzimmer. Es war nicht sehr hell, und durch das Fenster sah sie, dass die Sonne tief am Horizont stand. Automatisch schaute sie auf ihre Armbanduhr. Es war bereits halb sieben, sie hatte vier Stunden geschlafen. Ihr Magen meldete sich mit lautem Knurren. Sie griff nach ihrem Rucksack und machte sich auf den Weg.

Die schmale, asphaltierte Straße wies große Schlaglöcher auf. Als erstes würde sie sich eine Taschenlampe besorgen müssen, wenn sie sich nicht auf dem Rückweg in der Dunkelheit die Beine brechen wollte. Denn eine Straßenbeleuchtung gab es hier draußen nicht. Zügig schritt sie den Berg hinunter und hatte nach zehn Minuten die ersten Häuser erreicht. Es war wohl am besten, wenn sie zurück zur Pier ging. Die schien recht zentral gelegen zu sein, und dort würde sie auch am ehesten ein Lokal finden. Sie konnte das Meer zwischen den Häusern nicht sehen, aber sie erinnerte sich an die Richtung. Der Ort war nicht groß, und wenn sie geradeaus weiter lief, musste sie unweigerlich aufs Wasser stoßen.

Eine Frau kam ihr entgegen. Den Kopf gesenkt ging sie mit kurzen, energischen Schritten an ihr vorbei. Meduse sah ein Baguette aus der Einkaufstasche lugen. Beim Gedanken an knuspriges Weißbrot lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie überlegte, ob sie die Frau nach dem Weg zur Bäckerei fragen sollte. Aber als sich umdrehte, war niemand mehr zu sehen.

Vergeblich hielt sie rechts und links in den kleinen Straßen Ausschau nach einem Schild, das auf einen Laden oder ein Lokal hinwies. Kurze Zeit später lag der kleine Platz vor ihr, und auch die Pier war zu sehen, die völlig menschenleer war. Endlich entdeckte sie ein rostiges Blechschild und steuerte darauf zu. ‚Café de la Gare‘ - Bahnhofscafé entzifferte sie mit Mühe. Durch die kleinen Fenster fiel schwacher Lichtschein auf die Straße. Sehr vertrauenerweckend sah das Café nicht gerade aus, aber Meduse war nicht wählerisch. Sie holte tief Luft und drückte energisch die Klinke der Eingangstür hinunter.

Ein Schwall warmer Luft begrüßte sie. Es roch nach dem süßlich-bitteren Maispapier französischer Zigaretten. Nach der Stille der menschenleeren Straßen kam ihr das Gemurmel der Gäste laut vor, aber da saßen nur vier Männer um einen Tisch. Konzentriert widmeten sie sich einem Kartenspiel und nahmen keine Notiz von ihr. Mit ihren grob gestrickten Pullovern und derben Schuhen sahen sie aus wie Fischer oder Hafenarbeiter. Die wettergegerbten Gesichter hatten etwas Verwegenes, und es war unmöglich, ihr Alter zu schätzen. Leise Musik dudelte im Hintergrund. Neugierig schaute Meduse sich um. Es war ein typisches Bistro, wie es sie in Frankreich zu tausenden gab. Nur wenige Tische füllten den nicht sehr großen Raum, an dessen Wänden allerlei maritime Gegenstände hingen, Fischernetze und getrocknete Seesterne, sogar eine Meerjungfrau in hässlichen, grellen Farben hatte es sich in einer Ecke gemütlich gemacht. Das Holz der Möbel war etwas abgenutzt, aber alles sah im warmen Schein der Lampen einladend aus.

„Bonjour! Treten Sie nur näher“, hörte sie eine freundliche Stimme sagen. Erst jetzt bemerkte Meduse die Frau, die eine Klappe am hölzernen Tresen hochstellte und auf sie zukam. „Sie müssen die Erbin sein. Wir waren schon sehr gespannt, wie Sie aussehen.“

Meduse war zu verblüfft, um darauf zu antworten. Aber das wurde offenbar auch nicht erwartet, denn die Frau plauderte munter weiter.

„Ich bin Madeleine Chauffe, die Wirtin. Sagen Sie Maddy zu mir, das tun alle. Und wie ist Ihr Name, meine Liebe?“ Sie griff nach ihrer Hand und schüttelte sie, während ein herzliches Lächeln ihr Gesicht aufleuchten ließ.

„Meduse Brunner“, stammelte die völlig überrumpelt. Sie hatte eher einen älteren Mann mit Halbglatze und Schnurrbart erwartet. Dass hier in dieser rauen Umgebung eine Frau das Regiment führte, überraschte sie.

Die Wirtin war eine außergewöhnliche Erscheinung. Sie mochte Fünfzig sein, aber die Energie, die sie ausstrahlte, ließ sie jünger wirken. Der enge Rock, der die Knie gerade noch bedeckte, betonte ihre weiblichen Formen, und der ausgeschnittene, schwarze Pullover brachte die milchweiße Haut ihres Dekolletés zur Geltung. Auf ihren Absatzschuhen hielt sie sich sehr gerade, so dass sie größer wirkte als sie war. Die hoch aufgeschossene Meduse überragte sie trotzdem um einen ganzen Kopf. Kinnlange, dunkle Haare umspielten ein herzförmiges Gesicht mit lebhaften blauen Augen, und dem rot geschminkten Mund, schien das Lachen angeboren zu sein. Zweifelsohne war sie eine attraktive Frau und hatte noch dazu eine so herzliche Art, dass sich Meduse in ihrer Gegenwart gleich wohl fühlte.

„Meduse? Ein ungewöhnlicher Name, aber er passt zu Ihnen.“ Maddy strahlte sie an, und ganz automatisch erwiderte sie dieses Lächeln.

Beim Betreten des Lokals hatte sie keine Vorstellung davon gehabt, was sie hier drinnen erwarten würde. Nach dem eher frostigen Empfang auf St. Pierre war Maddy der erste Mensch, der ihr freundlich entgegenkam. Nun war es um Meduses Fassung geschehen. Sie spürte, wie ihre Beine anfingen zu zittern, und sie sah sich nach einer Sitzgelegenheit um.

„Setzen Sie sich hierher, gleich neben den Tresen. Dann können wir ein wenig plaudern.“

Maddy schob ihr einen Stuhl hin, und erleichtert ließ sich Meduse darauf nieder. Ihr Kopf fühlte sich seltsam leicht an, und ihr Mund war wie ausgedörrt. Die Wirtin schien zu merken, dass es ihrem Gast nicht gut ging. Nach einem kurzen, prüfenden Blick verschwand sie hinter ihrer Theke und schenkte ein Glas Wasser ein, dazu ein zweites, kleineres mit einer gelblichen Flüssigkeit.

"Das ist unser bester Calvados, der wird Sie wieder auf die Beine stellen. Geht aufs Haus“, erklärte sie, während sie die Getränke schwungvoll auf dem Tisch abstellte.

Meduse griff nach dem kleinen Glas. Das Brennen des Alkohols ließ Tränen in ihre Augen schießen, und sie musste husten. Aber dann machte sich ein warmes Gefühl in ihrem Magen breit.

„Na, nun kommt wieder etwas Farbe in Ihr Gesicht“, freute sich Maddy. „Sie haben ausgesehen wie eine Wasserleiche. Aber das ist auch kein Wunder nach der langen Reise, die Sie hinter sich haben.“

„Der Notar scheint ja einiges über mich erzählt zu haben.“ Es war ein seltsames Gefühl, dass man offenbar genau Bescheid über sie wusste.

Maddy lachte, es klang kehlig und rau. „So viel nun auch wieder nicht. Nur dass Sie aus Deutschland kommen und eine Verwandte von unserer Toinette sind. Aber alles andere werde ich schon noch aus Ihnen herausfragen.“

Sie lächelten sich an, aber plötzlich zog sich Meduses Magen schmerzhaft zusammen. „Kann ich vielleicht etwas zu essen bekommen?“, fragte sie zaghaft. „Irgendwas, ganz egal. Es ist nur so, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen habe.“

Maddy runzelte die Stirn. „Kein Wunder, dass Ihnen nicht gut ist.“

Sie überlegte kurz. „Ich koche sonntags nicht, das steht nicht dafür. Aber ich kann Ihnen eine Kleinigkeit zurechtmachen. Vielleicht einen Toast?“

Meduse nickte. „Das wäre super.“

Die Wirtin nickte ihr aufmunternd zu. „Kommt sofort.“ Sie verschwand hinter einer Tür an der Rückseite der Bar.

Plötzlich war es still im Raum. Nur die kurzen, geknurrten Kommentare der Kartenspieler übertönten die leise Musik. Meduse hatte das Gefühl, dass die Männer aufmerksam ihre Unterhaltung mit Maddy verfolgt hatten. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, dass sie verstohlen gemustert wurde. Bestimmt würde alles, was sie sagte oder tat, morgen jeder wissen.

Es war unbehaglich, so auf dem Präsentierteller zu sitzen. Unwillkürlich setzte Meduse sich gerade hin. Aber sie hatte einige Übung darin, ein gleichmütiges Gesicht zu machen. Scheinbar gelassen lehnte sie sich wieder auf ihrem Stuhl zurück und trank in kleinen Schlucken aus dem Wasserglas. Hoffentlich kam Maddy bald zurück, denn im Raum baute sich eine Spannung auf, die schwer zu ertragen war.

Das Klappern der Küchentür war eine Erlösung. Schwungvoll stellte die Wirtin einen Teller samt Besteck auf den Tisch. „Es ist nichts Besonderes, aber zumindest werden Sie satt werden.“

Meduse betrachtete das große Stück Brot, das reichlich mit Schinken und einer hellen Soße bedeckt war. Darauf lag eine Scheibe leicht gebräunter Käse. Es duftete verführerisch, und hastig machte sie sich darüber her.

Maddy hatte sich hinter den Tresen zurückgezogen und schaute wohlwollend zu, wie sich der Teller in Windeseile leerte. Mit einem kleinen, glücklichen Seufzer legte Meduse schließlich das Besteck beiseite.

„Soll ich noch etwas bringen? Ein Stück Käse vielleicht. Oder Kuchen?“

Meduse schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin satt. Es war sehr gut, danke.“

Sie kramte ihr Mobiltelefon aus dem Rucksack heraus. „Könnte ich vielleicht hier mein Handy aufladen? Der Akku ist fast leer, und ich möchte zu Hause Bescheid sagen, dass ich gut angekommen bin.“

Die Wirtin verzog bedauernd das Gesicht. „Das können Sie gerne tun, aber es wird nichts nützen. Wir sind hier in einem Funkloch. Sie werden keine Verbindung bekommen.“

Meduse schaute sie ungläubig an. „Das gibt’s doch nicht!“

„Doch, leider ist es so, auf der ganzen Insel gibt es keinen Empfang. Aber Sie können gern das Telefon benutzen.“ Sie zog einen altertümlichen Apparat heran.

Sogar die Verbindung über das Festnetz war schlecht. Hastig sprudelte Meduse hervor, dass sie gut angekommen und alles in bester Ordnung sei. „Macht euch keine Gedanken, mir geht es gut“, versicherte sie und legte kurz danach auf. Ihr war klar, dass alle im Raum jedes Wort mitgehört hatten. Plötzlich fühlte sie sich unfassbar müde. Unbehaglich dachte sie an den langen Rückweg zum Haus. Die Straße den Berg hinauf war dunkel und einsam.

„Haben Sie vielleicht eine Taschenlampe, die Sie mir leihen können? Ich wollte eine kaufen, aber ich habe kein Geschäft gefunden. Sie wissen ja, wo das Haus meiner Großtante ist. Ich fürchte, dass ich ohne Licht Probleme haben werde auf dieser holprigen Straße.“

„Aber natürlich, die gebe ich Ihnen gerne. Dann haben Sie auch einen Grund, morgen wiederzukommen.“ Aus einer Schublade kramte die Wirtin eine Taschenlampe heraus und gab sie ihrem Gast. „Aber schlafen Sie sich erst einmal tüchtig aus. Es eilt nicht, hier hat man viel Zeit.“

Die Aussicht, am nächsten Tag zum Café de la Gare zurückzukehren, gefiel Meduse. Sie zahlte für das Essen und das Telefonat, das erschreckend teuer war. Schon fast an der Tür fiel ihr etwas ein. „Wo ist hier eigentlich der Bahnhof?“, fragte sie.

Maddy schien für einen Moment die Luft anzuhalten. Dann lachte sie hell auf. „Hier gibt es keinen Bahnhof. Schließlich sind wir ja auf einer kleinen Insel. Das ist ein Spaß, nichts weiter. Ein Scherz, den sich vor langer Zeit einmal ein Witzbold für das Café ausgedacht hat.“

Den starken Lichtkegel der Taschenlampe vor sich auf den Boden gerichtet schritt Meduse zügig den Berg hinauf. Das unbehagliche Gefühl, nicht allein zu sein, beschlich sie. Aber als sie sich ein paarmal umdrehte, war da niemand. Trotzdem wurden ihre Schritte immer schneller, und ihr Atem ging keuchend. Erleichtert steckte sie endlich den Schlüssel in das Schloss der Haustür. Sie schaute hinauf zum klaren Himmel. Eine Unzahl von Sternen blinkte ihr zu, nur nach dem Mond hielt sie vergeblich Ausschau. Im Odenwald hatte sie oft die Sternbilder betrachtet, aber hier sah der Himmel anders aus. Es gab nichts, an dem sie sich orientieren konnte, und diese nicht fassbare Weite machte ihr Angst. Hastig trat sie ins Haus und schloss hinter sich ab.

Im Schein der Taschenlampe betrachtete Meduse die Treppe zum Obergeschoss. Sie hatte nicht mehr die Energie, jetzt noch nach Bettwäsche zu suchen. Der Ohrensessel musste genügen für heute Nacht. Eingewickelt in ihren warmen Anorak richtete sie sich ein. Es war nicht bequem, aber irgendwie würde es schon gehen. Ihre Gedanken wanderten zu Maddy. Die Wirtin war sehr freundlich gewesen, aber irgendetwas an dem munteren Geplauder irritierte sie. Und dann diese vier Männer, die sie beobachtet hatten, ein Bahnhofscafé ohne Bahnhof! Morgen würde sie…

Die letzte Zuflucht

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